Die russische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine
Die russische Rechtfertigung des Krieges gegen die Ukraine
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Die russische Führung nutzt verschiedene Argumente, um den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. Sie richtet diese Argumente an zwei Zielgruppen aus: der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit. Welche Rechtfertigungen führt die russische Führung an und welche rhetorische Strategie verfolgt sie damit?
Ein Beitrag von Ina Kraft zu unserem Ukraine-Dossier.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 war diplomatisch, militärisch und rhetorisch wohl orchestriert. Bereits im Dezember 2021 hatte die russische Führung den USAUnited States of America und der NATO zwei Vertragsentwürfe vorgelegt, in denen sich die Großmacht und die Allianz verpflichten sollten, ihr militärisches und sicherheitspolitisches Engagement im östlichen NATO-Bündnisgebiet einzustellen. Dies bezog sich auf diejenigen Staaten, die während des Ost-West-Konflikts Teil der Sowjetunion oder Mitglied des Warschauer Pakts waren und nach 1997 der NATO beigetreten sind. Die russischen Forderungen waren dermaßen weitreichend, dass ernsthafte Verhandlungen nicht stattfanden. Die russische Führung argumentierte nach Ausbruch des Krieges jedoch, dass sie zumindest versucht habe, den Westen zu sicherheitspolitischen Zugeständnissen zu bewegen. Militärisch führte Russland in den Wochen vor dem Krieg zusammen mit Belarus eine Übung an der belarussisch-ukrainischen Grenze durch, die sich als russischer Truppenaufmarsch für die Invasion in die Ukraine entpuppte. Genauso sorgfältig geplant wie das diplomatische und militärische Vorgehen war die russische Kommunikation über den Krieg. Mit einer Fülle von Argumenten rechtfertigte Präsident Wladimir Putin in seinen Reden am 21. Februar, am 24. Februar und am 9. Mai gegenüber der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit den Angriffskrieg auf den Nachbarstaat.
Vier Rechtfertigungen für den Krieg
Es lassen sich hauptsächlich vier unterschiedliche Argumentationslinien erkennen:
- Die NATO habe Russland eingekreist.
- Historisch gesehen seien Russland und die Ukraine eins, die Ukraine wäre daher nie ein eigener Staat gewesen.
- Die russischstämmige Bevölkerung müsse vor einem mordenden ukrainischen Nazi-Regime gerettet werden.
- Der Angriff sei ein Präventivschlag gegen einen von den USAUnited States of America unterstützten ukrainischen Angriff auf Russland.
Die NATO-Osterweiterung hat nach russischer Argumentation die Sicherheit Russlands verletzt: Demnach ist die äußere Sicherheit Russlands in Gefahr, da Staaten, die Russland in seiner geopolitischen Einflusszone sieht, der NATO beigetreten sind. Dabei handelt es sich um Staaten wie Lettland, Estland oder Litauen, die vor 1990 Teil der Sowjetunion waren, sowie um Staaten wie Polen, die zu Zeiten des Ost-West-Konflikts Mitglieder des von der Sowjetunion angeführten Warschauer Paktes waren. Das ist aus russischer Sicht problematisch, da die NATO historisch gesehen der Antagonist des Warschauer Paktes war und die NATO-Führungsmacht USAUnited States of America als weltpolitischer Gegenspieler der Sowjetunion galt. Die Ausdehnung der NATO nach Osten hat aus russischer Sicht zu einem militärischen Fähigkeitenaufwuchs des westlichen Bündnisses geführt, da es jetzt leichter militärische Infrastruktur an die russische Grenze verlegen kann. (NATO-Osterweiterung)
Im Jahr 2008 wurde auch den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Ukraine die Aufnahme in die NATO angeboten. Bis heute allerdings hat sich aus dem Angebot kein konkreter Beitrittsfahrplan entwickelt.
Russland hat die NATO-Erweiterungen viele Jahre hingenommen. Seit dem Beitrittsangebot an die Ukraine und Georgien 2008 wurde die russische Kritik an dem Heranrücken des NATO-Bündnisses an die eigenen Grenzen jedoch schärfer. (Who lost Russia?) Den NATO-Beitrittswunsch der Ukraine nutzte die russische Führung im Februar 2022 als rhetorische Klammer: Sie verband das Argument der Verletzung eigener Sicherheitsinteressen durch die bisherige NATO-Osterweiterung mit dem militärischen Vorgehen Russlands in der Ukraine. Obwohl ein NATO-Beitritt der Ukraine in naher Zukunft nicht absehbar war, bezeichnete Putin ihn in seiner Rede vom 21. Februar 2022 als eine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit Russlands.
Wladimir Putin postuliert eine historisch-kulturelle Verbindung zwischen der Ukraine, Belarus und Russland. Demnach existiere keine eigenständige ukrainische, sondern lediglich eine gemeinsame russische Nation. Somit könne die Ukraine auch keine Staatlichkeit besitzen. Der Krieg sei damit zu rechtfertigen, dass das gesamtrussische Volk vor einer Spaltung geschützt werden müsse. (Die Ukraine im 20. Jahrhundert)
Das dritte Argument überführt die eher abstrakte kulturelle Bedrohung durch eine Spaltung des russischen Volkes in eine klassisch sicherheitspolitische Rechtfertigung für den Einsatz von Gewalt. Putin argumentiert, dass Gefahr im Verzug sei: Das ukrainische Regime sei faschistisch und begehe einen Genozid an der russischstämmigen Bevölkerung in der Region Donbas/Donbass. Deshalb sei ein sofortiges militärisches Eingreifen Russlands zum Schutz dieser Menschen notwendig. Dieses Argument ist vor allem an die russische Öffentlichkeit gerichtet, die den Krieg unterstützen soll. Hohe Zustimmungswerte für den Krieg in der russischen Bevölkerung bezeugen den Erfolg dieses Narratives. Das Argument ist jedoch auch anschlussfähig an eine häufig diskutierte Frage der internationalen Politik, ob der Einsatz militärischer Gewalt zum Zwecke der Beendigung oder Verhinderung eines Völkermordes erlaubt oder gar erforderlich ist.
Mit einer Rede am 9. Mai 2022 wandte Putin sich anlässlich des »Tags des Sieges« über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg erneut an die Öffentlichkeit. An diesem Tag findet traditionell eine große Militärparade in Moskau statt. Putin nutzte seine Ansprache, um eine weitere Rechtfertigung für den Krieg in der Ukraine einzuführen. Demnach habe Russland die Ukraine in präventiver Selbstverteidigung angegriffen, da die NATO militärisch an den Grenzen Russlands eine aktive militärische Aufrüstung betrieben habe und eine militärische Invasion im Donbas einschließlich der Krym/Krim offen im Entstehen gewesen sei.
Mit dieser rückwirkenden Darstellung des russischen Angriffs als Präventivkrieg spitzt Putin das Argument der verletzten russischen Sicherheitsinteressen zu. Bereits zuvor hatte die russische Führung verlautbart, die Ukraine entwickele Massenvernichtungswaffen, um sie gegen Russland einzusetzen. Die russische Führung entwirft also das Bild einer akuten Bedrohung durch die NATO und die Ukraine, die Russland zwinge, mit drastischen Maßnahmen zu reagieren.
Das Argument der präventiven Verteidigung, um einem Angriff zuvorzukommen, wurde in der jüngeren Vergangenheit bereits durch andere Staaten genutzt. Im Jahr 2003 rechtfertigten die USAUnited States of America und Großbritannien ihren umstrittenen Angriff auf den Irak damit, dass der Irak plane, die USAUnited States of America mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen. Das russische Präventivkriegsargument ist somit anschlussfähig an eine Debatte, die in der Öffentlichkeit westlicher Staaten, aber auch im Völkerrecht zu diesem Thema geführt wurde.
Beobachtungen zur russischen Rhetorik
Aus westlicher Perspektive erscheint jeder der vier Rechtfertigungsversuche der russischen Führung zunächst schrill. Bei näherer Betrachtung fallen weitere Besonderheiten auf. Die Rechtfertigungen sind auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnitten. Durch das Weglassen von Fakten weisen sie einen manipulativen Charakter auf.
Die russische Führung hat von Beginn an verschiedene Narrative für verschiedene Empfängergruppen kommuniziert. Die scheinbare Willkür, mit der Begründungen konstruiert werden, und die Schockwirkung, auf die die russische Führung durch Nazi-Genozid-Vergleiche offensichtlich spekuliert, deuten darauf hin, dass zwei Zielgruppen im Vordergrund stehen: die eigene Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit. Der russischen Führung dürfte es zum einen darum gehen, die Unterstützung der eigenen Bevölkerung für diesen Krieg zu gewinnen und aufrechtzuerhalten. Die Außerordentlichkeit des Nazi-Regime-Genozid-Arguments rührt an eine existenzielle Zeit der russischen Geschichte, als die Sowjetunion durch das nationalsozialistische Deutschland angegriffen wurde und 24 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger ihr Leben verloren. Zudem lässt die Pauschalisierung der ukrainischen Führung als Faschisten eine abgewogene und reflektierte Auseinandersetzung mit ihrer Politik sinnlos erscheinen, denn Faschisten sind das personifizierte Böse. Und von diesem Bösen befreit das russische Militär seit dem 24. Februar 2022 die ukrainische Bevölkerung.
Daneben steht die ausländische Öffentlichkeit. Diese soll über die russischen Kriegsgründe zumindest debattieren. Denkbar ist aber auch, dass Russland darüber hinaus in den westlichen Staaten Zweifel sähen und Unruhe schüren will, sodass eine gemeinsame und starke Reaktion der NATO-Staaten auf den russischen Angriff aufgrund fehlender innenpolitischer Zustimmung erschwert wird.
Einseitige Argumentation und unbelegte Behauptungen
Das von Putin gezeichnete Geschichtsbild ist instrumentell, da es nur bestimmte historische Tatbestände einbezieht, andere jedoch auslässt. Die heutigen unabhängigen Nationen Russland und Ukraine waren tatsächlich phasenweise Teile einheitlicher Staatsgebilde. Sie sind sich sprachlich und kulturell ähnlich, jedoch nicht identisch. Das Geschichtsbild klammert Zeiten der staatlichen Unabhängigkeit ebenso aus wie die bestehenden kulturellen und sprachlichen Unterschiede. Innenpolitische Entwicklungen in den Jahren seit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 sowie außenpolitische Orientierungen wie die selbstbestimmte Annäherung des Staates an EU und NATO werden ausgeblendet. In seiner Instrumentalität ist das russische Geschichtsbild manipulativ. Es dient nicht dem Zweck, die Vergangenheit zu verstehen, sondern die aktuelle außenpolitische Haltung Russlands gegenüber der Ukraine historisch zu rechtfertigen.
Auch das Präventivkriegsargument und die Behauptung eines Genozids sind manipulativ. Russland hat weder nachprüfbare Beweise für einen geplanten oder begangenen Völkermord der Ukraine an der russischstämmigen Bevölkerung im Donbas noch für einen bevorstehenden Angriffskrieg durch die NATO vorgebracht. Das Präventivkriegsargument bemühte Putin zudem zeitversetzt erst etwa zehn Wochen nach dem Angriff Russlands, was Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit sät.
Das lässt vermuten, dass sowohl das Völkermord- als auch das Präventivkriegsargument von russischer Seite strategisch eingesetzt werden, da sie anschlussfähig an durchaus kritische westliche sicherheitspolitische Diskurse der jüngeren Vergangenheit sind. Bereits erwähnt wurde die USUnited States-amerikanisch geführte Invasion in den Irak. Neben der großen öffentlichen Debatte um die Invasion entwickelte sich auch eine völkerrechtliche Fachdebatte um die Legitimität von präventiven Angriffen zur Verteidigung. Eine andere Völkerrechtsdebatte hat die Frage der Legitimität und Gebotenheit von militärischen Interventionen zur Beendigung oder Verhinderung von Völkermorden ausgelöst. Sie ist in den 2000er Jahren unter dem Stichwort der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect/R2P) geführt worden. Anlässe dafür waren die Völkermorde in Ruanda (1994) und in Bosnien (1995) und die westliche Intervention im Kosovo (1999). 2011 wurde erstmals ein Militäreinsatz gegen einen souveränen Staat mit der Schutzverantwortung begründet, als ein Bündnis westlicher Staaten in Libyen (2011) intervenierte.
Beide Themen, die militärische Intervention zur Verhinderung oder Beendigung eines Völkermords sowie die präventive Abwehr eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs, sind völkerrechtlich wie ethisch hochkomplex. Universelle Werte wie die Menschenrechte stehen hier scheinbar in Konkurrenz zu völkerrechtlichen Normen wie Souveränität und Gewaltverbot, die wiederum zusätzlich miteinander im Widerstreit stehen.
Putin spielt mit der Komplexität dieser Themen: Er vereinfacht sie, nutzt sie als Schlagworte, ohne sie ernsthaft zu begründen. Und er kann darauf hoffen, dass seine Nutzung vormals westlicher Begründungslogiken für militärische Interventionen den westlichen Widerspruch gegen den russischen Angriffskrieg schwächt und unglaubwürdig macht. Putin hat meisterhaft verstanden: Die westlichen Staaten können Russland den Bruch des Völkerrechts und besonders des Gewaltverbots nur schwer vorwerfen, wenn sie selbst in der Vergangenheit das Verbot übertreten haben.
So findet sich der Westen rhetorisch in der Defensive und muss erklären, warum die eigene, nicht jedoch die russische Verletzung des internationalen Gewaltverbots legitim war. Das Vorbringen vormals westlicher Rechtfertigungen für Handlungen, die erwartbar vom Westen zurückgewiesen werden, kann durchaus als Verspottung eines westlichen Universalitätsanspruchs interpretiert werden.
Das Fortschreiten des Krieges und der in seinem Rahmen vermuteten Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Zivilbevölkerung lässt das Völkermord-Argument Russlands besonders perfide erscheinen. Mit einem vermeintlichen Genozid an den russischstämmigen Ukrainern rechtfertigt Russland eigene Verstöße gegen das Völkerrecht.
Anders als die Rhetorik der russischen Führung glauben machen will, ist ein wesentliches Motiv für den Angriffskrieg der Erhalt des autokratischen Regimes von Putin und der von ihm protegierten Eliten. Für diese Eliten wäre eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine keine sicherheitspolitische Bedrohung. Als NATO- oder EU-Mitglied hätte die Ukraine jedoch zu einem Fenster werden können, durch das die russische Bevölkerung einen Blick in eine eigene mögliche Zukunft hätte werfen können – eine Zukunft, in der sie ähnliche Freiheitsrechte wie bei ihren nächsten Nachbarn einfordert. Die russischen Eliten begegnen der Sorge vor einer russischen Zivilgesellschaft, die nach Freiheit strebt, mit der Zerstörung des Nachbarstaates, in der eben jene Zivilgesellschaft ihre Freiheitsrechte erfolgreich eingefordert hat.
Regimeerhalt wird bei der Rechtfertigung des Krieges nicht offen kommuniziert, was kaum überrascht. In Russland wird Europa jedoch ausdauernd als verderbt dargestellt, der Demokratie öffentlich abgeschworen und der Autoritarismus zur Tugend erklärt. Bedroht fühlen sich die russischen Eliten also weniger durch Waffen und Bündnisse als durch westliche Werte, Toleranz und Freiheitsrechte.
Schlussbetrachtungen
Das russische Narrativ, das nicht nur an die eigene Bevölkerung, sondern auch an die Weltöffentlichkeit gerichtet ist, verfing teilweise auch in der westlichen Öffentlichkeit. Das zeigen die Debatten, die in den NATO-Staaten über den russischen Einmarsch geführt worden sind. Westliche Versuche, den russischen Angriff auf die Ukraine zu interpretieren, beinhalteten zwar auch andere Erklärungen, etwa die psychische Konstitution Putins, oder innenpolitische Motive, so den Regimeerhalt. Westliche Medien und verschiedene politische Lager diskutierten jedoch auch ausgiebig über die vermeintliche westliche (Mit-)Schuld und Scheinheiligkeit westlicher Kritik am russischen Angriffskrieg. So wurde in den westlichen Debattenräumen der russische Krieg in der Ukraine in Bezug zu den völkerrechtlich und moralisch umstrittenen Militäreinsätzen der westlichen Staaten in Afghanistan, Irak, Jugoslawien, Serbien, Libyen und Mali gesetzt. Zudem wurde die NATO-Osterweiterung als Verletzung russischer Interessen ernsthaft auch im Westen als Kriegsgrund angeführt.
Die Verurteilung des russischen Angriffskrieges als völkerrechtswidrigen Akt wurde in westlichen Debatten mit dem Argument gerahmt, der Westen habe eben auch Völkerrechtsbrüche begangen. Dieses Aufzeigen vermeintlicher Doppelstandards mit dem Ziel der Delegitimierung eines Arguments ist ein Fall von Whataboutism. Unter dem Begriff wird eine rhetorische Strategie verstanden, die durch Widerspruch mediale Aufmerksamkeit erreichen will und durch das Demonstrieren vermeintlicher Doppelstandards den moralischen Standpunkt des Gegners in Frage stellt. Dass dieses rhetorische Mittel ausgerechnet im westlichen Diskurs über die Frage der Rechtswidrigkeit des Angriffs auf die Ukraine zutage tritt, ist umso bemerkenswerter, da Russland seit Jahren selbst die „Doppelstandards“ europäischer Außen- und Sicherheitspolitik immer wieder thematisiert. Damit hat die zunächst arbiträr erscheinende Melange der durch Putin vorgebrachten Begründungen für den Krieg teilweise auch Erfolg gehabt.
Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass in den westlichen Demokratien der Kosovokrieg, der Irakkrieg und die militärischen Operationen in Libyen, um einige Beispiele zu nennen, bereits seit Jahren kritisch diskutiert worden sind. Die russische Führung hat die Kritik daher nicht originär gesetzt. Es ist ihr jedoch im Zuge des russischen Angriffs gelungen, die Kritik in den westlichen Mainstream einfließen zu lassen. Zugleich hat dies Auswirkungen auf die angestammte demokratische Diskursstruktur, denn die russische Führung nutzt die im westlichen sicherheitspolitischen Diskurs innewohnende Selbstkritik und verstärkt diese. Kritische Debattenbeiträge zu Fragen der NATO-Osterweiterung könnten so unter den Verdacht geraten, das Resultat erfolgreicher russischer Propaganda zu sein.
Dass die russische Führung die eigene Rechtfertigung für den Krieg teilweise stark an westlichen sicherheitspolitischen Debatten ausrichtet, ist im Übrigen nicht nur Ausweis einer instrumentellen außenpolitischen Rhetorik. Es zeigt zugleich, dass sie in weiten Teilen den westlichen Diskurs benötigt, um sich vom Westen abzugrenzen und ihr Handeln zu rechtfertigen.
Ein konstruktiver Umgang mit den Behauptungen der russischen Führung seitens der westlichen Politik ist herausfordernd, da auch sie ihr Handeln vor verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen legitimieren muss. Es ist daher wichtig aufzuzeigen, dass die russische Argumentation bestimmte Ziele verfolgt, darunter die Spaltung der westlichen Gesellschaften bei der Bewertung des Krieges und dem Erarbeiten einer angemessenen Reaktion.
Es ist ebenso wichtig, die Strategie des Whataboutism zu durchbrechen. Denn selbst wenn das Handeln westlicher Staaten russische Sicherheitsinteressen berührt, so ist dies kein Tatbestand, der den Angriff auf einen Nachbarstaat rechtfertigen kann. Die eigene Botschaft sollte daher immer und immer wieder lauten: Nichts rechtfertigt diesen Krieg, er muss unverzüglich beendet werden.
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DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-590
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