Ukraine-Dossier

Kosaken: Asymmetrische Gewaltakteure im »Wilden Feld«

Kosaken: Asymmetrische Gewaltakteure im »Wilden Feld«

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Das heutige Staatsgebiet der Ukraine umfasst das sogenannte wilde Feld, die Steppenzone nördlich des Schwarzen Meeres. Seit dem 15. Jahrhundert war sie das Aktionsfeld der Kosaken. Als Sinnbild des freien, ungebundenen Kriegers im Kampf für die nationale Unabhängigkeit kommt ihnen im Krieg Russlands gegen die Ukraine besondere Bedeutung zu.

Ein Beitrag von Martin Rink zu unserem Ukraine-Dossier.

Repin Saporoger Kosaken

„Die Saporoger Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“, Gemälde, 1880 – 1891, von Ilja Jefimowitsch Repin (1844 – 1930)

akg-images / Elizaveta Becker

Der Krieg in der Ukraine: Vom »hybriden Krieg« zum Großkrieg

Mit dem Ende des Kalten Krieges zu Beginn der 1990er Jahre gehörte der Großkrieg zwischen zwei Staaten der Vergangenheit an; so schien es zumindest bis zur russischen Vollinvasion in die Ukraine im Februar 2022. Stattdessen verband die vorausgegangenen drei Jahrzehnte die Vorstellung, dass den »neuen Kriegen« die Zukunft gehöre: Bewaffnete Gewalt würde in Form »entstaatlichter, asymmetrischer, kleiner Kriege« geführt werden. Und trotz ihres massiven Ausmaßes wurden die Konflikte der 1990er Jahre im zerfallenden Jugoslawien der Kategorie der sogenannten neuen Kriege zugeordnet. Daran knüpften sich sicherheitspolitische Debatten über die Frage, ob die Begrifflichkeit passend sei. Allerdings waren sich bereits zu dieser Zeit kritische wie befürwortende Stimmen in zweierlei Hinsicht einig: Historisch sind diese »neuen« Formen der Konfliktaustragung weder »neu«, noch können sie umstandslos als »Krieg« bezeichnet werden. 

Der russische Großangriff von 2022 lässt diese Konfliktformen in den Hintergrund treten. Möglicherweise handelt es sich aber um ein Wahrnehmungsphänomen: Denn schließlich sind die asymmetrischen oder hybriden Formen der Konfliktaustragung auch jetzt nicht verschwunden. Vielmehr wurden sie gleichsam nur überdeckt von dem noch größeren Ausmaß der nun auch durch reguläre Streitkräfte ausgetragenen kriegerischen Gewalt. 

Schon im 18. Jahrhundert existierte eine Form ähnlicher Konflikte: der sogenannte kleine Krieg. So bezeichneten die Zeitgenossen das Aufgabenspektrum von Aufklärung und Sicherung, Handstreich und Hinterhalt sowie das Aussenden von weiträumig operierenden »Detachements«. Und bereits zu dieser Zeit erschien diese Form der Kriegführung als archaisch, zivilisationsfern und oft auch als geradezu überholt. Hier Arbeitsteilung, Zivilisation und »geregelte« Truppen, dort die Barbarei einer Gesellschaft im ständigen Kleinkrieg – das war eine Gegenüberstellung der Zeit, wie es zahlreiche Militärschriftsteller im 18. und im 19. Jahrhundert formulierten. Wie selbstverständlich ging etwa der preußische Militärphilosoph Carl von Clausewitz im frühen 19. Jahrhundert davon aus, dass »die Kriege gebildeter Völker viel weniger grausam und zerstörend als die der ungebildeten« seien. Ungeachtet der Tatsache, dass gerade der preußische Militärphilosoph auch die Gewalt der regulären Streitkräfte keineswegs verharmloste, erschien ihm die Kriegsform der »rohen Völker« als Sinnbild für den Krieg in seiner totalen, »absoluten Form«. Sein Zeitgenosse, der preußische Offizier Georg Wilhelm von Valentini, pflichtete bei: »Kein Krieg gewährt so viel alterthümliche Erinnerungen, als der gegen die Türken«. Gemeint war damit weniger die Kriegführung der regulären Truppen des Osmanischen Reiches, sondern seiner Grenzkrieger und Vasallen auf dem Balkan, im Kaukasus, der Krim und in der Schwarzmeersteppe. Ihnen gegenüber standen die leichten Truppen des Habsburgerreiches, namentlich die ungarischen Husaren und kroatischen »Grenzer« sowie die für Russland kämpfenden Kosaken. 

Solche kulturalisierenden Wahrnehmungen existierten auch später. Und gerade die Geschichte Osteuropas liefert nahezu den Archetypen des Gewaltakteurs, der oft buchstäblich an der Grenze zwischen innerem und äußerem Konflikt agierte: die Kosaken. Der russische Schriftsteller Lew Tolstoi zeichnete um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Bild vom »schlichten«, von der Zivilisation unverdorbenen, trinkfesten und naturverbundenen Krieger. Auch in der Ukraine bilden Kosaken den Anknüpfungspunkt für Geschichtserzählungen und -mythen sowie für traditionale Aneignungen. Auf dem Euromaidan, den breiten Bürgerprotesten von November 2013 bis Februar 2014, traten nicht nur Hunderttausende von Menschen aller Bevölkerungsgruppen der Politik des korrupten Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch entgegen. Markant präsentierten sich auch milizähnliche Formationen in Kosakentracht. Das Image von freien, ungebundenen Kriegern im Kampf für die nationale Unabhängigkeit vermittelt auch ein 2020 gedrehter Kurzfilm auf der ukrainischen Online-Plattform »Ukraïner«: In malerischen Posen präsentieren sich Kosaken in historischer Tracht und Bewaffnung auf dem Ort der frühneuzeitlichen Kosakenfestung, der »Sitsch« auf der Dnjepr-Insel Chortyzja inmitten der Großstadt Saporischschja/Saporoschje. Dieser historische Erinnerungsort wurde ab 2004 als Freilichtmuseum wieder aufgebaut. Reenactmentszenen zeigen Kosaken beim Reiten, Bogenschießen und Säbelfechten, die dem Publikum, vor allem Kindern, ein Bild vom freien, patriotischen Krieger vermitteln. Im Hintergrund dieser Szenerie ragt der im Jahr 1932 errichtete Staudamm über den Fluss Dnepr hervor: Die Saporoger Kosaken verdanken ihren Namen dem Ort »jenseits der Stromschnellen«, von dem sich der ukrainische Name Saporischschja (russ. Saporoschje) ableitet. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts betrieben sie in der Zentralukraine eine unabhängige Politik gegenüber den Großreichen.

Protest gegen Janukowitsch

Kosaken protestieren auf dem Maidan gegen die Politik Janukowitschs, 14.12.2013

picture alliance / dpa | Jan A. Nicolas

Kosaken im »Wilden Feld« in der Frühen Neuzeit

Die jeweils eine Vielzahl von Völkern umfassenden Großreiche der Habsburger, Polen-Litauens, des Osmanischen Reichs und des Russländischen (und nicht bloß russischen) Reiches verfügten über breite Grenzzonen.

Die Gestalt dieser Grenzzonen blieb lange unklar und – im Wortsinn – umkämpft. Erst in der Frühen Neuzeit, also zwischen dem frühen 16. und dem späten 18. Jahrhundert, erlangte der Begriff »Ukraina« annähernd seine heutige Bedeutung. Das Wort heißt »Grenze« oder »Grenzmark«. In diesem Grenzland zwischen »Europa« und »Asien« galt die Steppenzone nördlich des Schwarzen Meeres für die Zeitgenossen als das »Wilde Feld«. Hier lag die Schnittstelle dreier Imperien: Erstens gehörten das heutige Staatsterritorium von Belarus sowie der Norden und Westen der heutigen Ukraine zur polnisch-litauischen Adelsrepublik. Zweitens beherrschte das Osmanische Reich direkt den gesamten Balkan, Ungarn, die Kaukasusregion und indirekt die dazwischenliegende Steppenzone nördlich des Schwarzen Meeres über Vasallenstaaten, insbesondere dem Khanat der Krimtataren. Drittens schließlich gliederte sich das Moskauer Zarenreich seit dem 16. Jahrhundert die Randgebiete der nördlichen und im 17. Jahrhundert der östlichen Ukraine ein. Im späten 18. Jahrhundert eroberte es den als »Neurussland« bezeichneten Schwarzmeerraum. Hier, im Süden und im Osten des heutigen ukrainischen Staatsgebiets, befindet sich der Schwerpunkt des aktuellen Krieges. Seit dem 15. Jahrhundert war es das Aktionsfeld der Kosaken. 

Der Begriff »Kosak« entstammt der turksprachigen Bezeichnung für »freie Krieger«. Anfangs handelte es sich bei ihnen noch um Tataren, die als Grenzwächter der umliegenden Reiche dienten und sich seit dem 15. Jahrhundert auch als selbständige Gruppierungen im sogenannten Wilden Feld niederließen. Deren Gruppen wandelten sich bald zu polyethnischen Gemeinschaften. Seit dem 16. Jahrhundert siedelten sie an der Steppengrenze entlang der großen Flüsse. Die kriegerischen Verwüstungen im Polnisch-Litauischen wie im Russländischen Reich, die steigenden Abgabenlasten und eine sich gleichzeitig verschärfende Grundherrschaft und Leibeigenschaft veranlassten zudem zahlreiche Bauern zu Flucht und Fortzug in die siedlungsarmen Räume. Indem sie Kleidung und Bewaffnung ihrer nomadischen, meist turksprachigen Nachbarn übernahmen oder sich auch mit ihnen zu Gewaltgemeinschaften vereinigten, entwickelte sich eine eigene Kultur, die die Kosaken von anderen europäischen Völkern abgrenzte. Mit ihrem orientalischen Habitus, dem orthodoxen Glauben, der russischen oder ukrainischen Sprache und ihrer kriegerisch-freiheitlichen Männerkultur galten sie somit oft als eine eigene Ethnie. Lew Tolstoi, der die Kosaken im Kaukasusvorland während der 1850er Jahre als junger Offizier selbst kennengelernt hatte, beschrieb seine Romanfiguren weder als Russen noch als »Kleinrussen« (also Ukrainer). Vielmehr erschienen sie ihm als ein eigener Menschenschlag, der im engen Austausch mit den muslimischen »Gebirglern« und nomadischen Steppenvölkern stand: beim Pferdestehlen, beim Handel und im Krieg. 

In diesem Sinne beschrieb sie auch das einschlägige Zedler-Lexikon im Jahr 1737 als »gute Soldaten und noch bessere Räuber«. Diese, zunächst ausschließlich aus Männern bestehenden Gewaltgemeinschaften lebten von der Jagd, vom Fischfang und von Raubzügen. Anfangs stützten sie sich vor allem auf ihre Boote, später übernahmen sie die Taktik der leichten Reiterei. Zu ihren brutalen »Geschäftsfeldern« gehörten neben dem Einbringen materieller Beute auch Geiselnahmen zur Lösegelderpressung und der Menschenhandel. Eine größere freie Kosakengemeinschaft bildete sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts am mittleren Dnjepr. Unter ihrem Anführer (Hetman) Dmytro Wyschneweckyj entstand eine Befestigungsanlage, die bereits erwähnte Sitsch, auf der Insel Chortyzja. Ähnliche Siedlungen entstanden am unteren Don, am Ural (Jaik) sowie am Terek nördlich des Kaukasus. In den freien Kosakengemeinschaften verzahnten sich militärische, politische und gesellschaftliche Ordnung: Entscheidungen wurden durch alle Männer im »Ring« getroffen, in dem auch ihr Anführer, der Hetman (russ. Ataman), gewählt wurde. Trotz ihrer Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit differenzierten sich die Gemeinschaften infolge ihres zahlenmäßigen Anwachsens in eine Offizier- und Führungsschicht, die den einfachen Kosaken gegenüberstand. 

Aus Sicht der Großmächte waren die Kosakenverbände einerseits als Bündnispartner gefragt, andererseits als Urheber von Aufständen und sozialer Anarchie gefürchtet. Abgesehen vom Kampf in der Steppe führten sie weiträumige Überfälle zur See, teils über das Schwarze Meer bis vor Konstantinopel, teils über das Kaspische Meer nach Persien. Neben den freien Gewaltgemeinschaften fungierten zahlreiche Kosaken als Dienstleute der Großmächte, als Teil von Privatarmeen polnischer Magnaten und dienten dem Schutz von Städten und als Wehrbauern. Seit den 1570er Jahren existierten erste »Registerkosaken«, die in ein Soldregister eingetragen waren, als reguläre Kämpfer und Soldempfänger im Polnisch-Litauischen Reich. Um diesen Status entbrannten in den 1590er Jahren und zu Anfang des 17. Jahrhunderts heftige Auseinandersetzungen mit dem polnischen Adel. Die Kosakenaufstände in der Ukraine erhielten somit eine protonationale Prägung und verbanden sich mit großen antijüdischen Pogromen – am stärksten in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Weiträumige von Kosaken getragene Aufstände erfolgten auch im Russländischen Reich.

Chmelnyzkyj-Denkmal in Kiew

Denkmal für den Gründer des ersten Kosakenstaates Bohdan Chmelnyzkyj (1595–1657) in Kiew

IMAGO/YAY Images

Während die Kosaken am Don unter Wahrung ihrer Autonomierechte ab dem späten 17. Jahrhundert in das Russländische Reich integriert wurden, konnte das Saporoger Kosakenhetmanat in der Zentralukraine seine Autonomie bis ins 18. Jahrhundert bewahren. Während der langen Herrschaft Katharinas II. der Großen von 1762 bis 1796 dehnte sich die von den Kosakensiedlungen gesicherte russländische Grenzzone bis zum Kaukasus und in die Schwarzmeerregion aus. Bis zum 19. Jahrhundert wurden die Kosakenheere zunehmend reguliert und in die zarische Armee integriert. Spätestens die Teilnahme am Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 sicherte ihnen einen bleibenden Platz im russischen wie im ukrainischen Nationalmythos. Auf diese Weise hatten sich die Kosaken vom Element der Anarchie zu einem Instrument für die äußere Expansion sowie für die innere Herrschaftsausübung des Reichs gewandelt. Zwischen dem Don und dem Pazifik existierten zu Beginn des Russischen Bürgerkrieges 1917/18 elf Kosakenheere.

Auch gegenwärtig werden Kosaken von ukrainischer wie von russischer Seite national vereinnahmt. In beiden Ländern existieren personalstarke Kosakenorganisationen: In Russland wurden im Jahr 1995 »Registrierte Kosaken der Russischen Föderation« aufgestellt, deren milizähnlichen Formationen bis zu einer Dreiviertelmillion Personen angehören. Ihre Aufgaben finden sie beim Katastrophen-, Grenz- und Heimatschutz, aber auch in der patriotischen Erziehung. In der Ukraine waren Kosakengemeinschaften bereits ab Mitte der 1980er Jahre gegründet worden. Nach der Unabhängigkeit des Landes wurden diese in den 1990er Jahren durch den Staatspräsidenten Leonid Kutschma in Form eines »Ukrainischen Kosakentums« legitimiert. Insbesondere nach der Orangenen Revolution von 2004 erhöhte sich deren Mitgliederzahl bis 2009 auf rund 300 000. Deren Angehörige traten unter anderem auf dem Euromaidan von 2013/14 als Ordnungskräfte der Protestierenden in Erscheinung, während die Staatsgewalt mit unangemessener Härte reagierte. (siehe dazu: Arnold, Kosakenorganisationen) Infolge der russischen Annexion der Krim, die maßgeblich auch durch prorussische Milizen mit bewerkstelligt worden war, vollzogen die ukrainischen Kosakenverbände einen Bruch mit den russischen Gemeinschaften der Don- und der Kuban-Kosaken. Seit Frühjahr 2014 sind ihre Angehörigen auf beiden Seiten an den Kämpfen beteiligt, nun aber zumeist in regulären Truppen von Armee und Territorialverteidigung.

Militärische Organisation – westliche »Zivilisation«?

»Der Krieg macht den Staat und der Staat macht den Krieg« – so lautet das geflügelte Wort des amerikanischen Historikers und Soziologen Charles Tilly. Anders als die juristisch und völkerrechtlich zweifellos zutreffende Konzeption vom Krieg als zwischenstaatliche Auseinandersetzung existierten besonders in der Vormoderne fluide Grenzzonen zwischen Krieg und Frieden; zwischen staatlicher und privater, zwischen regulärer und irregulärer Gewalt, zwischen innerer und äußerer (Macht-)Politik. »Die neuen Kriege sind die alten«, so urteilte der Militärhistoriker und Frühneuzeitexperte Bernhard R. Kroener. Das in den Politikwissenschaften und in der Rechtsgeschichte gern gepflegte Modell des »Westfälischen Systems« folgt dagegen der Perspektive der souveränen Staaten und ihrer stehenden Heere. Diese Sichtweise betont, dass – angeblich – seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 eine klare Gegenüberstellung von »innen« und »außen« möglich sei: Nicht-staatlich organisierte Kräfte wurden so aus der Geschichtsschreibung ausgeblendet. Dies aber ist eine west- und mitteleuropäische Perspektive. Und trotz der massiven Vermehrung der stehenden regulären Heere seit dem späten 17. Jahrhundert existierte die irreguläre Gewalt weiter, nicht nur in Osteuropa: Als der Preußenkönig Friedrich der Große im Jahr 1740 in das benachbarte Reich der österreichischen und ungarischen Thronerbin Maria Theresia einfiel, musste seine Armee hartes Lehrgeld gegen die habsburgischen »leichten Truppen« aus der Balkanregion bezahlen, bis er selbst rasch eigene Husarenregimenter errichtete und auch ein Bosniakenkorps aufstellte, das später auch litauische Tataren und Polen umfasste. 

Genauso wie in den anderen Grenzregionen herrschte im Grenzsaum zwischen dem Osmanischen Reich und seinen europäischen Nachbarn der »kleine Krieg«. Auch abseits der großen Friedensschlüsse erfolgten Kleinkriegsaktivitäten, Raubhandel und Beutezüge zur Verschleppung von Wertgegenständen, Vieh und Menschen. Dagegen fehlte oft ein durchsetzbares Gewaltmonopol der Großmächte oder blieb zumindest lückenhaft. Auch in Mitteleuropa wurde der sogenannte kleine Krieg abseits und in Ergänzung der großen militärischen Operationen geführt, so im Siebenjährigen Krieg (1756–1763). Die von den Randzonen des russischen und des habsburgischen Imperiums kommenden leichten Truppen verliehen dieser Taktik eine »orientalische« oder »osteuropäische« Prägung. In Mitteleuropa bestanden daher entsprechend kulturalistisch aufgeladene Wertungen und Vorurteile: Der Topos vom wilden »Kroaten«, »Kosaken« oder »Türken« überzeichnete das Bild vom archaischen Kämpfer aus den zivilisationsfernen Grenzzonen der Großreiche. Ein osteuropäischer oder »orientalischer« Habitus dieser »leichten Truppen« blieb in Uniform und Taktik der aus Ungarn übernommenen Husaren und der aus Polen stammenden Ulanen bestehen. Sie existierten in nahezu allen europäischen Armeen. 

Ende des 18. Jahrhunderts verschwand mit den drei Teilungen Polens (1772, 1793 und 1795) eine zuvor langandauende Konfliktzone zwischen dem Russländischen und dem vormaligen Polnisch-Litauischen Großreich, nicht aber die irreguläre Gewalt. Diese verlagerte sich lediglich von den Grenzsäumen ins Innere, wo auf ihre Selbständigkeit bedachte Adlige, Gewaltgemeinschaften wie die Kosaken oder aufständische »Hajdamaken« sich oft gezwungen fühlten, gegen die nun »staatlich« gewordene Herrschaft der Großmächte zu rebellieren oder sich mit ihr durch militärischen Dienst zu arrangieren. 

Im Süden gelang es dem Russländischen Reich unter Peter I. dem Großen schließlich, die Ukraine östlich des Dnjepr zu kontrollieren, während seine Nach-Nachfolgerin Katharina II. das gesamte Gebiet nördlich der Schwarzmeerküste als »Neurussland« in ihr Reich eingliederte. Damit endete nicht nur das Reich der Krimtataren und die Unabhängigkeit der nomadischen Völker, sondern auch die Zeit der freien Kosaken. Dessen ungeachtet erfolgten zur selben Zeit noch großangelegte Aufstände zwischen der Ukraine, Südrussland und dem Gebiet am Ural, die maßgeblich von unzufriedenen Kosaken, nichtrussischen Völkern sowie einem großen Teil der russischen Landbevölkerung getragen wurden.

Gagarin, Kosaken attackieren türkisches Schiff

Kosaken attackieren türkisches Schiff (1847), Gemälde von Grigori Gagarin (1810–1893)

Sitsch – Wikipedia

Die zum Nationalstaat verschmolzenen Konzepte von Staat und Nation wurden in der »Sattelzeit« um 1800 die völkerrechtliche Norm. Damit war der Krieg verstaatlicht. Alle anderen Gewaltaktivitäten galten nun als irregulär, der »kleine Krieg« als Überbleibsel einer archaischen Zeit. Ethnografische Stereotypen blieben: von pittoresken Kosaken und tschetschenischen »Gebirglern« aus dem Kaukasus bis hin zum Feindbild des »grausamen Türken«. Solche Klischees wirkten bis in die Zeit der vermeintlichen »neuen Kriege« fort: Sie wurden auf die Milizen im Balkangebiet der 1990er Jahre, auf die islamistischen Terroristen im Kaukasus, im Nahen Osten und in Afghanistan der Milleniumszeit projiziert; und auf die paramilitärischen Truppen, die auf russischer wie auf ukrainischer Seite den 2014 begonnenen Krieg in der Ukraine auf »hybride« Weise eingeleitet haben.

Zwischen »regulären« und »irregulären« Kämpfern blieb jedoch stets eine breite Grauzone. Denn auch in der Neuzeit, im 19. wie im 20. Jahrhundert, koexistierten reguläre und irreguläre Gewaltaktivitäten. Dies bestätigt sich auch in der Ukraine, die schon vom Namen her als »Grenzland« galt und deren heutiges Staatsgebiet das einstige »wilde Feld« umfasst. Ungeachtet aller »großen« Kriege waren zudem weder der frühneuzeitliche »kleine Krieg« noch die »neuen Kriege« der 1990er Jahre so »neu«, wie es den Zeitgenossen schien. Schon frühere Erscheinungsformen irregulärer Gewalt wurden von den Mitlebenden als »neu«, als »anders« und auch als »barbarisch« wahrgenommen, solange ihnen genauere Beschreibungskategorien fehlten.

Literaturtipps:

Richard Arnold, Analyse: Kosakenorganisationen in der heutigen Ukraine. Ukraine-Analyse Nr. 263 (14. März 2022), Bundeszentrale für politische Bildung https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-263/506900/analyse-kosakenorganisationen-in-der-heutigen-ukraine/ (Stand: 2. Mai 2023)

Richard Arnold, Geschichte der Beziehungen der Kosaken zum Kreml. Russland-Analyse Nr. 415 (8. März 2022)  https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/nr-415/508977/analyse-geschichte-der-beziehungen-der-kosaken-zum-kreml/ (Stand: 2. Mai 2023)

Andreas Kappeler, Die Kosaken, München 2013

Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992 


DOI: http://dx.doi.org/10.48727/opus4-651


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