Kampf um die Ukraine: Das Ende hybrider Kriegführung?
Kampf um die Ukraine: Das Ende hybrider Kriegführung?
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Panzer, Artillerie, Raketen und Drohnen prägen derzeit das Bild des Kriegsgeschehens in der Ukraine. Es wird militärisch, offen, auf breiter Front und mit höchster Intensität gekämpft. Bedeutet dies das Ende hybrider Kriegführung im Kampf um die Ukraine?
Ein Beitrag von Johann Schmid zu unserem Ukraine-Dossier.
Mit seinem großangelegten militärischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 ist Russland aus der Schattenwelt zwischen Krieg und Frieden herausgetreten. Nicht mehr indirekte und verdeckte geheimdienstlich-militärische Operationen und das Agieren über Stellvertreter bestimmen seither das Handeln im Kampf um die Ukraine, sondern der offene, direkte militärische Schlagabtausch zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräften. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die Kriegführung in der und um die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 verändert hat. Bedeuten diese Veränderungen das Ende der seit 2014 im Kampf um die Ukraine praktizierten hybriden Kriegführung? Das heißt, einer Form der Kriegführung die das Gefechtsfeld horizontal entgrenzt, insbesondere im Grauzonenbereich von Schnittstellen operiert und sich durch eine kreative wie unorthodoxe Mittel- und Methodenkombination auszeichnet, und die gleichzeitig eine Entscheidung primär auf nicht-militärischen Domänen anstrebt.
Veränderungen im Kriegsbild
Im Zeitraum vor dem 24. Februar 2022 war Russland sehr daran gelegen, selbst nicht direkt als Kriegspartei in der Ukraine wahrgenommen zu werden. Das Streben nach plausibler Abstreitbarkeit einer eigenen Beteiligung war seit 2014 acht Jahre lang der Dreh- und Angelpunkt des russischen Vorgehens. (Who lost Russia?) So erklären sich das Tragen von Gesichtsmasken und der Verzicht auf militärische Hoheitsabzeichen während der Krym/Krim-Operation, der bewusst begrenzte und verdeckte Einsatz militärischer Gewalt im Donbas/Donbass, wie auch das indirekte Operieren über Stellvertreter durch die Schaffung einer neuen Kategorie pseudostaatlicher Akteure in Form der pro-russischen Separatisten. All dies diente letztendlich dem passgenauen Operieren im Grauzonenbereich der Schnittstellen zwischen Krieg und Frieden, zwischen Freund und Feind, zwischen innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Auseinandersetzung wie auch zwischen Recht und Unrecht mit dem Bestreben, dem eigenen Handeln zumindest den Anstrich von Legitimität zu geben. (Was ist hybride Kriegführung?)
Dieser Ansatz wurde mit dem großangelegten militärischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 weitgehend aufgegeben. Es ist ein Strategiewechsel in mehreren Schritten festzustellen, der zu Veränderungen im Kriegsbild führte: Russland hat dabei zunächst die Schattenwelt der hybriden Kleinkriegführung verlassen und ist aus dem Grauzonenbereich zwischen Krieg und Frieden, Freund und Feind herausgetreten. Seit dem Scheitern der Anfangsoffensive gegen die Ukraine, mit versuchtem »Enthauptungsschlag« und angestrebtem Regimesturz, dem noch ein gewisses Maß an Hybridität unterstellt werden konnte, strebte Russland anschließend offen eine militärische Entscheidung mit reduzierter Zielsetzung an, die sich zunächst auf die Region Donbas und die Landbrücke zur Krim konzentrierte. Das Gravitationszentrum in der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine verlagerte sich auf das militärische Schlachtfeld.
Strategiewechsel
Bedeuten dieser Strategiewechsel und der Wandel im Kriegsbild – weg vom indirekten, verdeckten und begrenzten Einsatz der Streitkräfte, hin zum offenen, großangelegten, eskalierenden und entscheidungssuchenden Gebrauch militärischer Gewalt –, dass Russland seine Ziele in der Ukraine mit den Mitteln und Methoden hybrider Kriegführung nicht mehr für erreichbar hielt?
Die Beantwortung dieser Frage ist davon abhängig, was man als übergeordnete politisch-strategische Zielsetzung Russlands unterstellen will. Der Strategiewechsel ist insofern erstaunlich, als Russland mit seiner Strategie der hybriden Kleinkriegführung acht Jahre lang vergleichsweise erfolgreich agiert hat. Ein durchschlagender Gesamterfolg, was die Einflussnahme auf die Ukraine insgesamt betrifft – angestrebt u.a. über die sogenannten Volksrepubliken als Steuerungselemente –, konnte damit zwar nicht erreicht werden, jedoch schien die Lage für Russland auch langfristig einigermaßen komfortabel und ließ keinen unmittelbaren Handlungsbedarf größeren Ausmaßes erkennen. Wenn man jedoch eine Erweiterung der russischen Zielsetzung unterstellt und diese in der Zerschlagung der staatlichen Existenz der Ukraine in Verbindung mit der imperialen Eroberung von Teilen ihres Territoriums erkennen will, so war eine solche mit der bisher verfolgten hybriden Langfriststrategie auf der kurzen Zeitachse nicht zu erreichen.
Da sich von außen nicht tief genug in die Köpfe, in die Gefühlswelt wie auch in das innere Bezugssystem der Entscheidungsträger auf russischer Seite hineinschauen lässt, können bezüglich der Gründe für diesen Strategiewechsel nur Mutmaßungen in Form von Plausibilitätsüberlegungen angestellt werden. Eine Kombination unterschiedlicher Faktoren kann den Strategiewechsel vielleicht noch am besten erklären. – Ungeduld, Furcht und Torschlusspanik mögen hierbei ebenso eine Rolle gespielt haben wie neue Gelegenheiten, Wunschdenken und Fehlperzeptionen.
Ganz offenkundig hat Russland die strategische Geduld verloren und den Wunsch nach einer schnellen und substanziellen Veränderung des Status-Quo mit Blick auf die Ukraine entwickelt. Die Zerschlagung der staatlichen Existenz der Ukraine könnte so zur »neuen« imperialen Zielsetzung geworden sein, die mit der bisher verfolgten hybriden Langfriststrategie kurzfristig nicht zu realisieren war.
Die Gründe für den Verlust der strategischen Geduld Russlands können ebenfalls nur vermutet werden: Hier mag eine generelle Unzufriedenheit über den abnehmenden Einfluss Russlands auf die Ukraine eine Rolle gespielt haben. Bestimmte innerukrainische Debatten und Entwicklungen könnten aus russischer Sicht als Provokationen wahrgenommen worden sein: u.a. das sehr proaktive Streben der Ukraine nach NATO-Mitgliedschaft, alternative Überlegungen zur eventuellen nuklearen Aufrüstung der Ukraine oder auch das ukrainische Vorgehen gegen pro-russische Oligarchen im Land, die Russland eventuell noch als eigene Einflussfaktoren betrachtet hatte. Letztendlich könnte damit die Furcht vor dem vollständigen Entgleiten der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich einhergegangen sein, wenn nicht unmittelbar gehandelt würde (Torschlusspanik). Auf der Basis eigener geopolitischer, militärischer wie auch energiepolitischer Stärke in Verbindung mit einer weit fortgeschrittenen Resilienz in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Gesellschaft mag Russland daher ein sich schließendes Zeitfenster als letzte Möglichkeit einer Rückholung der Ukraine in den eigenen Einflussbereich ausgemacht haben. Die Streitkräfte wurden dabei in Verbindung mit den Geheimdiensten, separatistischen Volksmilizen, Formationen tschetschenischer Kämpfer und dem Söldner- und Militärunternehmen der Gruppe Wagner zum primären Mittel der Umsetzung.
Auch externe Ereignisse könnten den russischen Strategiewechsel mit beeinflusst haben, so zum Beispiel der Krieg um Nagorni-Karabach vom Herbst 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan. Aserbaidschan konnte in dieser Auseinandersetzung lange Zeit verlorenes Gebiet mit militärischen Mitteln zurückerobern. Bewaffnete Drohnen, bereitgestellt durch die Türkei und Israel, spielten dabei die entscheidende Rolle. Dies mag in Russland die Befürchtung verstärkt haben, dass ein ähnliches Schicksal auch den Volksrepubliken im Donbas drohen und allein für das Halten der Position ein offizieller Rückhalt durch die russischen Streitkräfte vor Ort erforderlich werden könnte. Den Separatisten allein war dies gegen die zunehmend schlagkräftigeren ukrainischen Streitkräfte auf Dauer nicht zuzutrauen. Zu berücksichtigen ist außerdem der stärkere politische Zugriff Russlands auf das Nachbarland Belarus, der sich ab 2020/21 in Folge der Proteste gegen das belarussische Regime ergab. Damit konnte Russland eine militärische Ausgangsbasis für den kürzesten Direktstoß auf Kyjiw/Kiew gewinnen. Aus russischer Sicht mag man dies als eine zusätzliche, eine militärische Invasion begünstigende Gelegenheit betrachtet haben.
Fehlperzeptionen
Die bisher genannten Faktoren erklären den Strategiewechsel Russlands und das russische Vorgehen nur teilweise. Daher müssen Fehlperzeptionen oder auch Gleichgültigkeiten Russlands einbezogen werden, um zu einem halbwegs stimmigen Gesamtbild zu kommen. Die größte Fehlperzeption der russischen Führung kann darin gesehen werden, dass der Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung, die Kampfkraft und Opferbereitschaft der ukrainischen Streitkräfte wie auch die Geschlossenheit der ukrainischen Führung einschließlich der Führungsstärke des ukrainischen Präsidenten offenbar überhaupt nicht ins Kalkül einbezogen worden waren. Russland scheint eine Wette auf einen schnellen hybrid-subversiven Erfolg im Blitzkriegsmodus eingegangen zu sein und hat diese verloren. Bei allem, was heute bekannt ist, ist anzunehmen, dass Russland tatsächlich auf einen schnellen Erfolg ohne allzu intensive Kampfhandlungen gesetzt hatte. Anders ist das gesamte russische Vorgehen überhaupt nicht zu erklären. Das betrifft insbesondere die umfassende Invasion der Ukraine mit einem, für den Fall tatsächlicher Kampfhandlungen, viel zu kleinen Kräftedispositiv. Gleichzeitig erfolgte das Vorgehen der russischen Invasionskräfte während der ersten Tage eher im Einmarsch- denn im Angriffsmodus. Auch das Potenzial der russischen Luftstreitkräfte wurde im Rahmen des Überfalls keineswegs ausgeschöpft. Ein weiteres Indiz für die Annahme, dass die russische Führung keinen allzu intensiven militärischen Widerstand erwartet hatte, kann in der mangelnden, insbesondere auch mentalen Vorbereitung der russischen Streitkräfte auf Kampf gesehen werden. Die Truppe selbst schien vom Krieg überrascht worden zu sein.
Damit erscheint die Bezeichnung »militärische Spezialoperation« in einem völlig anderen Licht, nämlich nicht ausschließlich als Propaganda-Narrativ der russischen Führung, sondern als Ausdruck tatsächlicher Planung in Verbindung mit Wunschdenken. Dass die Ukraine aber kämpfen und sich militärisch erfolgreich verteidigen würde und dass damit aus dem Überfall und Einmarsch ein Krieg werden würde, war in der russischen Ursprungsplanung so offenbar nicht vorgesehen. Die russische Führung scheint bis zu einem gewissen Grad Opfer ihrer eigenen Propaganda und Geschichtserzählung geworden zu sein. Denn von einem Akteur ohne »historische Existenzberechtigung«, so der Blick der russischen Geschichtserzählung auf die Ukraine, wurde offenbar kein allzu großer Widerstand erwartet.
Hier stellt sich die Frage, worauf der Erfolg der »militärischen Spezialoperation« in Form einer Blitzinvasion eigentlich hätte gründen sollen? Russland scheint hierbei auf eine hybride Kombination aus psychologischem Schock und subversiver Einflussnahme bereits im Vorfeld gesetzt zu haben. Über historische Delegitimierung, Propaganda, Korruption und Bestechung sowie Geheimdienst- und Spezialoperationen hatte Russland versucht, das Feld für die psychologische Schockoperation entsprechend subversiv vorzubereiten. Der militärische Überfall in Verbindung mit weiträumigen Luft- und Raketenangriffen im ganzen Land sollte die entscheidende Schockwirkung herbeiführen. Dieser Ansatz gipfelte am 25. Februar 2022 in der Aufforderung des russischen Präsidenten Wladimir Putin an die ukrainischen Streitkräfte zur Machtübernahme und damit indirekt zum Regimesturz.
Die Chancen auf einen schnellen Erfolg im hybriden Blitzkriegsmodus konnten dabei jedoch nur als relativ gering betrachtet werden. Alles schien darauf ausgerichtet zu sein, über die psychologische Schockwirkung zu einem schnellen politischen Erfolg zu kommen, d.h., das ukrainische Militär zur Aufgabe oder zum Überlaufen zu bewegen, die Regierung zu stürzen oder zu vertreiben und selbst das politische Ruder zu übernehmen. Sollte dies aber nicht gelingen – und dafür gab es nur ein kurzes Zeitfenster – so hatte der Ursprungsplan ausgedient. Alles war auf das Funktionieren einer Kette von Best-Case-Annahmen gegründet. Die größte Fehleinschätzung war dabei die Annahme, dass die Ukraine sich nicht entschlossen verteidigen würde.
Ein solches Best-Case-Szenario war jedoch realistischer Weise kaum als besonders wahrscheinlich anzunehmen. Ein Land, das seit acht Jahren im Krieg steht, lässt sich nicht so leicht schockieren oder moralisch erschüttern. Die Ukraine war gewissermaßen psychologisch beschussfest geworden und an ihrer Bereitschaft und Motivation zur Selbstverteidigung konnte kein ernsthafter Zweifel bestehen. Methoden, mit denen Russland 2014 auf der Krim und im Osten des Donbas erfolgreich war, funktionierten im Jahre 2022 für die Ukraine als Ganzes nicht. Immerhin hatte das Land acht Jahre Zeit gehabt, sich auf diese Methoden einzustellen.
Allerdings gibt es in jedem Krieg Schicksalsmomente. Wenn beispielsweise der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi das USUnited States-amerikanische Evakuierungsangebot vom 26. Februar 2022 angenommen hätte, dann sähe die Lage in der Ukraine heute vermutlich anders aus. Rückblickend wird man Selenskyis Ausschlagung dieser »Mitfahrgelegenheit« als den – um mit dem preußischen General und Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz zu sprechen – psychologischen Kulminationspunkt des russischen Angriffs betrachten können, nach dessen Überschreiten sich der Angreifer auch in der Verteidigung nicht mehr würde halten können. Für den Vorstoß auf Kyjiw traf dies im wörtlichen Sinne zu. Anschließend musste Russland seine »militärische Spezialoperation« als Krieg völlig neu denken.
Angriff und Verteidigung
Hier stellt sich die Frage, worauf sich die potenziellen Fehlannahmen in der russischen Lagebewertung gründen und welcher Faktor diese maßgeblich ausgelöst oder begünstigt haben könnte. Um den bisherigen Kriegsverlauf zu erklären, ist vor allem ein Faktor entscheidend, der bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist: das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung und die Tatsache, dass Russland und die Ukraine völlig unterschiedliche Kriege gegeneinander führen.
Russland ist der politische, der strategische und der moralische Angreifer. Es kämpft im Feindesland für imperiale, nicht aber für vitale Interessen. Dafür stehen dem Land nur seine aus unterschiedlichen Komponenten zusammengesetzten Invasionskräfte zur Verfügung. Mit Verlassen der Grauzonen zwischen Krieg und Frieden, Freund und Feind hat sich Russland aus Sicht weiter Teile der Staatengemeinschaft durch eigenes Handeln politisch, rechtlich wie auch ethisch-moralisch ins Abseits befördert und operiert seither mit einem erheblichen Handicap. Gleichzeitig hat Russland mit seinem Vorgehen dem ukrainischen Widerstand wie auch der westlichen Unterstützung für die Ukraine eine Steilvorlage geliefert.
Die Ukraine dagegen ist der politische, der strategische und der moralische Verteidiger. Sie wurde im eigenen Land zum Opfer eines Angriffs auf ihre territoriale Integrität, politische Selbstbestimmung und letztendlich ihre nationale Existenz. Die Ukraine verteidigt sich gegen faktisches und so auch empfundenes Unrecht. Sie kämpft für vitale, nachvollziehbare und als legitim empfundene Interessen. Für sie geht es um nicht weniger als den Erhalt ihrer staatlichen Existenz. Würde die Ukraine diesen Krieg verlieren, so käme dies einer (zumindest teilweisen) Rückabwicklung ihrer Staatsgründung von 1991 gleich.
Die Ukraine führt somit einen Volksverteidigungskrieg – der gleichzeitig einem verspäteten Staatsgründungskrieg gleichkommt – und kann sich damit der stärksten nur denkbaren Form der Kriegführung bedienen. Sie kann auf dieser Grundlage große physische, moralische und politische Kraftquellen erschließen, die dem Angreifer so nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen. So kann die Ukraine im Rahmen ihrer Landesverteidigung einen Großteil der Bevölkerung mobilisieren und sich gleichzeitig umfänglicher internationaler westlicher Unterstützung versichern.
Schon Clausewitz wusste diese grundsätzliche Stärke der strategischen Verteidigung einzuordnen. Er spricht vom »Beistand des Kriegstheaters« etwa durch Festungen, vom »Beistand des Volkes« u.a. in Form der Nationalbewaffnung oder von der »Benutzung großer moralischer Kräfte«, die sich aus dem Kampf für eine als gerecht empfundene Sache ergeben. In der heutigen Zeit sind die großen Städte zu modernen, nur schwer einnehmbaren Festungen geworden. Statt von Nationalbewaffnung wird von Mobilisierung gesprochen. Aber unverändert stehen diese Mittel insbesondere dem strategischen Verteidiger zu Verfügung.
Paradoxerweise führt die Ukraine heute genau die Art von Krieg gegen Russland, mit der Russland in der Vergangenheit seine größten militärischen Erfolge erringen konnte: einen als legitim empfundenen Volksverteidigungskrieg gegen eine externe Invasion, wie etwa 1812 gegen Napoleon Bonaparte. Allem Anschein nach sind die Überlegungen zur strategischen Stärke der Verteidigung nicht prominent in die russischen Planungen der »militärischen Spezialoperation« zur Invasion der Ukraine eingeflossen.
Jüngste Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass Russland diesbezüglich an einer Nachjustierung arbeitet und – zumindest für das heimische Publikum – einen existenziellen Verteidigungskrieg gegen eine äußere Bedrohung zu inszenieren versucht. Dazu scheint Russland Anleihe bei seinem hybriden Drehbuch der Krim-Operation aus dem Jahr 2014 zu nehmen. Neben einer Verstärkung des Propagandanarrativs vom »Kampf gegen den kollektiven Westen« lässt Russland in den subversiv-militärisch eroberten Gebieten im Süden der Ukraine Referenden über deren Unabhängigkeit inszenieren. (Russische Rechtfertigung) Anschließend werden diese Gebiete annektiert, um sie unter den eigenen abschreckenden konventionellen, insbesondere aber nuklearen Schutzschirm zu stellen. Bei Gegenangriffen der Ukraine zur Rückeroberung ihres Staatsgebiets könnte Russland, seiner inszenierten Logik folgend, dann von einer Verteidigung eigenen Territoriums oder eigener Bevölkerungsgruppen sprechen. Ob die künstliche hybride Inszenierung eines Verteidigungskrieges jedoch auch nur annähernd ähnliche Kräfte zu wecken vermag wie ein tatsächlicher, darf bezweifelt werden. International wird Russland mit seiner hybriden Umwandlung des eigenen Angriffs- in einen Verteidigungskrieg kaum durchdringen.
Hybride Dimensionen
Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Veränderungen in Strategie und Kriegsbild stellt sich die Frage, ob das derzeitige Kriegsgeschehen in der Ukraine nicht doch weiterhin als hybrid betrachtet werden muss und daher eine Konzentration der aktuellen Debatte (u.a. in Deutschland) auf die dabei zum Einsatz kommenden Waffensysteme zu kurz greifen würde. In der Tat dürfen die hybriden Dimensionen des Kriegsgeschehens in der und um die Ukraine, mit mehreren in sich verschränkten Konfliktlinien, nicht aus dem Auge verloren werden. Je nachdem, welcher Teilausschnitt, welcher Akteur und welche zeitliche Phase betrachtet werden, kann sich dabei perspektivenabhängig ein ganz unterschiedlicher Grad an Hybridität ergeben. Betrachtet man die unmittelbare Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine, so gestaltet sich diese spätestens seit Anfang März 2022 in hohem Maße militärisch zentriert. Blickt man auf den weiteren Kontext der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen insgesamt, insbesondere den USAUnited States of America, so ist unverändert ein Hybridansatz festzustellen, mit einer aktuellen Akzentuierung auf Waffenlieferungen an die Ukraine Seitens des Westens.
Aber selbst in dem Teil der Auseinandersetzung, bei dem die militärische Eskalation gegenwärtig am stärksten ausgeprägt ist, das heißt in der unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine, verschwinden die hybriden Dimensionen nicht. Sie flankieren weiterhin das militärische Vorgehen. Das betrifft u.a. den Informationskrieg: Die Propagandamaschinerie läuft auf Hochtouren bei gleichzeitig intensivierten militärischen Kampfhandlungen. Auch der Wirtschafts- und Finanzkrieg ist weiterhin virulent und verstärkt sich. Energie, Nahrungsmittel und auch Wasser werden als Angriffs- und Handlungsvektoren entdeckt und genutzt. Auch der politische und diplomatische Teil der Kriegführung intensivieren sich. Hierin ist im Übrigen ein zentrales Gravitationsfeld der hybriden Verteidigungsstrategie der Ukraine zu sehen. Diese strebt danach so viel internationale Verbündete und Unterstützung für die eigene Sache zu generieren wie nur irgendwie möglich. Der Kampf um Legitimität und Moralität der eigenen Sache wie auch um die Informationshoheit darüber ist in dieser Hinsicht ebenso wichtig wie der militärische Kampf.
Schließlich ist zu betonen, dass auch der Anfangsphase des russischen Überfalls – dem Blitzangriff mit versuchtem Regimesturz vom 24. Februar 2022 und den unmittelbaren Folgetagen – eine hybride Kombination aus militärischem Schock und subversiver Einflussnahme im Vorfeld zu Grunde lag. Mit Letzterer versuchte Russland u.a. über Zersetzung der ukrainischen Identität sowie umfängliche Bestechung von Entscheidungsträgern das Feld für die »militärische Spezialoperation« zu bereiten. Dass dieser Versuch, bei örtlich begrenzten Erfolgen insbesondere im Süden der Ukraine (im Raum um die Städte Melitopol und Cherson/Cherson), insgesamt gescheitert ist, bedeutet nicht, dass er nicht hybrid war.
Diskussion in Deutschland
In Deutschland konzentriert sich die Diskussion zum Krieg in der Ukraine in hohem Maße auf die Frage der Lieferung von Waffen, vor allem schwerer Waffen, an die Ukraine. Diese Frage wird intensiv und kontrovers debattiert. Bedeutet dies, dass damit die hybride Dimension des Krieges aus dem Blick gerät?
Hierzu ist zu sagen, dass schwere Waffen und militärische Kapazitäten nicht im Wiederspruch zur hybriden Dimension des Krieges stehen. Streitkräfte können ein wesentliches Element im Rahmen hybrider Kriegführung darstellen – sei es aktiv eingesetzt, in regulärer oder irregulärer Form, oder als Abschreckung und Drohkulisse, um damit hybrides Agieren auf anderen Feldern zu unterstützen oder abzusichern. Auch der symmetrische militärische Kampf auf Augenhöhe, wie er sich derzeit in der Ukraine beobachten lässt, kann dabei ein wesentliches Element hybrider Kriegführung im übergeordneten Sinne sein. Es mag paradox erscheinen, aber die Herausforderung durch hybride Kriegführung, wie sie in der Ukraine bereits seit 2014 besteht, hat Deutschland und Europa die Relevanz konventionell-militärischer Kriegführung und entsprechender Kapazitäten überhaupt erst wieder vor Augen geführt.
Für Deutschland kommt es vor allem darauf an, hybride Kriegführung als ganzheitliches Phänomen zu begreifen. Das beginnt mit der Einbeziehung aller relevanten Domänen und Dimensionen wie Politik, Information, Wirtschaft, Energie, Finanzen, Gesellschaft und Kultur, aber auch Militär, Infrastruktur, Technologie und Fragen der Legitimität. Wichtig ist dabei, die Logik und Muster des Zusammenspiels der verschiedenen Domänen und Dimensionen hybrider Kriegführung zu erfassen. Die Frage, auf welchem Feld ein Hybridakteur in einer bestimmten Phase des Krieges eine Entscheidung anstrebt – das heißt die Frage nach dem Gravitationszentrum seines Ansatzes –, ist dabei von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig gilt es, eigene Verwundbarkeiten, die sich oftmals an den Schnittstellen traditioneller Ordnungskategorien und Verantwortungsbereiche befinden, zu erkennen und abzusichern. Dies macht die Fähigkeit zum Operieren im Grauzonenbereich von Schnittstellen, beispielsweise zwischen innerer und äußerer Sicherheit oder zwischen zivilen und militärischen Verantwortungsbereichen erforderlich. Um Lücken im eigenen Sicherheits-, Verteidigungs- und Resilienzbildungsdispositiv zu vermeiden, sind ein gesamtstaatlicher und gesamtgesellschaftlicher Ansatz wie auch internationale Kooperation und Koordination erforderlich. Die Modellierung und Simulation eigener Verwundbarkeiten wie auch potenzieller hybrider Angriffsvektoren gegen Deutschland und Europa sollte in diesem Zusammenhang zur gelebten Routine werden. Dies sollte möglichst vorausschauend geschehen – nicht erst im Moment einer Konfrontation – und entsprechende Maßnahmen der Resilienzbildung nach sich ziehen. In Verbindung mit einem domänenübergreifenden, ganzheitlichen Lagebild ließe sich so eine bessere Vorbereitung auf künftige Herausforderungen hybrider Kriegführung erreichen.
Wichtig für das politische Handeln in hybriden Kriegs-/Konfliktlagen ist es außerdem, die Zweck-Ziel-Mittel-Relation in der Balance zu halten. Die politische Zwecksetzung sollte dabei stets die Grundlage für daraus abzuleitende strategische oder operative Zielsetzungen (u.a. im militärischen Bereich) und den sich daraus ergebenden Mitteleinsatz darstellen. Gegenwärtig betrifft dies Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine genauso wie die Sanktionspolitik gegenüber Russland. So sollte die aktuelle Debatte deutlich stärker auch die politische Ziel- und Zwecksetzungsebene einbeziehen und vor allem die Wozu-Frage der einzelnen Maßnahmen – etwa von Waffenlieferungen oder Sanktionsmaßnahmen – in den Blick nehmen. Was soll mit der Lieferung bestimmter Systeme oder mit einem bestimmten Sanktionspaket erreicht werden und wozu? Das heißt, worin ist die übergeordnete politische Zweckbestimmung einer bestimmten Maßnahme zu sehen? Die gegenwärtige Debatte beginnt und verharrt allzu oft auf der reinen Mittelebene. Das heißt, einzelne Waffensysteme oder Sanktionsmaßnahmen werden im Detail diskutiert, ohne dass vorher die übergeordnete politische Ziel- und Zwecksetzung ausreichend erörtert worden wäre. In Verbindung mit empörungsgeleiteten oder moralisierenden Politikansätzen kann dies schnell zu einer Verselbständigung der Mittelebene über ihr politisches Rational hinausführen.
Mit Blick auf Waffenlieferungen ist dabei auch nicht die Frage entscheidend, ob die Waffen für eine militärische Selbstverteidigung der Ukraine leicht oder schwer sind. Die Unterstützungsmaßnahmen müssen (international abgestimmt) in ihrer Kombination wirksam sein, ohne gleichzeitig den Krieg unnötig weiter eskalieren zu lassen.
Hat hybride Kriegführung in der Ukraine eine Zukunft?
Derzeit sind im Kampf um die Ukraine weder eine militärische Gesamtentscheidung noch eine Friedens- oder Verhandlungsoption absehbar. Russland ist zunächst mit seinem hybriden Blitzangriff, dann auch mit dem militärisch ausgerichteten Versuch einer schnellen Niederwerfung der Ukraine bzw. einer Zerschlagung ihrer staatlichen Existenz gescheitert. Die Umsetzung der anschließend reduzierten russischen Zielsetzung in Form einer vollständigen militärischen Eroberung des Donbas gestaltete sich von Beginn an verlustreich und schleppend bei nur begrenztem Erfolg. Schrittweise gelang es der Ukraine, die militärische Initiative für sich zu gewinnen. Mit den erfolgreichen Gegenangriffen im Raum Cherson, insbesondere aber mit der raumgreifenden Offensive südöstlich von Charkiw/Charkow konnten die ukrainischen Streitkräfte ab September 2022 eine neue Dynamik entfalten. Weitere Rückeroberungen besetzter Gebiete durch die Ukraine waren zu erwarten. Dies veranlasste Russland dazu, eine substanzielle Teilmobilisierung seiner Streitkräfte auszurufen, um personelle Verluste ausgleichen und den Krieg konventionell auf der Zeitachse überhaupt weiterführen zu können. Gemessen an der bisherigen Performance der russischen Streitkräfte wird sich mit der Teilmobilisierung für Russland bestenfalls die Lage stabilisieren und die Landbrücke zur Krim vielleicht in ihren Kernelementen (unter ev. Hinnahme weiterer Gebietsverluste insbesondere in den Regionen Cherson und Luhansk/Lugansk) verteidigend halten lassen. Eine konventionell-militärische Gesamtentscheidung des Krieges durch Russland wird damit nicht wahrscheinlicher. Obwohl der ukrainischen Gegenoffensive weitere substanzielle Raumgewinne zuzutrauen sind, ist ein vollständiges Zurückwerfen der russischen Kräfte aus ihren gegenwärtigen Positionen in der Ukraine, einschließlich der Krim, kurzfristig ebenfalls nicht abzusehen. Insgesamt ist der Krieg – seit April 2022 – in eine Phase der materiellen Abnutzung und der psychologisch-moralischen Ermattung getreten. Damit rücken hybride Mittel und Methoden tendenziell stärker in den Fokus. Da diese in der Regel Zeit benötigen, um ihre volle Wirkung entfalten zu können, kommt ihnen die Ausdehnung des Krieges auf der Zeitachse grundsätzlich entgegen. Auch weiche Faktoren wie Motivation, Moral, Legitimität und daraus resultierend der politische und gesellschaftliche Wille eines Staates, den Krieg fortzusetzen und durchzuhalten und die damit verbundenen Opfer und Belastungen zu tragen, können dabei entscheidend werden. Dem Gegner die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens vor Augen zu führen und sein Handeln zu delegitimieren, kann sich als wichtiger hybrider Handlungsvektor erweisen. Moral und Motivation sowohl der Streitkräfte als auch der Gesellschaften und ihrer politischen Führungen werden für das weitere Kriegsgeschehen in der und um die Ukraine von zentraler Bedeutung sein. Die Frage, wofür insbesondere die russischen Streitkräfte eigentlich kämpfen und woher sie ihre Motivation, Kampf- und Opferbereitschaft nehmen sollen, könnte sich als ein neuralgischer Punkt erweisen. Dies gilt umso mehr, als das durch die russische Propaganda über Monate hinweg gezeichnete Bild einer nach Plan verlaufenden Spezialoperation durch die Konfrontation mit der Realität des Krieges zerschlagen wurde. Spätestens mit Ausrufung der Teilmobilmachung in Russland vom 21. September 2022 ist dies auch für weite Teile der russischen Gesellschaft ganz offensichtlich geworden.
Die relative Aussichtslosigkeit, den Krieg konventionell-militärisch entscheiden zu können, bedeutet auch, dass Russland gerade aus diesem Grund versucht sein könnte, verstärkt auf andere Domänen und Vektoren hybrider Kriegführung zu setzen. Die gegenwärtig verstärkten russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, insbesondere die Strom-, Energie- und Wasserversorgung aber auch die Kommunikationsinfrastruktur sind als Versuch zu sehen, in Verbindung mit »General Winter« die ukrainische Gesellschaft – wie auch den europäischen Teil des Westens – durch Stromausfall, Hunger und Kälte unter Druck zu setzen und ihre politischen Führungen zu erpressen. Der militärische Mitteleinsatz zur Verwüstung ziviler Infrastruktur strebt dabei nicht nach einer militärischen Entscheidung im Kampf mit den ukrainischen Streitkräften, sondern zielt auf eine politisch-gesellschaftliche Gesamtentscheidung.
Jüngste Entwicklungen zeigen, dass Russland die konventionell-militärischen Erfolge der Ukraine durch offensive Nutzung der Gesamtklaviatur hybrider Kriegführung zu kontern versucht. So verstärkt die russische Propaganda das Narrativ vom Kampf gegen den kollektiven Westen (bzw. die NATO), der Russland »zerstören« und »ausrauben« wolle und sich der »nuklearen Erpressung« bediene. Gleichzeitig werden in den sogenannten Volksrepubliken und den seit Februar 2022 neu besetzten Gebieten kurzfristig Scheinreferenden inszeniert, denen eine umgehende Annexion der Gebiete an Russland folgt. Fortgesetzte Versuche der Ukraine, ihr verlorenes Staatsgebiet zurückzuerobern, könnte Russland anschließend als Angriff auf die eigene territoriale Integrität werten, zu deren Verteidigung (dem Narrativ folgend) alle verfügbaren Mittel gerechtfertigt wären. Der eigene Angriff ließe sich so – zumindest für das heimische Publikum – in einen Verteidigungskrieg gegen eine äußere Bedrohung verwandeln. Gemäß diesem Narrativ ließen sich so aus russischer Sicht weitere Wellen der Teilmobilisierung, eine Generalmobilmachung, der Einsatz von Wehrpflichtigen, eine Verhängung des Kriegsrechts und im Extremfall auch der Einsatz von Nuklearwaffen begründen. Außerdem ließe sich so zumindest deklaratorisch der Übergang von einer (gescheiterten) Spezialoperation zu einem dauerhaften Verteidigungskrieg gegen eine, wenn auch nur inszenierte, äußere Bedrohung bewerkstelligen. Russland versucht daher, durch hybrides Operieren die Grenzen zwischen Angriff und Verteidigung zu verwischen und schafft damit gleichzeitig eine neue Grauzone für das eigene Vorgehen. Die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen stellt hierbei die Spitze der Eskalation dar. Dem hybriden Drehbuch seiner Krimoperation von 2014 folgend, scheint Russland die gemachten Eroberungen durch die abschreckende Wirkung der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen absichern zu wollen. Die deklaratorische Einbettung dieser Drohung in einen existenziellen Verteidigungskontext wie auch das öffentliche Bekenntnis der russischen Führung durch die Annexion der eroberten Gebiete sollen dieser entsprechend Nachdruck verleihen.
Was die internationale Dimension der Auseinandersetzung anbelangt, also die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, speziell den USAUnited States of America, so wird diese ohnehin hybrid fortgesetzt und simultan auf verschiedenen Domänen gleichzeitig ausgetragen: politisch und diplomatisch, wirtschaftlich und finanziell, technologisch, aber auch militärisch und informationell. Vieles geschieht indirekt u.a. über Sanktionen, aber auch durch die Unterstützung für die Ukraine in Form politisch-diplomatischer Rückendeckung, Wirtschafts- und Finanzhilfen, Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten, Waffenlieferungen, Ausbildungsunterstützung oder das Bereitstellen von Aufklärungsergebnissen. Die westliche Unterstützung verhindert so, dass die Ukraine durch Russland bereits auf nicht-militärischen Domänen hybrid geschlagen werden kann, und ermöglicht ihr damit die Fortsetzung ihres konventionell-militärischen Abwehrkampfes, ohne im größeren Umfang auf Methoden der Guerillakriegführung umstellen zu müssen. Die Sanktionierung Russlands heftet dem russischen Angriff ein Preisschild an und zielt gleichzeitig darauf ab, seine Fähigkeit zur Angriffskriegführung zu beeinträchtigen. Die Wirkung von Sanktionen ist jedoch eine sehr langfristige und indirekte. Eine Verhaltensänderung der russischen Führung im positiven Sinne ist daher kurzfristig kaum zu erwarten. Russland ist bereits seit 2014 mit westlichen Sanktionen belegt und hat seine Resilienz auf vielen Feldern entsprechend ausgebaut. Die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen, insbesondere im Energiebereich, wird zudem durch die Tatsache beeinträchtigt, dass ein Großteil der Welt diese nicht mitträgt. Die Nutzung von Energie, insbesondere Gas als Druckmittel, war bisher der stärkste hybride Handlungsvektor Russlands gegenüber Europa. Über diesen Vektor versuchte Russland, in einer Art domänenübergreifender Operation, durch Begrenzung der Liefermenge und das Schüren von Unsicherheit, bestehende Sanktionen aufzuweichen und gleichzeitig den Umfang westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine indirekt zu begrenzen. Durch westliche Resilienzbildungsmaßnahmen wurde diesem Druckmittel, wenn auch zu sehr hohen Eigenkosten, zumindest ein Teil seiner Schärfe genommen. Die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen ist ins Zentrum auch des internationalen Teils der Auseinandersetzung gerückt. Der Westen soll damit verunsichert und vor einer allzu weitgehenden Unterstützung der Ukraine abgeschreckt werden.
Als Fazit lässt sich festhalten: Ob wir wollen oder nicht, der Kampf um die Ukraine ist noch lange nicht zu Ende. Er wird uns auch als Nicht-Kriegsparteien weiterhin mit den unterschiedlichsten Facetten hybrider Kriegführung und deren Implikationen konfrontieren. Die Ausdehnung des Krieges auf der Zeitachse wie auch die relative Aussichtslosigkeit, dass Russland diesen konventionell-militärisch entscheiden kann, sind derzeit die Hauttriebfedern hybriden Operierens. Wir, das heißt der Westen, die USAUnited States of America, EU-Europa und auch Deutschland, sind daher gut beraten, uns mit dieser Form der Kriegführung intensiv auseinanderzusetzen und uns künftig besser darauf vorzubereiten, als dies am 24. Februar 2022 der Fall war.
DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-606
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