Das Streben nach Deutungshoheit. Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine
Das Streben nach Deutungshoheit. Berichterstattung zum Krieg in der Ukraine
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Der Krieg in der Ukraine wird nicht zuletzt auf einem medialen Schlachtfeld ausgetragen. Es geht hierbei um die Beeinflussung von Meinungen, Narrativen und letztlich um die Bereitschaft, den Kampf fortzuführen beziehungsweise zu unterstützen. Zahlreiche Akteure sind an diesem Ringen beteiligt, auch hier kann bislang kein klarer Sieger benannt werden.
Der Krieg in der Ukraine hat neben der militärischen auch eine mediale Front hervorgebracht. Seit Kriegsbeginn dokumentieren ukrainische zivilgesellschaftliche Organisationen die verstärkte Verbreitung von russischen Fake News, (Des-)Informations- und Propagandakampagnen im ukrainischen Medienraum. Für die Russische Föderation ist diese ergänzende Art der Kriegführung nicht neu. Bereits auf der Krim und in der Ostukraine setzte die politische Führung der Russischen Föderation seit 2014 diese Fähigkeit gezielt über verschiedene Kanäle ein. Einen vorläufigen Höhepunkt im Streben nach Deutungshoheit finden diese Maßnahmen im Kontext der Kampfhandlungen seit Februar 2022.
Der Informationsraum als Schlachtfeld
Neben den Faktoren Kräfte, Raum und Zeit erhält mittlerweile auch aus militärischer Perspektive der Faktor Information immer mehr Gewicht. Mit der weltweiten und oft ungefilterten, zügigen Verbreitung von Informationen oder Desinformationen meist schon im Vorfeld der eigentlichen militärischen Kriegshandlungen beginnt bereits der ‚Kampf‘ um die Deutungshoheit im sogenannten Informationsumfeld. In seinem Zentrum steht die Information an sich, die durch Menschen bewusst oder unbewusst generiert, wahrgenommen, interpretiert und verbreitet wird. Das Informationsumfeld als Bestandteil des Cyber- und Informationsraums ist derjenige Raum, in dem kognitive, sensorische, deutende, gedankliche und kommunikative Vorgänge stattfinden.
Noch bevor der Angriff auf die Ukraine begann, konnte bereits eine umfangreiche landesinterne wie an die internationale Gemeinschaft und die Ukrainer selbst gerichtete Propaganda innerhalb und außerhalb des russischen regionalen und überregionalen Informationsumfeldes verzeichnet werden. Ziel dieser Propaganda war, Russland in einem positiven Licht erscheinen zu lassen und zugleich Desinformationen über den Gegner zu verbreiten. Sie richtete sich nicht nur an die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch an die russische Bevölkerung. Als Akteure können hierbei russische Politiker der ersten und zweiten Reihe, das russische Verteidigungsministerium, die russischen Streitkräfte, russische Leitmedien und Militärblogger betrachtet werden. Diese haben teils auch in Wechselwirkung zueinander in unterschiedlichem Maße Einfluss auf das Informationsumfeld im Kontext der Kriegshandlungen genommen. Demgegenüber versuchen auch ukrainische Akteure aus Politik und Militär ihrerseits, der russischen Propaganda mit verschiedenen Mitteln entgegen zu wirken, um die eigene Bevölkerung, die Streitkräfte und vor allem die internationale Öffentlichkeit zu ihren Gunsten zu beeinflussen.
Noch zu Beginn des Krieges war die Kommunikation staatlicher sowie halbstaatlicher und prominenter privater russischer Akteure überwiegend kohärent. Jedoch führte der zunehmend problematisch werdende militärische Verlauf zu einer Diversifizierung in der öffentlichen Debatte. Hier widerstreiten das gemäßigte Lager aus Vertretern etwa des Verteidigungsministeriums oder öffentlichen Vertretern bedeutender russischer Medien, die einen ganzheitlichen Meinungsansatz verfolgen, und radikale patriotische Meinungsbildner, die immer wieder mit der Forderung nach einer Ausweitung der militärischen Handlungen auftreten. Auch auf ukrainischer Seite spaltet die Debatte zwischen Befürwortern einer militärischen Fortführung der Verteidigungshandlungen und Unterstützern forcierter diplomatischer Verhandlungen die allgemeine öffentliche Wahrnehmung des Konfliktes.
Hohe russische Zustimmungswerte
Wenige Tage nach Verkündung der „militärischen Spezialoperation“ durch den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin stellte das staatliche russische Meinungsforschungsinstitut „Stiftung für öffentliche Meinung“ noch einen nur geringen Anstieg an „Nervosität“ innerhalb der russischen Gesellschaft fest. Der Anteil der Befragten, die angaben, die Menschen in ihrem sozialen Umfeld seien „beunruhigt“, stieg demnach um lediglich fünf Prozent. Einen Monat nach Beginn des Großangriffs unterstützten gemäß einer Meinungsumfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“ 81 Prozent der Befragten das Vorgehen in der Ukraine. Auf die Frage, weshalb die „militärische Spezialoperation“ ausgerufen worden sei, gaben mit 43 Prozent die meisten Befragten als Grund an, man müsse die russischen Bürger in Luhansk und Donezk beschützen. Im Laufe der Monate ging die Zustimmung für den Kriegseinsatz etwas zurück, blieb mit Werten zwischen 75 und 80 Prozent jedoch immer noch konstant hoch.
Gründe für diese allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung sind in den jahrelangen staatlich beeinflussten Denkmustern und bewusst konstruierten Narrativen zur Zugehörigkeit der Ukraine zur Russischen Föderation und den vermeintlichen Gründen und Rechtfertigungsmustern für den Krieg zu finden. Sie sind innerhalb der russischen Gesellschaft tief verwurzelt. Die Propaganda gegenüber der eigenen Bevölkerung im Vorfeld des Krieges kann dementsprechend als weitestgehend erfolgreich bezeichnet werden. So ist es nicht verwunderlich, dass ein bedeutender Teil der russischen Bevölkerung nach Kriegsbeginn auch die staatliche Kernbotschaft einer begrenzten „Militäroperation“ als plausibel wahrgenommen hat. Auch wenn öffentliche Protestkundgebungen gegen den Krieg vor allem in den russischen Großstädten und unter den jüngeren, urbaneren Bevölkerungsteilen stattfanden, so blieben sie jedoch auf einem quantitativ niedrigen Niveau und ebbten nach frühen Repressionen der russischen Sicherheitsbehörden rasch wieder ab.
Russische Kritik an der „Spezialoperation“
Schon im März 2022 war erkennbar, dass die russischen Streitkräfte in der Ukraine langsamer vorankamen, als es allgemein zu vermuten gewesen wäre. Dennoch betonen staatliche und militärische Akteure bis heute, dass der Militäreinsatz planmäßig verläuft. Putin selbst wiederholte im Frühjahr 2022 mehrmals, das Militär läge „im Zeitplan“. Diese offizielle Kommunikationslinie geriet jedoch bald unter Legitimationsdruck und wurde zunehmend von prominenten staatlichen Akteuren öffentlich kritisiert. Etwa forderte der ehemalige stellvertretende russische Verteidigungsminister Andrej Kartapolow Anfang Oktober 2022 das russische Verteidigungsministerium dazu auf, die „Lügen“ über das Geschehen hinsichtlich der „militärischen Spezialoperation“ zu beenden. Wenige Tage zuvor äußerte sich Margarita Simonjan, Chefredakteurin des staatlichen russischen Auslandsnachrichtensenders RT, „wir müssen aufhören, auf allen Ebenen zu lügen“. Auch der bekannte Fernsehmoderator Wladimir Solowjow, eigentlich dafür bekannt, staatliche Narrative nicht nur zu propagieren, sondern noch zu überspitzen, äußerte sich zunehmend kritisch.
Scharfe Kritik formulieren auch pro-russischen Militärblogger aus dem patriotischen Lager, dem vor allem extreme Nationalisten angehören und das für eine noch intensivere Kriegführung plädiert. Ihr Hauptkommunikationsmedium ist die Social-Media-Plattform Telegram. Einer der bekanntesten ist Semjon Pegow, genannt „War Gonzo“. 1,3 Millionen Menschen folgen seiner Kritik zum Beispiel zum russischen Abzug aus Cherson, für den er „Verrat“ und „kriminelle Fahrlässigkeit“ verantwortlich macht. Scharfe Worte finden und fanden auch Ramsan Kadyrow, Oberhaupt der autonomen russischen Republik Tschetschenien, sowie der mittlerweile bei einem Flugzeugabsturz umgekommene Unternehmer und Gründer der „Gruppe Wagner“, Jewgenij Prigoschin.
Letztgenannter hatte noch zu Lebzeiten die russische Militärführung als „Drecksstück“ bezeichnet, die er gerne barfuß mit einer Kalaschnikow bewaffnet an die Front schicken würde. Im Oktober 2022 drückte auch Kadyrow auf Telegram wiederholt seinen Unmut über Generaloberst Alexander Lapin aus, der das „Kommando Mitte“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine führte. Am 29. Oktober 2022, zwei Tage nach der letzten Kritik an Lapin, berichteten russische Quellen, Lapin sei von seiner Funktion enthoben worden. Bereits die Ernennung des Armeegenerals Sergej Surowikin zum Kommandeur über die Streitkräfte in der Ukraine am 7. Oktober 2022 wurde im regierungsunabhängigen Sektor als Zugeständnis an dieses „patriotische Lager“ interpretiert.
Stabile Narrative
Die angebliche Notwendigkeit und Legitimität der „militärischen Spezialoperation“ als grundsätzliches Narrativ des russischen Staates wurde trotz der Existenz verschiedener kritischer Stimmen innerhalb der russischen Gesellschaft, der Politik und des Militärs sowohl vom gemäßigten als auch vom patriotischen Lager bislang jedoch nicht in Frage gestellt. Nicht explizit kritisiert wird auch Staatspräsident Putin. Internationale Beobachter vertreten die These, Putin dulde und fördere die Rivalität verschiedener Akteure bewusst, um damit seine eigene Position zu festigen.
Im russischen Informationsumfeld sorgt indes die Kritik am russischen Verteidigungsministerium für zunehmende Besorgnis. Es scheint, dass einzelne Akteure versuchen, die Ausnahmesituation des Krieges für ihren eigenen politischen Aufstieg zu nutzen. In diesen Kontext ist unter Umständen auch der Tod Prigoschins einzuordnen. Die politischen Ambitionen des Wagner-Führers waren immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Verschiedene Bevölkerungsteile sehen darin eine Ursache für den „Marsch der Gerechtigkeit“ am 23./24. Juni 2023 auf Moskau oder sogar das Motiv für eine mögliche Ausschaltung durch die russische Regierung.
Unter den verschiedenen ukrainischen Akteuren ist ebenfalls keine grundsätzliche Kritik am Narrativ einer Verteidigung des Staatsterritoriums zu beobachten. Auch Selenskyj selbst wird von einem Großteil der Bevölkerung in seinen Intentionen zum Wohle des ukrainischen Staates nicht in Frage gestellt, obwohl er insgesamt als Staatsoberhaupt im Vergleich zu Putin in verschiedenen Situationen konkreter kritisiert wird.
Auswirkungen der russischen Teilmobilisierung
Erst nachdem Putin am 21. September 2022 die Durchführung einer Teilmobilisierung ankündigte, mehrten sich Beunruhigung und Kritik in der russischen Bevölkerung. Dies verstärkte sich, als Verteidigungsminister Sergej Schojgu im Anschluss erklärte, dass zeitnah 300000 Reservedienstleistende einberufen werden würden. Noch am gleichen Tag wurde in mindestens 38 Städten gegen die Teilmobilmachung protestiert. Es folgte eine fluchtartige Ausreise von vielen zehntausend Russen in die Nachbarländer. Wie staatliche und unabhängige russische Meinungsumfrageinstitute belegten, stieg die Besorgnis innerhalb der russischen Gesellschaft deutlich an. Zudem waren weniger Bürger der Auffassung, die Militäroperation in der Ukraine verlaufe erfolgreich. Auch hat die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber den Kriegsereignissen nach Ausrufung der Teilmobilisierung sprunghaft zugenommen, nachdem sie zuvor sukzessive abgenommen hatte. Dennoch ging die grundsätzliche Unterstützung für die „Spezialoperation“ nur leicht zurück und verblieb insgesamt weiterhin auf einem hohen Niveau.
Auf dieses Stimmungsbild reagierte im November 2022 auch der ukrainische Generalstab. Er berichtete gegenüber der ukrainischen Öffentlichkeit, dem ukrainischen Militärgeheimdienst würden Informationen vorliegen, wonach in der Russischen Föderation aufgrund hoher Verlustzahlen bereits im Januar 2023 eine „neue Mobilisierungswelle“ beginnen könnte. Die Intention der ukrainischen Kommunikation im Aufgreifen dieser Gerüchte lag vermutlich darin, die Unruhe in der russischen Bevölkerung weiter zu schüren. Diese Informationen bezeichnete Dmitrij Peskow, der Sprecher des russischen Staatspräsidenten, als „unwahr“. Es ist also eine direkte Wechselwirkung zwischen ukrainischer und russischer staatlicher Kommunikation beobachtbar. Die Ausrufung der Teilmobilmachung stellte für die russische Gesellschaft den bislang elementarsten Einschnitt der „militärischen Spezialoperation“ dar, wie Umfrageergebnisse und Massenemigration zeigen. Dies ist wahrscheinlich mit einer möglichen stärkeren persönlichen Betroffenheit zu erklären.
Änderung der Reisegesetze – eine versteckte Mobilisierung?
Das Thema der Teilmobilisierung rückte nach ihrem Abschluss zunächst wieder in den Hintergrund. Erst im Vorfeld der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 wurde es wieder virulent. Am 13. Juni 2023 veröffentlichte das offizielle russische „Portal für Rechtsinformationen“ ein Dokument über die Änderung der Ein- und Ausreisegesetze. Damit soll nun auch die „Verweigerung der Hinterlegung eines Passes ohne triftigen Grund durch einen Bürger, der an der Ausreise gehindert ist“, zu seiner Ungültigkeit führen. Dies betrifft schließlich auch Personen, die zum Militärdienst einberufen worden sind.
Der Leiter der litauischen Niederlassung der Nichtregierungsorganisation „Freeedom House“, Vytis Jurkonis, sieht darin vor allem eine Gefährdung für russische Bürger, die nach der Teilmobilisierung geflohen waren. Damit würden die russischen Behörden „Panik“ auszulösen, um eine „weitere Abwanderung nichtregimetreuer Bürger“ zu initiieren und so zuständige Behörden der Europäischen Union überfordern. Die neue Gesetzesänderung wird partiell als Teil eines staatlich koordinierten Prozesses wahrgenommen, der seit der Teilmobilisierung im September 2022 stetig ergänzt und verschärft wird. Dieser betraf neben den Gesetzesverschärfungen über Ausreisebestimmungen auch die Ausweitung der Zustellmöglichkeit von Vorladungen zum Militärdienst vom 12. April 2023.
Am 25. Juli 2023 beschloss das russische Parlament außerdem ein Gesetzespaket zum Wehrdienst. Es besagt unter anderem, dass russische Bürger mit einem Einberufungsbescheid nicht mehr ins Ausland reisen dürfen. Mit deutlich höheren Strafen müssen zudem diejenigen rechnen, die sich nach Aufforderung nicht beim Einberufungsamt melden. Die wiederholten Anpassungen in der russischen Rechtsprechung nahmen in der Folge viele als versteckte Vorbereitung für eine besser organisierte zweite (Teil-)Mobilisierung wahr.
Kommunikative Maßnahmen ukrainischer Akteure
Auch ukrainische Akteure griffen die Thematik einer möglichen weiteren Mobilisierung auf. Seit dem 5. September 2023 zirkulierte in ukrainischen Telegram-Kanälen und Medien die Fotografie eines angeblich offiziellen russischen Mobilisierungsbefehls. Dieser beinhaltete, dass die lokalen Militärkommissare bis spätestens 1. November 2023 eine Teilmobilisierung von 200000 Bürgern umgesetzt haben müssen. Mehrere russische Gouverneure gaben in den sozialen Medien bekannt, das Dokument sei eine Fälschung.
In den sozialen Medien und einzelnen Presseberichten wurden vermeintliche Beweise aufgeführt, die angeblich die Fälschung belegen. In weiten Teilen des russischen Informationsumfeldes überwiegt diese Wahrnehmung. Trotzdem stellen die Indizien keine ausreichenden Belege dar, um sicher ausschließen zu können, dass es sich bei dem Schreiben um eine nicht autorisierte Veröffentlichung handelt. Zugleich ist davon auszugehen, dass die russische Staatspitze bemüht ist, kurz vor den anstehenden Regionalwahlen und der Wahl des Staatspräsidenten 2024 von einer weiteren Teilmobilisierung Abstand zu nehmen.
Trotz der seit März 2022 bestehenden Einschränkungen und Sperrungen von sozialen Medien in Russland drangen über ukrainische Kanäle außerdem Meldungen über Misserfolge der russischen Streitkräfte sowie Erfolge der ukrainischen Truppen bereits frühzeitig nicht nur ins internationale, sondern explizit auch ins russische Informationsumfeld und wurden von ukrainischen Medien zur Verbreitung eigener Narrative genutzt. Hinzu kamen Berichte über eine unzureichende Versorgung und Ausstattung der russischen Soldatinnen und Soldaten. In Handyaufnahmen berichteten sie immer wieder von einer defizitären Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und Munition sowie einer schlechten Behandlung durch Vorgesetzte.
Im Zuge der Teilmobilmachung verbreiteten sich Meldungen über eine ungenügende oder gar fehlende Ausbildung der mobilisierten Soldaten sowie eine unhygienische Unterbringung. Jene kritischen Berichte wurden ursprünglich wohl von den Soldaten mit der Intention aufgenommen, eine rasche Verbesserung ihrer Situation zu erreichen. Neben diesen gezielten Unmutsbekundungen gelangten ebenfalls Beschwerden an die Öffentlichkeit, die im privaten Umfeld geäußert und nicht für eine externe Zuhörerschaft gedacht waren. Hierbei handelte es sich insbesondere um Telefongespräche zwischen Soldaten und ihren Angehörigen. Mitte Oktober 2022 veröffentlichte das ukrainische Verteidigungsministerium etwa einen Telefonmitschnitt zwischen einem in der ukrainischen Oblast Mykolajiw eingesetzten mobilisierten russischen Soldaten und seiner Frau. Hierin kritisiert der Soldat die Invasion in deutlichen Worten und macht Putin für die missliche Lage verantwortlich.
Zweifel säen
Es gibt noch weitere Bereiche, die sich die Ukraine zunutze macht, um die russische Seite im Informationsumfeld empfindlich zu „treffen“. Die ukrainische Regierung hat sich im Laufe des Krieges wiederholt direkt an russische Soldaten sowie deren Angehörige gewandt. Am 2. März 2022 wurde ein Handzettel via Facebook unter anderem von Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministeriums, mit der Bitte verbreitet, ihn an „Tausende unglückliche Mütter weiterzuleiten“. Sie sollten die aufgeführten Kontaktdaten nutzen, um beim ukrainischen Verteidigungsministerium zu erfragen, ob ihre Söhne und Töchter in Kriegsgefangenschaft gelangt oder gefallen sind. Ende Februar 2022 richtete die ukrainische Regierung außerdem eine Internetseite sowie einen Telegram-Kanal unter der Bezeichnung „ischi swoich“ („Suche die Deinen“) ein, über die sich russische Bürgerinnen und Bürger über den Verbleib ihrer Angehörigen informieren können.
Am 23. Oktober 2022 veröffentlichte der ukrainische Generalstab einen Videoaufruf in den sozialen Medien, der sich direkt an die in der Ukraine eingesetzten russischen Militärangehörigen wandte. Hierin hieß es: „Wofür kämpft ihr? Für die Angst eurer Führer, die Macht zu verlieren, für ihren Lebensstil, den sie mit dem von euch und euren Familien gestohlenen Geld aufgebaut haben, für ihre Dummheit und Inkompetenz?“ In dem Video wird bei einer Desertation die Einhaltung der Genfer Konvention, eine medizinische Versorgung und die Kommunikation mit Angehörigen garantiert, ebenso wie der Schutz vor Verfolgung. Im September 2022 initiierte die ukrainische Regierung das Projekt „Ich möchte leben“. Russische Bürger können sich über Messenger-Dienste sowie per Telefon an eine ukrainische Stelle wenden, bei der sie Hilfestellung zur Frage, wie sie sich als im Krieg in der Ukraine dienende Soldaten sicher ergeben können, erhalten. Auf der Internetseite des Projekts sind auch Verhaltensweisen aufgeführt, wie eine Einberufung umgangen werden kann.
Tendenzen der russischen Meinungsentwicklung
Am 5. September 2023 veröffentlichte das russische Meinungsforschungsinstitut „Lewada-Zentrum“ erneut Umfrageergebnisse zur Einstellung der russischen Bevölkerung bezüglich der „militärischen Spezialoperation“. Demnach gaben im August 2023 17 Prozent der Befragten an, dass sie „sehr sorgfältig“ den Ereignissen in der Ukraine folgen würden. Im Juli waren es noch 23 Prozent. Weitere 31 Prozent statt 36 Prozent würden die Geschehnisse „ziemlich sorgfältig“ beobachten. Die Zahl der Befürworter von Friedensverhandlungen blieb mit 50 Prozent nahezu unverändert. Für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen sprachen sich 38 Prozent der Befragten im Vergleich zu 41 Prozent im Juli aus. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden begründet ihre Position damit, dass „viele Menschen“ gestorben seien. Als Grund für einen notwendigen Übergang zu Friedensgesprächen nannten 40 Prozent der Befragten „Kriegsmüdigkeit“. 75 Prozent der Befragten sind jedoch gegen eine Rückgabe der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk und 68 Prozent gegen eine mögliche Rückgabe der annektierten Gebiete Cherson und Saporischschja an die Ukraine.
Die stetig abnehmende Aufmerksamkeit für die Ereignisse in der Ukraine hat gemäß der aktuellen Umfrage einen Wert erreicht, demzufolge sich immer weniger russische Bürgerinnen und Bürger für das Kriegsgeschehen interessieren. Die langanhaltende Tendenz des zunehmenden Interessenverlustes wurde lediglich nach Ausrufung der Teilmobilmachung im September 2022 und einer damit einhergehenden persönlichen Betroffenheit spürbar umgekehrt. Dass trotz des bestehenden Wunsches nach Friedensverhandlungen nach wie vor eine hohe Anzahl von Befragten offenbar eine fehlende Bereitschaft aufweist, die annektierten Gebiete bei etwaigen Friedensgesprächen als mögliche Verhandlungselemente zu akzeptieren, verweist auf eine partielle gesellschaftliche Verfestigung des staatlichen Narratives, demzufolge es sich um unveräußerliche russische Staatsgebiete handele.
Bedeutung des „Medienkriegs“
Die Nutzung von Medien spielt also eine entscheidende Rolle im Ringen um die Deutungshoheit der militärischen Handlungen sowohl für die Ukraine als auch für die Russische Föderation. Die Ukraine konzentriert sich hier bewusst auf vulnerable Zielgruppen, wie russische Soldaten, deren Kampfmoral bereits geschwächt ist, sowie Angehörige, um die Kampfmoral der Truppe, die ihrer Angehörigen und der russischen Gesellschaft allgemein zu senken. Die ukrainischen Medien werden von Präsident Selenskyj bewusst genutzt, um Narrative der Legitimität, Notwendigkeit und des Erfolges der eigenen Verteidigungshandlungen innerhalb der eigenen Bevölkerung zu verbreiten und auch die internationale Öffentlichkeit damit von dem Wert einer finanziellen wie materiellen Unterstützung westlicher Partner zu überzeugen.
Die Russische Föderation ist demgegenüber vor allem bemüht, die Zustimmung in der eigenen Bevölkerung aufrechtzuhalten und die bestehenden staatlich kommunizierten Kernbotschaften in den Fokus zu rücken. Die bekannten Narrative der Regierung, nachdem ein Krieg geführt werden müsse, um dem angeblichen „Völkermord“ im Donbass, dem Risiko eines bevorstehenden Nato-Militärschlags wie im Kosovo oder in Libyen und dem vermeintlichen „Nazi-Regime“ der ukrainischen Führung entgegenzuwirken, verfangen in der russischen Gesellschaft nach jahrelanger gezielter Beeinflussung russischer Akteure, Influencer und Leitmedien weiterhin ebenso gut wie die Kernbotschaften eines atomaren Risikos ausgehend von der Ukraine, einer Nato-Osterweiterung entgegen mündlicher Versprechen des Westens und der kommunizierten vermeintlichen Nichtexistenz der Ukraine. Diese Erzählmuster zweifelt die russische Berichterstattung zwar nicht an, doch sät die zunehmende unkontrollierte Berichterstattung des patriotischen Lagers immer wieder Zweifel am Erfolg der „militärischen Spezialoperation“ und unterläuft damit die staatliche Kommunikation.
Der Kampf um die Deutungshoheit über militärische Erfolge kann dementsprechend als ein entscheidender Faktor sowohl der allgemeinen Wahrnehmung der Kriegshandlungen im internationalen und spezifisch im russischen wie ukrainischen Umfeld betrachtet werden. Zielsetzung ist hierbei primär, die westliche materielle wie finanzielle Unterstützung für die Ukraine zu beeinflussen und den jeweils eigenen Erfolg oder Misserfolg im Rahmen der Kampfhandlungen in ein für die jeweilige Seite passendes Licht zu rücken.