Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung
Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung
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Hatte die europäische Sicherheitsordnung bereits in den späten 1990er Jahren Risse bekommen, so beschleunigte sich ihr Ende seit der Jahrtausendwende. Der russische Präsident Wladimir Putin hat daran maßgeblichen Anteil, trägt aber keine Alleinschuld.
Trotz zunehmender Spannungen zwischen Russland und dem Westen wurde 1999 beim OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Gipfel in Istanbul ein Anpassungsabkommen zum Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa unterzeichnet (AKSE). Damit sollte dieser noch auf der überkommenen Blockstruktur des Kalten Krieges basierende Eckstein konventioneller Stabilität der neuen geopolitischen Lage angepasst werden, wie in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 vorgesehen. Diese Aktualisierung wurde 2004 von Russland ratifiziert, nicht aber von allen NATO-Staaten. Vor allem die USAUnited States of America wollten so den Abzug russischer Truppen aus Moldawien und Georgien erzwingen, wo diese in den separatistischen Regionalkonflikten (Transnistrien, Abchasien beziehungsweise Südossetien) als Friedentruppe firmierten, faktisch aber Konfliktpartei aufseiten der (pro-)russischen Minderheiten waren. Von partnerschaftlichem Respekt zeugte dies kaum.
Uni- oder multipolare Weltordnung?
1999 griff die NATO in den Kosovokrieg ein, um durch die Bombardierung Serbiens einen weiteren Völkermord wie zuvor in Bosnien-Herzegowina zu verhindern. In Russland löste das Empörung aus. Bis heute benutzt die Kreml-Propaganda dieses Beispiel als Beleg für eine heuchlerisch-opportunistische Doppelmoral des Westens: Da es für den NATO-Einsatz kein VN-Mandat gegeben habe, sei er ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg zugunsten einer Separatistenbewegung gewesen, deren Anführer später selbst wegen Kriegsverbrechen vor Gericht standen. Kosovos Anerkennung als eigener Staat 2008 widerspreche zudem eklatant dem OSZEOrganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa-Prinzip, dass staatliche Grenzen nicht durch Gewaltanwendung verändert werden dürfen. Ganz von der Hand weisen lassen sich diese Deutungen trotz ihrer parteiischen Verzerrung und Überzeichnung nicht.
Im Jahr 2000 beerbte Wladimir Putin Boris Jelzin im russischen Präsidentenamt. Sein Ziel war, im Innern staatliche Kontrolle und international Moskaus frühere Größe wiederherzustellen. Dies kollidierte zwangsläufig mit Ambitionen der amerikanischen Regierung unter George W. Bush, als »einzig verbliebene Supermacht« eine »unipolare Weltordnung« zu organisieren. Nach den islamistischen Terroranschlägen von »9/11« unterstützte Russland noch solidarisch den Anti-Terror-Einsatz des Westens in Afghanistan. Das änderte sich, als sich die NATO-Präsenz am Hindukusch verstetigte. Den 2003 von der Bush-Administration mutwillig, sogar mit falschen Angaben im VN-Sicherheitsrat herbeigeführten Irak-Krieg zum Sturz des Diktators Saddam Hussein lehnten dann nicht nur Moskau, sondern auch Berlin und Paris ab.
Putins Russland suchte zunehmend den Schulterschluss mit anderen Mächten, die anstelle globaler USUnited States-Hegemonie eine multipolare Weltordnung einforderten. Diesem Ziel diente 2001 die Gründung der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), der mit Russland, China, Indien, Pakistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan immerhin 40 Prozent der Weltbevölkerung angehören; 2006 kam es zum BRICS-Zusammenschluss (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), deren erster Gipfel 2009 in Jekaterinburg stattfand; und auch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, 2002) verfolgte besagtes Ziel.
Erosion der Abrüstungsverträge
Zeitgleich begann der Zerfall des internationalen Rüstungskontrollregimes, auf dem die Friedensarchitektur von 1990 beruhte. Vertragskonform endeten 2001 (siehe Friedensordnung von 1990), zehn Jahre nach der Vernichtung aller amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen, die letzten durch den INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag geregelten Inspektionen. Im selben Jahr kündigte die Bush-Administration jedoch auch den ABM-Vertrag von 1972. Das Verbot von Anti-Ballistic Missiles war ein Grundstein aller bisherigen nuklearen Abrüstungsverträge gewesen, garantierte der beidseitige Verzicht auf eine Raketenabwehr doch den zentralen Grundsatz der nuklearen Abschreckung: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Der Verzicht auf Raketenabwehrmaßnahmen garantierte seither genau diesen friedenswahrenden Erhalt der wechselseitigen atomaren Zweitschlagskapazität. (siehe Konzept der Abschreckung)
Angesichts der Nuklearwaffenambitionen Nordkoreas und des Iran hielt Washington indes den vorbeugenden Aufbau eines Schutzschildes gegen deren künftige Raketen für geboten. Ohne ABM-Vertrag konnte ein entsprechendes Abwehrsystem in Europa stationiert werden. Russland hegte allerdings den Verdacht, eigentlicher Adressat dieser USUnited States-Pläne seien weniger die beiden genannten Länder, denen solch weitreichende Raketen fehlten, als vielmehr man selbst. Analog zu Präsident Ronald Reagans Plänen einer Strategic Defense Initiative (SDI) in den 1980er Jahren fürchtete Moskau, sein Raketenarsenal solle durch den Verlust der Zweitschlagskapazität einseitig entwertet werden – was das Land künftig wehrlos gegen westliche Pressionen machen würde.
Auf das Ende des ABM-Vertrags antwortete Russland 2002 mit dem Rückzug aus dem STARTStrategic Arms Reduction Treaty-II-Vertrag. Das fiel zunächst wenig ins Gewicht, da Bush und Putin unmittelbar zuvor einen weiteren nuklearen Abrüstungsvertrag unterzeichnet hatten. Dieser Strategic Offensive Reductions Treaty (SORT) stellte erstmals statt auf Trägersysteme auf aktive Nuklearsprengköpfe ab, die auf maximal 2200 pro Seite begrenzt wurden. Abgebaute Gefechtsköpfe mussten nur stillgelegt, nicht vernichtet werden – und blieben damit reaktivierbar. Zudem fehlte ein Verifikationsregime, obwohl genau dies das Schlüsselelement jeder Abrüstungsvereinbarung ist.
Verhärtung der Fronten
2004 erfolgte die zweite Runde der NATO-Osterweiterung: Durch den Beitritt Bulgariens, Rumäniens, Sloweniens, der Slowakei und der drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen rückte die NATO weiter an Russland heran. Das wog aus Sicht der Moskauer Führung, die die Allianz inzwischen (wieder) primär als Hegemonialinstrument der USAUnited States of America betrachtete, weit schwerer als die NATO-Beitritte auf dem Balkan (2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmazedonien).
Wie sehr sich die Fronten verhärtet hatten, wurde 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich: Dort klagte der russische Präsident den Westen an, Völkerrechtsnormen machiavellistisch zu instrumentalisieren, Abrüstungsvereinbarungen schleifen zu lassen und mit der NATO-Osterweiterung frühere Versprechen gebrochen zu haben. Ungeachtet dieses Warnschusses schritten die Pläne für ein Raketenabwehrsystem und damit eine ständige USUnited States-Militärpräsenz in Rumänien und Bulgarien voran. Daraufhin setzte Russland 2007 den KSEKonventionelle Streitkräfte in Europa-Vertrag aus. So brach ein weiterer Grundpfeiler der Abrüstungsarchitektur weg.
Um die unübersehbare Entfremdung Russlands nicht auf die Spitze zu treiben, blockierten Frankreich und Deutschland beim Bukarester NATO-Gipfel im April 2008 die von der Bush-Administration forcierte Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO – ein folgeschwerer Schritt, über dessen Bewertung angesichts der weiteren Entwicklungen noch lange gestritten werden wird. Denn wäre die Ukraine damals der NATO beigetreten, hätte Putin sie heute vielleicht nicht überfallen. Da damit in Russlands Sicherheitsbedürfnis eine »rote Linie« überschritten worden wäre, hätte andererseits dies schon damals zum Rückfall in eine Konfrontation geführt, für die der Westen verantwortlich gemacht worden wäre. Und in der Ukraine selbst, die politisch, konfessionell und kulturell lange in eine stärker west- und eine stärker russlandorientierte Landeshälfte zerfiel, wäre eine NATO-Mitgliedschaft damals ohne klare Mehrheit geblieben.
Moskaus Autoritarismus und Furcht vor regime change
Nicht nur außenpolitisch ging der Kreml immer mehr auf Distanz zum Westen. Auch innenpolitisch verabschiedete sich Putin mit einem zunehmend autokratischen Kurs vom westlichen Wertesystem. Sukzessive wurden in Russland praktisch alle Bereiche von Politik, Wirtschaft, Justiz und Zivilgesellschaft einer zentralen staatlichen Kontrolle unterworfen. Immer stärker wurden Wahlen manipuliert und die Pressefreiheit eingeschränkt. Im zweiten Tschetschenienkrieg (1999‑2009) ging die Armee brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. Zur Abschreckung wurde 2003 der mächtige Oligarch Michail Chodorkowski in einem Schauprozess zu einer mehrjährigen (Lager-)Haft verurteilt. Reihenweise starben tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner eines gewaltsamen Todes: 2006 die Journalistin Ana Politkowskaja und der abtrünnige Ex-Agent Alexander Litwinenko (in London spektakulär vergiftet mit radioaktivem Polonium), 2015 der Reformpolitiker Boris Nemzow oder 2019, mitten in Berlin von einem russischen Auftragskiller erschossen, ein feindlicher Tschetschenienkämpfer. Eher zufällig überlebten 2018 der Doppelagent Sergej Skripal und 2020 der Dissident Alexej Nawalny Anschläge mit – vertraglich verbotenen – chemischen Kampfstoffen.
Da die Verfassung eine dritte Amtszeit in Folge ausschloss, inszenierte Putin einen Ämtertausch mit einem Gefolgsmann. Ab 2008 fungierte Dimitri Medwedjew im Präsidialamt als Platzhalter des als Ministerpräsident zwischengeparkten Putin, bis dieser selbst 2012 dorthin zurückkehrte, ohne die Macht je aus der Hand gegeben zu haben. Sowenig dieses Intermezzo innenpolitisch zu echter Liberalisierung führte, so wenig fruchtete außenpolitisch das Bestreben der USAUnited States of America unter Präsident Barack Obama um ein besseres Verhältnis (»reset#en«) zu Russland, auch wenn 2010 das New-STARTStrategic Arms Reduction Treaty-Abkommen immerhin zu einer weiteren Reduzierung der beidseitigen Nukleararsenale führte.
Misstrauen gegen den Westen dominierte längst wieder in Russland. Mit Argusaugen verfolgte der Kreml, wie 2003 in Georgien (»Rosenrevolution«) und 2005 in der Ukraine (»Orangene Revolution«) prowestliche Kräfte moskauorientierte Machthaber mittels Protestbewegungen vertrieben. Hinter diesen stark durch die neuen Medien und soziale Netzwerke befeuerten »Farbrevolutionen« machte das von paranoider Verschwörungsfurcht getriebene Regime des einstigen KGB-Offiziers Putin nur eine Fortführung der amerikanischen Politik des regime change aus. Demnach wurde nun sogar in Moskaus ureigenster Einflusszone inszeniert, was 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak und 2011 in Libyen mit Gaddafis Sturz begonnen worden war.
Interventionen im russischen »Hinterhof«
Durchdrungen von einem neoimperialen Sendungsbewusstsein, das aus der Historie einen legitimen Anspruch Russlands auf »Größe« ableitete, und gestärkt durch sprudelnde Erdgas- sowie Erdöleinnahmen, begann Russland, die primär auf westlichen Regeln basierende internationale Ordnung in Frage zu stellen. Als Georgien im August 2008 eine Offensive gegen Separatisten begann, griff Russland militärisch ein und warf die georgischen Streitkräfte nach fünf Tagen Krieg aus Südossetien und Abchasien. Beide abtrünnige Regionen erkannte Moskau nun als eigenständige Staaten an, während dies international als Verletzung der georgischen Souveränität gewertet wurde.
Noch dramatischer verlief die Entwicklung in der Ukraine. Mit dem slawischen Nachbarn fühlte sich Russland historisch, kulturell und sprachlich aufs Engste verbunden, sodass die russische Schwarzmeerflotte auch nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion stets auf der Halbinsel Krym/Krim stationiert blieb. Die bisherige Pendelpolitik der Ukraine zwischen Russland und dem Westen kam an ihr Ende, als der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch im November 2013 überraschend die Unterschrift unter das fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union verweigerte. Die daraufhin entstandene mehrmonatige Protestbewegung (»Euromaidan«) trieb Janukowitsch nach blutiger Eskalation Mitte Februar 2014 außer Landes, obwohl am Vortag unter deutsch-französisch-polnischer Vermittlung ein Abkommen für eine Übergangsregierung und Neuwahlen erreicht worden waren. Im stärker orthodoxen, russischsprachigen Osten des Landes und auf der Krym stieß dies auf Widerspruch. Ende des Monats tauchten auf der Halbinsel Soldaten ohne Hoheitszeichen auf (»grüne Männchen«), die sich als russische Truppen entpuppten. Unter deren Gewehrläufen und ohne internationale Wahlbeobachter fand am 16. März 2014 ein Referendum über den künftigen Status der Krym statt. Eine große Mehrheit plädierte für den Beitritt zu Russland – das diesem Votum prompt entsprach (siehe Konfliktraum Krim und Ukraine im 20. Jahrhundert).
Auch im Donbas/Donbass sagten sich östliche Landesteile der Ukraine von der Regierung in Kyjiw/Kiew unter dem neu gewählten Präsidenten Petro Poroschenko los. Mithilfe des russischen Militärs trotzten die selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk/Lugansk allen Rückeroberungsversuchen der ukrainischen Zentralregierung. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten François Hollande vermittelten »Minsker Abkommen«, die im September 2014 und Februar 2015 einen Sonderstatus der Gebiete und besondere Schutzrechte für die russischsprachige Bevölkerung vorsahen, blieben Makulatur; der im Westen weitgehend unbeachtete Krieg im Donbas kostete seither über 10 000 Menschenleben.
2014 – die wahre »Zeitenwende«
Mit Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krym und seiner unverhohlenen Unterstützung der Donbas-Rebellen markierte bereits das Jahr 2014 die eigentliche Zäsur im internationalen System: Mit dem Übergang zu einer offenen Aggressionspolitik brach Russland ungezählte völkerrechtliche Verträge und Übereinkommen zur Gewaltfreiheit. (siehe Völkerrecht)
In Ost-, Mittel- und Nordeuropa wurde die brutale neue Realität klar erkannt; sogar das neutrale Schweden führte 2017 daher die Wehrpflicht wieder ein. Der »alte Westen« hingegen verschloss davor die Augen in einer Mischung aus Selbsttäuschung, Arroganz und Naivität. In Deutschland wurde die Pipeline North Stream 2, welche die Ukraine, Polen und das Baltikum bei Energielieferungen aus Russland bewusst umging, unbekümmert vorangetrieben und die ohnehin gefährlich große Energieabhängigkeit von Russland verstärkt. Auch die Obama-Administration zeigte sich wenig interessiert und überließ Deutschland und Frankreich die Mediationsbemühungen im Ukraine-Konflikt (»Normandie-Format«).
So fiel die Reaktion auf die Aggression in der Ukraine insgesamt zurückhaltend aus: Russland wurde aus der G8-Gruppe verbannt und es wurden Wirtschaftssanktionen gegen das Land verhängt. Die NATO begann, die Landes- und Bündnisverteidigung wieder zu entdecken, die nach 1990 zugunsten von Auslandseinsätzen und dem Kampf gegen den globalen Terrorismus verkümmert war. (siehe Landes- und Bündnisverteidigung) Der NATO-Gipfel in Wales bekräftigte 2014 das Zwei-Prozent-Ziel und leitete eine verstärkte Militärpräsenz an der Ostflanke ein, insbesondere im exponierten Baltikum. Selbst jetzt blieb die Allianz bemüht, russischen Befindlichkeiten dabei Rechnung zu tragen. Gemäß der Zusage in der NATO-Russland-Grundakte, keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedsstaaten zu stationieren, blieb die Gesamtzahl der 2016 beschlossenen Enhanced Forward Presence auf unter 5000 Soldaten beschränkt, die zudem halbjährlich rotierten. Das zugleich entschlossen wie beschwichtigend gemeinte Signal verfehlte im Kreml jede Wirkung.
Wie eine Antwort auf Obamas abschätzige Bemerkung, Russland sei bestenfalls »eine Regionalmacht«, wirkte 2015 Moskaus militärisches Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg. Russlands skrupellose Kriegshilfe rettete Diktator Baschar al-Assad und demonstrierte machtvoll die Rückkehr des Landes auf die weltpolitische Bühne. Russische Internet-Trolle und Hacker lancierten Cyberattacken in NATO-Staaten und beeinflussten mittels hybrider Kriegführung 2016 den Ausgang des Brexit-Referendums wie der amerikanischen Präsidentschaftswahlen.
Zerfall des Westens …
Der Sieg von Donald Trump muss dem Kreml wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein: Der Milliardär und politische Laie bewunderte autoritäre Führer wie Putin. Weit mehr als in Russland sah der neue USUnited States-Präsident in China und der wirtschaftlich konkurrierenden EU die Hauptgegner von »America First«. Der Westen begann, seinen Zusammenhalt zu verlieren: Die Europäische Union war geschwächt durch zähe Brexit-Verhandlungen und seit 2015 durch den Streit über Flüchtlinge und Migration. Transatlantische Handelskonflikte nahmen zu. Die USAUnited States of America waren tief gespalten durch den »Trumpismus« und zunehmend bizarre postkoloniale Identitätsdebatten. Neoisolationistisch und ohne Rücksicht auf Verbündete betrieb die Trump-Administration einen radikalen Abbau von Amerikas globalen Verpflichtungen. Das zeigte sich in Afghanistan, wo das im Februar 2020 mit den Taliban geschlossene »Doha-Abkommen« den überstürzten Abzug westlicher Truppen im Folgejahr Vorschub leistete. Da die europäischen Verbündeten, allen voran die Deutschen, es trotz jahrelanger Mahnungen weiterhin versäumten, den zugesagten Umfang für einen angemessenen eigenen Verteidigungsbeitrag zu leisten, erklärte der rein ökonomistisch denkende Trump die NATO für »obsolet«. Die seit jeher dominierende Führungsmacht des Bündnisses drohte zwischenzeitlich sogar mit einem Allianzaustritt. Insofern besaß die drastische Diagnose des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom November 2019, die NATO sei »hirntot«, durchaus Berechtigung.
... und der Abrüstungsverträge
Die verbliebene internationale Abrüstungsarchitektur zertrümmerte Trump in ähnlicher Weise. Schon die Obama-Administration hatte Russland seit 2014 vorgeworfen, den INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag zum Verbot nuklearer Mittelstreckenwaffen durch neue russische Marschflugkörper jenseits der vertraglich erlaubten 500 Kilometer Reichweite zu verletzen. Auch die russische Seite sprach von Vertragsbruch, da es den USAUnited States of America technisch ohne großen Aufwand möglich sei, bestimmte seegestützte Cruise Missiles von deren Raketenabwehrstationen in Rumänien und Bulgarien – und damit von im Vertrag verbotenen Festlandbasen – abzufeuern. Im Oktober 2018 verkündete USUnited States-Präsident Trump schließlich den Ausstieg der USAUnited States of America aus dem INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag. Seit August 2019 ist der erste wirkliche Abrüstungsvertrag des Kalten Krieges somit Geschichte.
Im November 2020 verließen die USAUnited States of America, im Februar 2021 dann Russland den Open-Skies-Vertrag von 1992, der zur Vertrauensbildung Aufklärungsflüge über Militäreinrichtungen erlaubt hatte. Das einst solide Abrüstungsregime, auf dem die Friedensordnung von 1990 beruhte, glich einem Trümmerfeld. Selbst das letzte nukleare Abrüstungsabkommen, New STARTStrategic Arms Reduction Treaty von 2010, drohte ohne Ersatz auszulaufen, da die Trump-Administration vergeblich auf einer Einbeziehung der Volksrepublik China in diesen amerikanisch-russischen Vertrag beharrte. In letzter Minute rettete die neue USUnited States-Administration unter Joe Biden den Vertrag durch eine Verlängerung um fünf Jahre. Mehr als ein kurzer Zeitgewinn ist dies nicht.
Die europäische Friedensordnung von 1990 war also schon in einem prekären Zustand, bevor Putin ihr mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 den Todesstoß versetzte. So ungewiss derzeit der Ausgang dieses Krieges ist, sicher ist, dass Putin sich eindeutig verkalkuliert hat. Bereits jetzt steht Russland – vielleicht nicht militärisch, aber rechtlich, moralisch, wirtschaftlich und politisch – auf der Verliererseite: Die einst befreundete Ukraine ist auf Jahrzehnte entfremdet. Die NATO, die EU, der Westen insgesamt ist geeint wie seit Jahren nicht mehr. Selbst die Deutschen sind aus ihren lethargischen sicherheitspolitischen Träumen erwacht. Sie wollen die jahrzehntelange Unterfinanzierung der Bundeswehr stoppen und erkennen, dass Sicherheit und Freiheit einen Preis haben. Statt den Westen vorzuführen und weiter zu schwächen, hat Putin das Gegenteil bewirkt: Eine erstarkte NATO rückt nun erst recht näher an Russlands Grenzen.
Ein Dauerzustand darf diese Konfrontation, schon mit Blick auf das noch immer gewaltige gegenseitige atomare Vernichtungspotential, gleichwohl nicht werden. Eher früher als später werden beide Seiten, wie einst in den Hochphasen des Kalten Krieges, wieder miteinander Gespräche und Verhandlungen führen müssen. Unverzichtbar werden dabei zunächst militärische vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen sein, die von beiden Seiten engmaschig zu verifizieren sind. Nur so werden geschlagene Wunden mühsam heilen, nur so kann eine neue, alle Beteiligten befriedigende internationale Ordnung entstehen. Leicht und schnell verspieltes Vertrauen kann eben nur mühsam, kraft- und zeitaufwändig wieder aufgebaut werden.
Literaturtipps
Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991. München 2019.
Wolfgang Richter: Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld. (SWPStiftung Wissenschaft und Politik-Aktuell 2022/A 11). Berlin 2022.
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DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-584
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