Niedergang der internationalen Rechts- und Friedensordnung?
Niedergang der internationalen Rechts- und Friedensordnung?
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Am 24. Februar 2022 begann Russland die Invasion der Ukraine. Dieser fundamentale Bruch der völkerrechtlichen Ordnung führte zur Wahrnehmung einer Zeitenwende in Deutschland. Worauf beruht diese allgemein vertretene Auffassung?
Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Das 1945 in der Charta der Vereinten Nationen (VN) formulierte Gewaltverbot bildet seither einen Grundpfeiler der internationalen Rechts- und Friedensordnung.
Bis zum Ersten Weltkrieg (1914–18) stellte Krieg ein legitimes Mittel zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten dar. Nach der verheerenden Erfahrung dieses Krieges wurde im Jahr 1928 der nach dem französischen Außenminister Aristide Briand und dem amerikanischen Außenminister Frank Kellogg benannte Briand-Kellogg-Pakt geschlossen.
Mit diesem völkerrechtlichen Vertrag ächteten die Vertragsparteien erstmals Krieg als Mittel der Streitbelegung. Bis 1939 unterzeichneten über 63 Staaten den Pakt. Mit dem Zweiten Weltkrieg (1939–45) scheiterte der Versuch, eine neue internationale Friedensordnung aufzubauen.
Trotzdem blieben die zuvor abgeschlossenen Verträge relevant. Der Briand-Kellogg-Pakt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Grundlage für das Verbrechen gegen den Frieden, das in der strafrechtlichen Verfolgung in Deutschland und Japan angewendet wurde. Heute heißt es Verbrechen der Aggression.
Die internationale Friedensordnung seit 1945
Mit den Vereinten Nationen begann am 24. Oktober 1945 eine neue internationale Ordnung. Ihre Charta erweiterte den Briand-Kellogg-Pakt über die Ächtung des Krieges hinaus zu einem allgemeinen Gewaltverbot, das nicht nur die Anwendung, sondern bereits die Androhung von Gewalt verbietet.
Das Gewaltverbot ist das Ergebnis zweier Weltkriege, die eine unvorstellbare Zahl an Menschenleben gefordert und nur Trümmer hinterlassen haben. Das zentrale Ziel der Vereinten Nationen, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten, wird durch das Gewaltverbot als Grundsatz dieser neuen internationalen Ordnung konkretisiert. Es ist die Grenze zwischen Krieg als legitimem und illegitimem Mittel der Streitbeilegung zwischen Staaten und damit die Grundlage friedlicher Beziehungen.
… und ihr Niedergang?
Russland bricht derzeit das Gewaltverbot, indem es die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit der Ukraine in einem Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 verletzt.
Dieser Bruch des Völkerrechts ist bedeutsam, weil Russland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen offensiv mit militärischen Mitteln seinen Machtbereich vergrößert. Dieses Verhalten erscheint wie eine Rückkehr zum europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts, in dem Krieg ein legitimes Mittel war und so schließlich in den Ersten Weltkrieg führte.
Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen obliegt die Hauptverantwortung dafür, Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Russland war als Teil der Sowjetunion Gründungsstaat der Vereinten Nationen. Nach dem Zerfall der UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken blieb Russland ständiges Mitglied des Sicherheitsrats und damit ein Grundpfeiler der internationalen Ordnung im System der Vereinten Nationen. Dass Russland diese nun in Frage stellt, wirft Zweifel an ihrem Bestand auf.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Gewaltverbot mehrfach von verschiedenen Staaten verletzt. Allerdings wurde stets versucht, einen offensichtlichen Bruch zu vermeiden und eine mehr oder weniger überzeugende und auf dem Völkerrecht sowie ihren Prinzipien beruhende Rechtfertigung zu liefern. Das Eingreifen der North Atlantic Treaty Organization (NATO) in den Kosovokrieg 1998/99 war nicht von einer Resolution des Sicherheitsrates gedeckt und war dennoch durch die humanitäre Erwägung begründet. Weniger glaubhaft fällt die Rechtfertigung der USAUnited States of America für ihre Invasion des Irak 2003 als einen Präventionskrieg, um angeblich die Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu beenden. Diese Begründung war irreführend, um einen völkerrechtswidrigen Angriff zu rechtfertigen (siehe Europäischen Friedensordnung von 1990, NATO-Ostererweiterung und Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung).
Putins Machtstreben
Russland bemühte sich bisher ebenfalls um Rechtfertigungen seines Verhaltens. Im Jahr 2008 unterstützte es die Unabhängigkeit der Regionen Abchasien und Südossetien von Georgien. Als Georgien versuchte, die Kontrolle über die Regionen zurückzugewinnen, rechtfertigte der russische Präsident Wladimir Putin das Eingreifen der russischen Armee mit dem Schutz der dortigen Bevölkerung. Danach übernahm Russland im Jahr 2014 mit verdeckten Truppen die Kontrolle über die Krym/Krim und unterstützte prorussische Separatisten in den Regionen Donezk und Luhansk/Lugansk, sich von der ukrainischen Regierung zu lösen. In beiden Fällen hat die russische Regierung versucht zu vermeiden, als offener Angreifer aufzutreten. Dies hat sich mit dem derzeitigen Angriff auf die Ukraine geändert.
In den internationalen Beziehungen stehen sich Recht und Macht als Gegner gegenüber. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und erneut mit dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung verbunden, eine regelbasierte internationale Ordnung aufzubauen.
Internationale Politik sollte durch internationales Recht reguliert werden, damit das Machtstreben einzelner Staaten nicht erneut zu einem globalen Problem wird. Allerdings kann das Recht dies in den internationalen Beziehungen nicht durchsetzen. Der bisherige Erfolg der internationalen Ordnung beruht darauf, dass die einzelnen Staaten ihre Bindungsverpflichtung wahrnehmen.
Die internationale Ordnung verkraftet auch Abweichungen wie im Fall der NATO im Kosovo oder der USAUnited States of America im Irak, solange das Verhalten im Bezug zum Völkerrecht steht. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein offener Verstoß und eine Abwendung hiervon.
Russische Rhetorik versus völkerrechtliche Realität
In den vorausgegangenen Monaten ließ Putin Truppen an die ukrainische Grenze verlegen. Diese Bedrohungssituation für die Ukraine begründete er damit, dass er die in der Ukraine lebenden Russen in Gefahr sehe. Die russische Regierung behauptet, dass ein Völkermord im Gange sei, der von einer faschistischen Regierung in Kyjiw/Kiew geplant und durchgeführt werde. Für beide Behauptungen fehlt jegliche Grundlage. Am 21. Februar 2022 erkannte Russland die »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk als Staaten an. Mit diesen Volksrepubliken wurden Freundschaftsverträge geschlossen, die auch eine militärische Unterstützung vorsehen. Auf dieser Grundlage sowie des Vorwurfs des Völkermords rechtfertigt die Regierung ihr Vorgehen als »Spezialoperation«.
Diese Rechtfertigung hält einer rechtlichen Bewertung nicht stand und steht in einem offenen Widerspruch zum geltenden Völkerrecht. Die Charta der Vereinten Nationen sieht nach Art. 51 ein Selbstverteidigungsrecht vor. Dieses ist jedoch auf Seiten Russlands nicht gegeben. Es liegt kein Angriff der Ukraine auf Russland vor. Auch der Schutz russischer Staatsbürger in Donezk und Luhansk begründet keinen Selbstverteidigungsfall.
Eine im Völkerrecht diskutierte Alternative zur Selbstverteidigung ist die humanitäre Intervention. Da kein Völkermord oder schwerste Menschenrechtsverletzungen der Ukraine vorliegen, ist auch dies keine tragfähige Begründung.
Es handelt sich um einen Angriffskrieg. Dieser liegt aus völkerrechtlicher Sicht nach der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1974 beschlossenen Aggressionsdefinition aus Art. 3 vor bei
a) Invasion durch die Streitkräfte eines Staates auf das Gebiet eines anderen Staates,
b) Beschießung oder Bombardierung des Hoheitsgebiets eines Staates,
c) Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates,
d) Angriff durch die Streitkräfte eines Staates gegen die Land-, See- oder Luftstreitkräfte.
Alle diese Handlungen lassen sich seitens Russlands in der Ukraine feststellen. Auch Belarus hat sich eines Angriffskrieges nach Absatz f) schuldig gemacht, weil es Russland sein Hoheitsgebiet für die Angriffshandlungen zur Verfügung gestellt hat. Diese Angriffshandlungen begründen wiederum das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen.
Die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk als Staaten und die mit ihnen geschlossenen Verträge sind ebenfalls völkerrechtswidrig, da ein Staat nach völkerrechtlicher Definition aus einem klar definierten Territorium, einer dauerhaften Bevölkerung und einer effektiven wie dauerhaften Herrschaftsgewalt nach innen und außen besteht.
Keines der Kriterien trifft auf Donezk und Luhansk zu. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker dient hier ebenfalls nicht als Grundlage, weil es keine einseitige und gewaltsame Abspaltung vorsieht. Mit dieser Anerkennung verletzt Russland das Interventionsverbot aus Art. 3 (7) der Charta der Vereinten Nationen, weil es in die innere Zuständigkeit eines Staates eingreift.
Wegen des Vorwurfs Russlands, dass die ukrainische Regierung einen Völkermord begehe, ist die Ukraine vor den Internationalen Gerichtshof gezogen.
Internationale Reaktionen
Bereits seit der Annexion der Krym ist ein Verfahren zwischen der Ukraine und Russland vor dem Gerichtshof anhängig. Die Grundlage für diesen neuen Antrag der ukrainischen Regierung ist die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords – kurz: Völkermordkonvention. Diese Konvention sieht vor, dass die vertragsschließenden Parteien sich bei Streitfällen über die Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention sowie im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für Völkermord an den Internationalen Gerichtshof wenden können. Dieses Verfahren hätte Russland die Gelegenheit geboten, seinen Vorwurf gegen die Ukraine zu untermauen. Allerdings erschien die russische Delegation nicht zur Anhörung. Mittlerweile hat der Gerichtshof einstweilig entschieden, dass Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine beenden muss, weil er keine Grundlage für die Vorwürfe sieht.
Obwohl Russland sein durch die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat gewährtes Vetorecht missbraucht, hat die Generalversammlung der Vereinten Nation mit großer Mehrheit in einer Resolution dafür gestimmt, dass der Krieg beendet werden muss. Russland hat in keiner der Institutionen der Vereinten Nationen und darüber hinaus seine Darstellung etablieren können.
Neue Stärke des Völkerrechts?
Stattdessen wurde Russland in offiziellen Entscheiden und Resolutionen eine Absage erteilt. Darauf folgte auch der Ausschluss Russlands aus internationalen Organisationen wie dem Europarat. Russland ist zunehmend isoliert.
Die von der Europäischen Union, den USAUnited States of America und weiteren Staaten verhängten Sanktionen sollen Putin die wirtschaftliche Grundlage für seinen Krieg entziehen. Dabei müssen die getroffenen Maßnahmen jedoch selbst innerhalb des Völkerrechts bleiben. Mit den Sanktionen dürfen die Staaten keinen politischen Umsturz herbeiführen. Dies käme einer Intervention gleich, die derzeit nicht vom Sicherheitsrat gedeckt ist.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag geworden. Obwohl Russland nicht Vertragsstaat des Statuts des Gerichtshofs ist, können Ermittlungen wegen der Erlaubnis der Ukraine aufgenommen werden. Über 39 der 123 Vertragsstaaten haben die Situation in der Ukraine an den IStGH überwiesen und unterstützen damit die Wehrhaftigkeit der internationalen Ordnung.
Kriegsverbrechen
Die Verbrechen werden auf dem ukrainischen Territorium begangen. Hierüber darf der IStGH die Gerichtsbarkeit ausüben. Allerdings gilt dies nicht für das Verbrechen der Aggression (= Angriffskrieg). Dieser Tatbestand wurde unter den Vertragsstaaten nachverhandelt und unterliegt zusätzlichen Voraussetzungen. Zwar verletzt Russland das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, dennoch fehlt die Grundlage, um eine strafrechtliche Verfolgung dieses fundamentalen Verstoßes durchzuführen. Der IStGH kann über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord die Gerichtsbarkeit ausüben.
Durch zahlreiche Medienberichte wird immer deutlicher, dass die russische Armee auch gegen Zivilisten und zivile Objekte Waffengewalt einsetzt. Dies würde den völkerstrafrechtlichen Tatbestand der Kriegsverbrechen nach Art. 8 des IStGH-Statuts erfüllen. Auch die Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle sehen die Unterscheidung von Kombattanten und Nicht-Kombattanten als eine Kernregel des humanitären Völkerrechts an.
Die große Herausforderung der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH liegt darin, dass sie ohne eine eigene Polizei Beweise erheben muss. Dafür ist der Gerichtshof auf verlässliche Informationen angewiesen. In dieser Hinsicht versucht Russland gezielt, Desinformationen zu streuen und das Fact Finding zu erschweren (siehe auch Kriegsfotografie).
Rückkehr zur internationalen Ordnung?
Neben den von Staaten beschlossenen Sanktionen gegen Russland erweist sich das Völkerrecht als scheinbar durchsetzungsschwach. Die internationalen Gerichtshöfe und Organisationen können keinen Frieden oder eine strafrechtliche Verfolgung erzwingen. Trotzdem treten Staaten und auch die zivile Bevölkerung auf der Welt mit Demonstrationen und ihrer Solidarität für den Frieden und damit für das Gewaltverbot als Grundprinzip der internationalen Ordnung ein.
Bundeskanzler OIaf Scholz, Regierungserklärung, 27. Februar 2022
Wir erleben eine ›Zeitenwende‹. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.
Die vor allem in Deutschland wahrgenommene Zeitenwende durch den offenen Bruch des Völkerrechts muss nicht den Niedergang der regelbasierten Ordnung bedeuten. Diese Situation bietet auch die Möglichkeit, an ihr festzuhalten und ihren Wert für die friedlichen Beziehungen in der Zukunft konsequenter zu wahren. Dazu kann auch das sicherheitspolitische Erwachen Deutschlands beitragen.
Recht umfasst generelle Erwartungen, an denen trotz ihrer Enttäuschung festgehalten werden kann. Nur weil eine Person einen Diebstahl begeht, ist die strafrechtliche Ahndung nicht hinfällig. Es kommt jedoch darauf an, das Festhalten an den Erwartungen deutlich zu machen. Dies leisten im Staat Polizei und Gerichte. Sie garantieren die Stabilität staatlicher Ordnung.
In den internationalen Beziehungen ist es an den Staaten, den internationalen Organisationen und auch den Individuen, dies zu gewährleisten. Dafür geschieht bereits viel. Diese verschiedenen Akteure machen deutlich, dass sie an das Völkerrecht gebunden sind und isolieren auf diese Weise Russland.
Der verheerende Bruch des Völkerrechts lässt sich nicht beheben. Aber wie die internationale Strafverfolgung und Wahrheits- sowie Versöhnungskommissionen nach anderen bewaffneten Konflikten zeigen, können Prozesse organisiert werden, um zu einer rechtmäßigen Ordnung zurückzukehren. Darauf sind die derzeitigen Versuche gerichtet, Russlands Präsident Putin wieder an den Verhandlungstisch zu holen.
Literaturtipps
Fabian Klose, »In the Cause of Humanity.« Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019.
Angelika Nußberger, Menschenrechte. Geschichte, Philosophie, Konflikte, München 2021.
Hier finden Sie den Beitrag zum Download (PDF, 8,6 MB).
DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-580
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