Uneingeschränkt bündnistreu?

Die Haltung der Deutschen zur Bündnisverteidigung

Die Haltung der Deutschen zur Bündnisverteidigung

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Für die NATO und ihre Mitgliedstaaten bedeutet Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine endgültig die Rückkehr zur territorialen Bündnisverteidigung als Hauptaufgabe ihrer Streitkräfte. Timo Graf analysiert die Haltung der deutschen Bevölkerung zu dieser verteidigungspolitischen Neuausrichtung.

Inspekteur der Luftwaffe zu Besuch bei eAPS

Im Einsatz an der Ostflanke: Ein deutscher Eurofighter startet während der NATO-Mission enhanced Air Policing South (eAPS) auf dem Luftwaffenstützpunkt Mihael Kogalniceau in Rumänien am 3. März 2022.

Bundeswehr/PAO eAPS

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine Zeitenwende in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eingeleitet. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock formulierte es am Tag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine so: »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht. Es ist Krieg in der Ukraine, es ist Krieg in Europa.« Es ist eine neue Dimension der Eskalation in den Spannungen zwischen dem liberalen Europa und dem autokratischen Russland unter Präsident Wladimir Putin und gleichzeitig ein Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten, in denen die territoriale Bündnisverteidigung der Hauptauftrag der NATO und der Bundeswehr war. (siehe Landes- und Bündnisverteidigung)

Seit dem Ende des Kalten Krieges lag der Aufgabenfokus der NATO und der Bundeswehr auf Stabilisierungseinsätzen außerhalb des Bündnisgebietes, wie im Kosovo, in Afghanistan oder in Mali. Seit 2014 ist jedoch eine Revitalisierung der Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO zu beobachten – als Reaktion auf Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014.

Im Zentrum der NATO-Bemühungen stehen dabei die Sicherung der Ostflanke des Bündnisgebietes und der Schutz der östlichen Bündnispartner. Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine wird die bereits eingeleitete Rückbesinnung auf die territoriale Bündnisverteidigung als Hauptauftrag beschleunigen. Und so verkündete die NATO am 23. März 2022 eine Verdoppelung ihrer Präsenz in Osteuropa.

Dabei kommt Deutschland durch die Größe seiner Streitkräfte und seine geografische Lage im Zentrum Europas eine besondere Verantwortung und Bedeutung zu. Dies bildet sich auch unmittelbar in den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland ab. Infolge des Krieges in der Ukraine sind zu den deutschen Beteiligungen an den bestehenden Maßnahmen zur Bündnisverteidigung im Baltikum neue Einsätze in Polen, Rumänien und der Slowakei hinzugekommen (siehe Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung).

Die Haltung der deutschen Bevölkerung zu diesen Veränderungen machen Befragungen wie der ARD-Deutschlandtrend vom 3. März 2022 deutlich. Sie zeigen, dass die Bevölkerungsmehrheit deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine ebenso unterstützt wie die Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben oder die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen. Demnach zeichnet sich auch im verteidigungspolitischen Meinungsbild eine Zeitenwende ab. Dazu, wie sich der Krieg auf die Haltung der Deutschen zur Bündnisverteidigung auswirkt, liegen allerdings (noch) keine aktuellen Befragungsergebnisse vor.

Bisher stand die Bevölkerung der Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung eher skeptisch gegenüber: Obwohl sich die Deutschen klar zur NATO und zum Prinzip der kollektiven Bündnisverteidigung bekennen, mangelte es bislang an der Bereitschaft zur konkreten militärischen Unterstützung der östlichen Bündnispartner. Ein wichtiger Grund hierfür war das eher diffuse Russlandbild der Deutschen.

Bedeutung der öffentlichen Meinung

Solche Befunde lassen aufhorchen, bilden Solidarität und Vertrauen doch seit 70 Jahren das Fundament der NATO – und damit der Sicherheit Deutschlands und Europas. Eine kritische öffentliche Meinung zur Bündnisverteidigung könnte bei Deutschlands NATO-Partnern zu einem Vertrauensverlust führen und gleichzeitig Russlands Propaganda in die Hände spielen. Laut eines im März 2021 veröffentlichten Untersuchungsberichts des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) ist Deutschland ohnehin schon das Hauptziel russischer (Des-)Informationskampagnen in Europa. Grund hierfür ist aus Sicht des EAD nicht nur Deutschlands wirtschaftliche und politische Bedeutung innerhalb der Europäischen Union, sondern auch die (russische) Vermutung, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung russlandfreundlich seien. Wie die nachfolgende Betrachtung des Russlandbilds in der deutschen Bevölkerung offenbart, ist diese Annahme nicht ganz unbegründet.

Anders als die Auslandseinsätze bedürfen die Beteiligungen der Bundeswehr an den anerkannten Missionen zur Sicherung der NATO-Ostflanke keines Mandats des Deutschen Bundestags und erfolgen einzig auf Beschluss der Bundesregierung. Dessen ungeachtet kann die öffentliche Meinung den (wahrgenommenen) Handlungsspielraum der politischen Entscheidungsträger und somit verteidigungspolitische Entscheidungen beeinflussen. Im Zuge der Rückbesinnung auf die Bündnisverteidigung ist nicht auszuschließen, dass die Verteidigungspolitik eine größere gesellschaftspolitische Relevanz bekommt, zum Beispiel im Zuge der Diskussion um die Einführung eines Wehrdienstes im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht.

Eine kritische öffentliche Meinung zum Auftrag der Bündnisverteidigung im Allgemeinen und zur Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen zur Sicherung der NATO-Ostflanke im Besonderen könnte sich zudem negativ auf die soldatische Motivation der Einsatzsoldatinnen und -soldaten auswirken. Öffentliches Unverständnis für die territoriale Bündnisverteidigung als Hauptauftrag der Bundeswehr würde aber nicht nur die zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland belasten, sondern auch den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der NATO schwächen und somit Russland in die Hände spielen.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Bevölkerungsbefragungen des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) offenbaren seit vielen Jahren eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen einer hohen Zustimmung zu Deutschlands Mitgliedschaft in der NATO und zum Prinzip der kollektiven Bündnisverteidigung einerseits und einer eher schwach ausgeprägten Zustimmung zur militärischen Unterstützung der östlichen Bündnispartner und zur Beteiligung der Bundeswehr an konkreten NATO-Missionen andererseits.

Zwar sind die Zustimmungswerte zur Beteiligung der Bundeswehr an den NATO-Missionen seit 2018 leicht gestiegen, jedoch liegen sie im Vergleich zu den anderen Einsätzen der Bundeswehr im Ausland nur im Mittelfeld der öffentlichen Zustimmung. Auch die grundsätzliche Bereitschaft zur militärischen Unterstützung der östlichen Bündnispartner ist seit 2018 gestiegen, bleibt aber deutlich hinter der prinzipiellen Bündnistreue zurück. Die ausgeprägte Diskrepanz zwischen »Anspruch« und »Wirklichkeit« in der Haltung der Deutschen zur Bündnisverteidigung bleibt somit bestehen. Dies gilt im Übrigen auch für die Befragung im Jahr 2021.

Bündnistreue im Ländervergleich

Für sich betrachtet scheint die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung zur militärischen Unterstützung der östlichen Bündnispartner eher schwach ausgeprägt zu sein. Wie stellt sich diese Einstellung im Vergleich zu anderen NATO-Staaten dar? In repräsentativen Befragungen des PEW Research Center in mehreren NATO-Mitgliedsländern in den Jahren 2017 und 2020 sprachen sich 40 beziehungsweise 34 Prozent der deutschen Befragten dafür aus, dass Deutschland im Falle eines ernsthaften militärischen Konflikts zwischen Russland und einem östlichen NATO-Verbündeten militärische Gewalt zur Verteidigung des Bündnispartners einsetzen sollte. Mit diesen Zustimmungswerten belegt Deutschland im Jahr 2017 einen der hintersten Plätze und landet auch im Jahr 2020 nur im unteren Mittelfeld.

Öffentliche Zustimmung

Öffentliche Zustimmung zur NATO und zur Bündnisverteidigung (in Prozent)

ZMSBw

Wie lässt sich die eingeschränkte Bündnissolidarität der deutschen Bevölkerung erklären? Aufschluss darüber liefert vor allem das Bedrohungsgefühl durch Russland. In der bereits erwähnten internationalen Vergleichsstudie aus dem Jahr 2017 erkannten nur 31 Prozent der Deutschen in Russland eine große Bedrohung für Deutschland. In dieser Bevölkerungsgruppe sprachen sich jedoch 51 Prozent dafür aus, einen östlichen Bündnispartner mit militärischer Gewalt gegen Russland zu verteidigen. In der Gruppe derer, die in Russland keine Bedrohung sahen, waren es dagegen nur 27 Prozent. Bedrohungsgefühl und Bündnissolidarität stehen offenkundig in einem Zusammenhang.

Auch die Ergebnisse der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragungen der letzten Jahre offenbaren ein schwach ausgeprägtes Gefühl der Bedrohung durch Russland. Im Durchschnitt nahmen nur ein Drittel der Befragten die russische Außen- und Sicherheitspolitik als eine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahr; ein Drittel war geteilter Meinung und ein Drittel erkannte kein Bedrohungspotenzial. Nur etwas mehr als ein Viertel der Befragten bewertete das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine als eine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands oder sorgte sich vor einem neuen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen. Weniger als 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fühlten sich von einem möglichen Kriegsausbruch in Europa oder den Spannungen zwischen Russland und dem Westen in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass das Gefühl der Bedrohung durch Russland vor dem Ukrainekrieg in der deutschen Bevölkerung eher schwach ausgeprägt war und nur eine Minderheit einen militärischen Konflikt mit Russland fürchtete.

Bedrohungsgefühl als Determinante

Weiterführende Analysen des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr belegen, dass die mangelnde Solidarität der deutschen Bevölkerung mit den östlichen Bündnispartnern tatsächlich in weiten Teilen auf das weitgehend fehlende Gefühl der Bedrohung durch Russland zurückzuführen ist: Wer sich (nicht) durch Russland bedroht fühlt, ist eher (nicht) dazu bereit, die östlichen Bündnispartner militärisch gegen Russland zu unterstützen. Das fehlende Bedrohungsgefühl durch Russland vergrößert zudem die Lücke zwischen prinzipieller Bündnistreue und konkreter Bündnissolidarität. Das Russlandbild der Bürgerinnen und Bürger spielt also eine wichtige Rolle für deren Einstellungen zur Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO. Bisher hat es die öffentliche Zustimmung zu Deutschlands militärischem Engagement zur Sicherung der NATO-Ostflanke eher gedämpft.

Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine verändert sich jedoch das Bedrohungsgefühl massiv. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, deren Ergebnisse am 23. März 2022 vorgestellt wurden, fühlen sich inzwischen drei Viertel der Deutschen durch Russland bedroht. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine durch die Veränderung des Bedrohungsgefühls auch die öffentliche Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an den Missionen zur Sicherung der NATO-Ostflanke erhöhen wird.

Aktuell ist die Empörung über den Krieg und die damit verbundene Aufmerksamkeit für Themen der Bündnisverteidigung groß. Ob es aber gelingt, die aktuelle Stimmungslage in eine dauerhafte öffentliche Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an den konkreten Maßnahmen zur Bündnisverteidigung zu überführen, dürfte auch entscheidend von der Informationsarbeit der Bundeswehr und des Bundesministeriums der Verteidigung abhängen.

Informationsarbeit ist unerlässlich

Die Studien des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zeigen nämlich auch: Je mehr die Bürgerinnen und Bürger über die Beteiligung der Bundeswehr an den Maßnahmen zur Sicherung der NATO-Ostflanke wissen, umso größer ist die Zustimmung zu diesen. Allerdings gehören diese Engagements seit Jahren zu den weniger bekannten Einsätzen der Bundeswehr im Ausland. Nur eine Minderheit von 10 bis 16 Prozent der Befragten gab im Zeitraum 2017 bis 2020 an, wenigstens einen grundlegenden Kenntnisstand über diese Missionen zu haben. In allen Erhebungsjahren gab eine große Mehrheit an, noch nie von den NATO-Missionen gehört zu haben.

Darüber hinaus zeigt sich, dass das durchschnittliche subjektive Informationsniveau der Bürgerinnen und Bürger über die Einsätze der Bundeswehr im Ausland in den vergangenen Jahren stark gesunken ist. Der Anteil der Bundesbürger, die sich sehr gut oder eher gut informiert fühlen, ist von 40 Prozent im Jahr 2015 kontinuierlich auf 16 Prozent im Jahr 2020 gesunken, während parallel dazu der Anteil derjenigen, die sich sehr schlecht oder eher schlecht informiert fühlen, von 27 auf 48 Prozent im Jahr 2020 gestiegen ist. Dieser negative Trend setzte sich auch im Jahr 2021 fort.

Da im Zuge der Medienberichterstattung über den Krieg auch verstärkt über die NATO-Präsenz in Osteuropa berichtet wird, ist anzunehmen, dass in der Bevölkerung der Kenntnisstand zu den Missionen zur Sicherung der NATO-Ostflanke zunimmt, was sich wiederum positiv auf die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur Beteiligung der Bundeswehr an diesen Missionen auswirken dürfte.

Eine aktive Informationsarbeit ist dennoch unerlässlich. Deutschlands Sicherheit wird nicht mehr am Hindukusch verteidigt, sondern an der Ostflanke der NATO. An dieser neuen Realität wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern, selbst wenn die aktiven Kampfhandlungen in der Ukraine nachlassen und damit das öffentliche Interesse abnimmt. Unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges und in Anbetracht der vielen Fake News und Falschinformationen zum Themenkomplex NATO-Russland-Ukraine, ist es deshalb ratsam, dass die Bundeswehr und das Bundesministerium der Verteidigung den Bürgerinnen und Bürgern ein umfassendes Informationsangebot machen, das ihnen dabei hilft, eine gut informierte und belastbare Haltung zum neuen Hauptauftrag der Bundeswehr zu entwickeln: der Landes- und Bündnisverteidigung.

Literaturtipp

Timo Graf, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wie steht es um die Bündnistreue in der Bevölkerung? In: Jahrbuch Innere Führung 2021/2022. Ein neues Mindset Landes- und Bündnisverteidigung? Hrsg. von Uwe Hartmann, Janke Reinhold und Claus von Rosen, Berlin 2022, S. 129–155.

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DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-585


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