Ukraine-Dossier

Wie Annexionen Frieden verhindern

Wie Annexionen Frieden verhindern

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Die Anerkennung der völkerrechtswidrig annektierten Gebiete im Osten der Ukraine ist ein erklärtes Kriegsziel Russlands. Dass Frieden auf dieser Grundlage kaum möglich, geschweige denn dauerhaft sein kann, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Ein Beitrag von Michael Epkenhans zu unserem Ukraine-Dossier.

Vertrag von Megiddo von 1259 v.Chr.

Fragmente des ersten Friedensvertrags der Welt: 1259 v. Chr. schlossen Hethiterkönig Hattusili III. und Pharao Ramses II. den Vertrag von Megiddo

akg-images / Erich Lessing

Wie schaffe ich Frieden? Der Vertrag von Megiddo

Der Gedanke, Kriege durch Verträge zu beenden, ist uralt. Als ältester, vielleicht sogar vorbildlicher Friedensvertrag gilt der Vertrag von Megiddo. Am 10. November 1259 v. Chr. schlossen der ägyptische Pharao Ramses II. und der König der Hethiter, Hattusili III., nach jahrzehntelangen Kriegen Frieden. In einer Zeit, in der Krieg den Normalzustand darstellte, war dies beachtlich. Ebenso wie der Vertrag an sich waren auch dessen Bestimmungen außergewöhnlich: Beide Seiten betrachteten sich als gleichberechtigt, keiner der einstigen Gegner sah sich dem anderen als überlegen an. Dieser gegenseitige Respekt war die Grundlage für einen Nichtangriffspakt, ein Verteidigungsbündnis gegen innere und äußere Feinde und eine Regelung über den Umgang mit Flüchtlingen. Der feierlich besiegelte Frieden hielt mehr als 80 Jahre. Statt Krieg und Gewalt gab es nun freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Königsfamilien, einen intensiven Austausch von Wissen und Technologie oder Hilfe bei Notlagen wie Hungersnöten. Wirtschaft und Kultur beider Reiche erlebten in den folgenden Jahrzehnten eine neue Blütezeit. Keiner der Beteiligten hat diesen Vertrag daher gebrochen. Er verlor seine Bedeutung erst, als das Hethiterreich im Strudel anderer Entwicklungen in Vorderasien unterging. Dennoch: Der Vertrag von Megiddo gilt bis heute als Vorbild für die Beendigung von Kriegen durch Vertrag. Ein Bronzeabguss der hethitischen Fassung ist bis heute im Tagungssaal des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aufgestellt – als Symbol für die Notwendigkeit, Kriege durch von allen Kontrahenten respektierte Verträge zu beenden und als Mahnung vor den Folgen nicht enden wollender Kriege. Die prachtvolle ägyptische Fassung kann jeder Tourist im Tempel von Karnak bewundern.

Was bedeutet es aber, wenn einer der Kriegführenden einen möglichen Frieden von vornherein mit aus seiner Sicht unverhandelbaren territorialen Konzessionen verknüpft? Die russischen Forderungen nach Anerkennung der durch Scheinreferenden legitimierten Annexionen ukrainischer Gebiete lassen, wie ein Blick in die Geschichte zeigt, schon jetzt erahnen, dass ein Frieden auf dieser Grundlage kaum möglich, geschweige denn dauerhaft sein kann. Dies gilt umso mehr, als es sich um Gebiete handelt, deren Zugehörigkeit zur Ukraine Russland 1994 im Gegenzug für die Ablieferung der ukrainischen Atomraketen in internationalen Abkommen feierlich (mit-)garantiert hat. Zwei Beispiele aus der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sollen dieses Problem illustrieren.

Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71

Als Frankreich Preußen im Juli 1870 am Ende der durch die Hohenzollern'sche Kandidatur für den spanischen Thron ausgelösten Krise den Krieg erklärte, ging es nur vordergründig darum, für die mit der »Emser Depesche« vermeintlich verletzte Ehre des Kaiserreichs Genugtuung zu erhalten. Weitaus bedeutender war die Frage, welche Macht in Zukunft die Vorherrschaft in Europa ausüben würde. Der Krimkrieg (1853–1856) und der Zweite italienische Unabhängigkeitskrieg (1859), an denen Frankreich sich jeweils im Rahmen einer Koalition beteiligt hatte, waren beide aus französischer Sicht erfolgreich verlaufen, auch wenn sie nicht mit territorialen Gewinnen geendet hatten. Frankreich sah sich danach als unangefochten vorherrschende Macht auf dem Kontinent. Doch Preußens Siege über Dänemark (1864) und Österreich (1866) hatten dazu geführt, dass sich die politische Landkarte Europas änderte und mit dem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund ein neuer Konkurrent für Frankreich entstanden war. Unter dem Slogan »Revanche pour Sadowa« – »Rache für Sadowa!«, wie die in Deutschland als Schlacht bei Königgrätz bekannte Entscheidungsschlacht von 1866 in Frankreich genannt wird – forderte die französische Öffentlichkeit eine »Entschädigung« für den preußischen Aufstieg in Form von territorialen Gewinnen – seien es nun, wie angeblich durch den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck versprochen, Gebiete in Luxemburg und Belgien oder gar die linksrheinischen Gebiete Preußens. Diese Forderungen spiegelten die Erwartungen wider, die Zeitgenossen mit der Führung eines Krieges verbanden: den Erwerb von Land als Grundlage von Macht, Wohlstand und Prestige.

Französische Kriegsziele

Die Ziele, die Frankreich in Gesprächen mit möglichen Verbündeten, den Verlierern von 1864 und 1866, Dänemark und Österreich, bereits vor Beginn des Krieges im Sommer 1870 formuliert hatte und seit dessen Beginn verfolgte, sind wenig bekannt, da sie nicht geschichtsmächtig geworden sind. Der Katalog der Ziele, die sich an alten französischen Zielen seit der Zeit Ludwigs XIV. orientierten, war dennoch beachtlich. Diese gingen weit über die immer wieder geforderte Rheingrenze hinaus: Wiederherstellung des Königreichs Hannover, Rückgabe Südschleswigs an Dänemark, Wiederherstellung des alten Deutschen Bundes, Schleifen der Bundesfestungen in Rastatt und Mainz sowie die Verkleinerung Preußens gehörten dazu.

Die Niederlage bei Sedan wenige Wochen nach Kriegsbeginn machte allerdings alle französischen Pläne für eine Neuordnung der Mitte Europas zur Makulatur.

»Kein fauler Friede«

In gleichem Maße, wie die Niederlagen der eigenen Armee allen französischen Kriegszielvorstellungen den Boden entzogen, beflügelten die Siege der preußischen Armeen und ihrer Verbündeten die Phantasie von Politikern, Militärs, Publizisten und der Öffentlichkeit. Der Ruf, keinen »faulen Frieden« zu schließen, war weit verbreitet. Der Topos vom »Erbfeind«, nationalistischer Überschwang und politisch-militärische Überlegungen vermischten sich dabei in kaum voneinander zu trennender Weise.

Damit einher ging der Wille, Revanche zu nehmen für alle Demütigungen und erzwungenen Landabtretungen der vorangegangenen zweihundert Jahre: »Wir wollen«, hieß es bereits am 25. Juli 1870 in den »Münchener Neuesten Nachrichten«, »keinen Fußbreit von Frankreichs Boden nehmen, aber das deutsche Gebiet, unser städtereiches Elsaß, unser herrliches Lothringen, das Ludwig XIV. durch seine Reunionen geraubt, wollen wir holen und sie für alle Zeiten behalten.«

Bismarck teilte den nationalen Enthusiasmus der Annexionsbewegung nicht. Dazu dachte er zu »preußisch«. Aber auch er wollte, von den Militärs ganz zu schweigen, aus politischen und strategischen Gründen Teile Frankreichs annektieren: »Der Elsaß«, so hieß es in einem Brief vom 23. September 1870 an den preußischen Innenminister, »ist für Deutschland unentbehrlich als Verschluß der offenen Südwestgrenze, als Zubehör der Grenzfestungen, gewissermaßen wie ein großes Glacis derselben.« An diesem Leitgedanken hielt Bismarck bis zum Ende des Krieges fest. »Wir dürfen uns nicht darüber täuschen,« hieß es bereits am 13. September 1870 in einem Erlass an die norddeutschen Gesandtschaften, »daß wir uns nun infolge dieses Krieges auf einen baldigen neuen Angriff von Frankreich und nicht auf einen dauerhaften Frieden gefasst machen müssen, und das ganz unabhängig von den Bedingungen, welche wir etwa Frankreich stellen möchten. Es ist die Niederlage an sich, es ist unsere siegreiche Abwehr ihres frevelhaften Angriffs, welche die französische Nation uns nie verzeihen wird.«

Allegorische Darstellung des Frankfurter Friedens

Frankreich beweint den im Frankfurter Frieden von 1871 festgeschriebenen Verlust von Elsass und Lothringen. Allegorische Darstellung in einem zeitgenössischen französischen Kinderbuch

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Alle Verhandlungen mit Vertretern der provisorischen Regierung in Paris wie auch mit denen des gestürzten französischen Kaisers standen somit unter keinem guten Stern. Der Verzicht auf französisches Gebiet kam für beide nicht infrage. Ein Waffenstillstand, den Bismarck bereits Mitte September 1870, auf dem Weg nach Paris, der neuen Regierung angeboten hatte, scheiterte ebenfalls daran, dass er zu dem geforderten Verzicht auf die Annexionen nicht bereit war – ganz abgesehen davon, dass dieser nur Sinn gemacht hätte, wenn dem Waffenstillstand Verhandlungen über einen Frieden unmittelbar gefolgt wären. Doch dazu war die französische Seite nicht bereit, hätte sie damit doch auch die endgültige Niederlage eingestehen müssen.

Die Folge war eine Radikalisierung des Krieges, der sich nunmehr endgültig vom Kabinetts- zum Volkskrieg verwandelte. Trotz einer hohen Opferzahl zögerte dieser aber die endgültige Entscheidung nur hinaus. Nach letzten, vergeblichen Ausfällen aus Paris im Januar 1871 und dem Scheitern aller Entsatzversuche führte die vollständige militärische Niederlage dann zu einem Frieden zu deutschen Bedingungen, den Bismarck und der französische Außenminister Jules Favre am 10. Mai 1871 in Frankfurt am Main unterzeichneten. Die Höhe der geforderten Reparationen hatte Frankreich verringern können; die beiden Ostprovinzen blieben, von geringfügigen Grenzkorrekturen abgesehen, jedoch verloren. Formal herrschte damit Friede, aber auch Bismarck war sich von Anfang an darüber im Klaren, dass dieser fragil war und dass das neue Deutsche Reich durch diesen Frieden angesichts des unübersehbaren französischen Strebens nach Revanche auf Dauer »immobilisiert« war.

Nichts gelernt? Die Kriegszieldebatten im Ersten Weltkrieg

Als das Deutsche Reich Russland und Frankreich nach wochenlangen Spannungen Anfang August 1914 den Krieg erklärte, schien sich die Geschichte zu wiederholen. Der Anlass dazu, die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand, war dabei genauso unwichtig wie die Frage der Thronfolge eines Hohenzollern-Prinzen in Spanien 1870. Auch wenn es jetzt nach den Wertvorstellungen der Zeit um mehr als »nur« Ehre, nämlich »Sühne« für ein schändliches Verbrechen ging, rechtfertigte dieser Mord keineswegs einen Kontinental-, geschweige denn einen Weltkrieg. Soweit es die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn betraf, verschleierte das Motiv der »Sühne« insofern auch nur den Willen, die Kriegsbereitschaft der anderen Mächte zu testen, um auf dem Balkan wie auch in ganz Europa die Machtfrage zu stellen. Die russische Generalmobilmachung, aus russischer Sicht ein bewusstes Signal der Bereitschaft, die Unabhängigkeit eines kleinen, in seiner Existenz bedrohten Landes, nämlich Serbiens, zu verteidigen, war dann der Vorwand, nicht mehr nur mit einem Krieg zu drohen, sondern diesen als »Verteidigungskrieg« zu einem aus militärischer Sicht noch günstigen Zeitpunkt auch zu führen. Der Logik dieser Argumentation folgend, war es nur konsequent, alsbald auch weitreichende Kriegsziele zu formulieren. So wie das Militär den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnen sollte, sollte die Politik diesen Sieg nutzen, um Frieden, Sicherheit und Wohlstand dauerhaft zu sichern. »Sicherheit« für die Zukunft machte entsprechend dieser Logik die Forderung nach territorialen Gewinnen, Reparationen oder ökonomischen Vorteilen zum Imperativ deutscher Politik.

Das Deutsche Reich

Wie bereits 1870 waren die Deutschen, von ihrem schnellen Vormarsch im Westen berauscht, die ersten, die umfassende Ziele formulierten, um nach dem erhofften baldigen Sieg dem geschlagenen Gegner ohne unnötige Verzögerungen ihre Bedingungen diktieren zu können. Reichsleitung, Armee und Marine, die Regierungen der Bundesstaaten und nationale Verbände, Vertreter von Banken und Großindustrie überschlugen sich in ihrer Euphorie regelrecht bei der Formulierung von Kriegszielen, die die Landkarte Europas, aber auch der außereuropäischen Welt nachhaltig verändert hätten. Versuche der Regierung, durch ein Verbot öffentliche Debatten zu unterbinden, waren nur bedingt erfolgreich. Das berühmt-berüchtigte »Septemberprogramm« des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, aufgestellt im Jahr 1914 zu einem Zeitpunkt, als der Sieg im Westen zum Greifen nahe schien, versuchte, die Forderungen hinsichtlich der Gegner im Westen und im Osten zu bündeln. Dass die Umsetzung dieses Programms innerhalb weniger Tage auf unbestimmte Zeit vertagt werden musste, weil die deutschen Armeen nicht mehr siegten, sondern an der Marne eine erste schwere Niederlage hatten hinnehmen müssen, sei hier nur der Ordnung halber erwähnt. Dem Enthusiasmus, Kriegsziele zu formulieren, hat diese Niederlage kaum geschadet, sondern diesen im Gegenteil eher beflügelt.

Kriegsziele Deutschlands, 1914

Kriegsziele Deutschlands: Im Fall eines Sieges soll Deutschland, wie auf der Postkarte dargestellt, erweitert werden. Die abgebildeten Ziele entsprechen den Vorstellungen des Alldeutschen Verbandes

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Im Kern ging es bei den deutschen Forderungen darum, die Hegemonie des Reiches in Mitteleuropa durch eine Mischung von Annexionen – allen voran großer, militärisch und wirtschaftlich wichtiger Teile Belgiens und Frankreichs – und anderen Maßnahmen wie beispielsweise die Errichtung einer von Deutschland dominierten Zollunion zu sichern. Diffuser waren die Pläne für den Osten Europas; ein Frieden ohne den Gewinn von Raum, und das hieß für viele auch »Lebensraum«, erschien undenkbar. In letzter Konsequenz schlossen diese Forderungen die Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung von Anfang an mit ein. Vergleichsweise konkret waren demgegenüber die Pläne für die Gebiete außerhalb Europas, die die Besiegten abtreten sollten: Ganz Mittelafrika sollte deutsch werden. Fehlte England noch im »Septemberprogramm«, so legte die Marineführung bereits im Winter 1914/15 zunächst intern, 1916 auch gegenüber dem Kanzler nach: Strategisch wichtige Inseln und Stützpunkte auf den Meeren der Welt – die Färöer im nördlichen Atlantik und Murmansk an der Barentssee, Valona in der Adria, Malta, Gibraltar, das an ein verbündetes Spanien zurückgegeben werden sollte, und Alexandrette im Mittelmeer, die Kapverden, Madeira, die Kanaren im Atlantik, Madagaskar, Timor und Padang im Indischen Ozean sowie Tahiti in der Südsee, um nur einige zu nennen – sollten schließlich den Traum von einem großen überseeischen Reich ergänzen.

Völlige Maßlosigkeit

Nachdem die Kriegszieldiskussion 1916 auf Druck der Militärs öffentlich freigegeben worden war, öffnete der innere Zusammenbruch Russlands im Frühjahr 1917 dann alle Schleusen. In den Kreuznacher Kriegszielkonferenzen vom Frühjahr 1917 vereinbarten Oberste Heeresleitung und Reichsleitung ein Programm »völliger Maßlosigkeit im Osten und Westen«, so der Chef des Kaiserlichen Marinekabinetts, Admiral Georg Alexander von Müller. Die Zustimmung der nationalgesinnten Öffentlichkeit war ihnen gewiss. Die Revolution der Bolschewiki, das endgültige Ausscheiden Russlands aus dem Krieg und die anschließenden Verhandlungen mit diesem, den Nachfolgestaaten des zerfallenen Zarenreiches und Rumänien waren der Startschuss zur Besetzung großer Gebiete im Osten. Am Ende reichte die deutsche Einflusssphäre von Kurland, der Ukraine und Finnland über die Krim bis in den Kaukasus und das Kaspische Meer. Teils sollten dort deutsche Fürsten herrschen wie in Kurland oder Finnland, teils machten, wie in der Ukraine, deutsche Militärs klar, wer – Souveränität hin oder her – der »eigentliche Herr im Hause« war. In den einzelnen »Friedensverträgen« mussten die Besiegten wie etwa im »Brotfrieden« mit der Ukraine zusichern, dem Reich – zu Lasten der eigenen Bevölkerung – Lebensmittel, Getreide oder Rohstoffe zu günstigen Preisen zu liefern. (Deutschland und die Ukraine im Ersten Weltkrieg (bundeswehr.de) ) Der Friede von Bukarest vom Mai 1918, der Rumänien zu erheblichen Gebietsabtretungen an Bulgarien und die Donaumonarchie sowie zur Gewährung von besonderen Nutzungsrechten an den Ölvorkommen des Landes zwang, ging in die gleiche Richtung.

Alliierte Kriegsziele

Will man auf die Frage, warum es nicht gelang, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden, eine halbwegs plausible Antwort geben, dann kommt man nicht umhin, auch die Haltung der Alliierten, deren Kriegsziele und deren Friedenswillen in den Blick zu nehmen. Dabei fällt auf, dass ausgerechnet Russland, das in den ersten Kriegsmonaten schwere Niederlagen hinnehmen musste, vorpreschte. Mitte September 1914, fast zeitgleich mit der Abfassung des deutschen »Septemberprogramms«, übermittelte der französische Botschafter in St. Petersburg einen Bericht über die Ziele der russischen Regierung. Das russische Kriegszielprogramm enthielt weitreichende Gebietsabtretungen des Reiches im Westen, Norden und Osten. Zugleich sollte dieses seine Kolonien verlieren und zusammen mit Österreich-Ungarn eine Kriegsentschädigung zahlen. Letzteres wiederum sollte ebenfalls erhebliche Gebiete im Osten und auf dem Balkan abtreten und in Zukunft nicht mehr als Doppel-, sondern als Tripelmonarchie unter Stärkung der südslawischen Reichsteile, bestehend allein aus den historischen Kernlanden, fortbestehen. Mit dem Kriegseintritt der Türkei, später Bulgariens auf Seiten der Mittelmächte, gerieten auch diese in den Fokus russischer Annexionisten. Bosporus und Dardanellen, aber auch Gebiete im Osten der Türkei galten nunmehr als erstrebenswert.

Auch wenn die eigene militärische Lage, vor allem nach den schweren Niederlagen im Sommer 1915, die Umsetzung dieser Ziele immer weniger wahrscheinlich machten, rückten Zar Nikolaus II. und seine Minister – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – von diesen nicht ab. Gerade die eigene Schwäche gegenüber dem Deutschen Reich ließ es geboten erscheinen, auf einen gemeinsamen Sieg mit den Alliierten und damit verbundenen Annexionen zu setzen. Nur so konnte nach Meinung der russischen Führungsspitze die eigene Sicherheit gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Westen nach dem Kriege gewährleistet und, vor allem, die eigene autokratische Herrschaft auf Dauer gesichert werden. Im Frühjahr 1917, unmittelbar vor der Revolution, verständigten sich Russland und Frankreich noch einmal auf ein noch weitreichenderes Kriegszielprogramm: Frankreich sollte demnach bei der Festsetzung seiner Ost-, Russland bei der seiner Westgrenze freie Hand erhalten. Der Ausbruch der Revolution nur wenige Wochen später machte all diese Pläne gegenstandslos.

Kaiser Wilhelm II. und das Neue Jahr 1917, Karikatur aus L'Illustré National, 1916

Die Personifikation des Neuen Jahres 1917 trennt auf einer Landkarte die Westhälfte des Deutschen Reiches ab. Karikatur auf Kaiser Wilhelm II. und die Kriegsziele der Alliierten

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Anders als Russland hielt sich Frankreich bei der Formulierung von Kriegszielen erstaunlich lange zurück. Der Beginn des Krieges unterstrich einmal mehr das französische Interesse an Sicherheit vor dem als übermächtig empfundenen Deutschen Reich. Diese Sicherheit konnte es aus französischer Perspektive jedoch nur geben, wenn die Alliierten ohne Wenn und Aber zusammenhielten. Die Ablehnung jedweder »Sonderfriedensbestrebungen« hat hierin ihre wesentliche Ursache. Gleichwohl, ähnlich wie die anderen Staaten begann auch Frankreich im Verlauf des Krieges, seine Ziele zu definieren. Die Rückgabe von Elsass-Lothringen stand dabei für alle außer Frage; gleiches galt für die Frage von Reparationen, mit deren Hilfe die immensen Kriegsschäden im Norden, aber auch Osten des Landes behoben werden sollten. Auch die Wiederherstellung der belgischen Souveränität war, allein mit Rücksicht auf den britischen Alliierten, von Anfang an selbstverständlich. Je länger der Krieg dauerte und je mehr schließlich auch in Frankreich offen über die Frage der Kriegsziele diskutiert wurde, umso umfangreicher wurden die Wünsche. Das Bedürfnis nach Sicherheit und das Bestreben, diese nicht nur durch eine militärisch bessere Grenze, sondern auch größere wirtschaftliche Ressourcen zu untermauern, ließen dabei die Gebiete westlich des Rheins einschließlich der Kohlereviere an der Saar als erstrebenswert erscheinen. In welcher Form Frankreich hier herrschen wollte, blieb allerdings ungewiss, zögerte die französische Führung bei allen Interessen an diesen Gebieten doch, die dort lebende deutsche Bevölkerung zu französischen Staatsbürgern zu machen und damit plötzlich ihrerseits ein Minderheitenproblem zu bekommen.

Großbritannien wiederum, immer noch dominierende Welt- und Seemacht, hielt sich in der Diskussion um Kriegsziele eher zurück. Die Größe des Empire war ohnehin bereits gewaltig. Hinzu kam, dass Kriegsziele im Sinne von Annexionen auf dem europäischen Festland in Großbritannien kein Thema waren. Diese Haltung schloss allerdings nicht aus, das Deutsche Reich, seines wichtigsten globalen Machtinstruments, der Flotte, zu berauben. Relativ vage waren hingegen die Vorstellungen hinsichtlich möglicher Reparationen oder sonstiger ökonomischer Forderungen. Abgesehen von der Wiederherstellung Belgiens, später auch Serbiens und Montenegros hielten sich britische Politiker im Hinblick auf die Unterstützung des französischen Anspruchs auf Elsass und Lothringen lange zurück. Allein im Hinblick auf die deutschen Kolonien, die es sich mit Frankreich teilen wollte, hatte es konkrete Ambitionen. Gleiches gilt für das Osmanische Reich: Das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich 1916 sollte die Grundlage für eine koloniale Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens in klassischer imperialistischer Manier werden.

Die Vereinigten Staaten, die im April 1917 an der Seite der Alliierten in den Krieg eingetreten waren, verfolgten ihre eigenen Ziele. Im Gegensatz zu den europäischen Mächten ging es USUnited States-Präsident Woodrow Wilson nicht um Landerwerb. Daran hatten die riesigen USAUnited States of America kein Interesse. Wilsons »14 Punkte«, die am 8. Januar 1918 veröffentlich wurden, sollten nicht nur die bevorstehenden deutsch-russischen Verhandlungen in Brest-Litowsk torpedieren. Mit seiner Idee einer »neuen Weltordnung« und eines »gerechten Friedens« versuchte er vielmehr auch, der Lenin'schen Utopie vom Frieden durch Weltrevolution die liberale Utopie einer neuen Weltordnung, von »Frieden durch Recht«, Abrüstung, kollektive Sicherheit und Ausbreitung der Demokratie entgegenzusetzen. Die Formulierung dieser Utopie bedeutete aber nicht, auf konkrete Forderungen für die Zukunft Europas und Vorderasiens zu verzichten, so vage diese im Einzelnen auch formuliert waren. In seiner Substanz lief Wilsons Programm auf eine territoriale Neuordnung der alten europäischen Imperien hinaus. Die Forderung nach Autonomie der Völker der Donaumonarchie, die Abtretung der italienischsprachigen Gebiete und die Begrenzung des Osmanischen Reiches auf Kleinasien waren am Ende nichts anderes als eine verschleierte Zerschlagung dieser Staaten. Die gleichzeitig geforderte Errichtung eines polnischen Staates mit freiem Zugang zum Meer war neben der Abtretung Elsass-Lothringens an Frankreich ebenfalls ein weitreichender Schritt bei der Neugestaltung Europas und damit zugleich aber auch der Zurückdrängung des Deutschen Reiches.

Kriegsziele und Frieden – die Quadratur des Kreises?

Die Antwort auf die Frage, warum es weder 1870/71 noch 1914–1918 gelang, den Krieg durch einen echten Kompromissfrieden, geschweige denn einen Frieden, der den Status quo ante wiederherstellte, zu beenden, ist leicht, denn ein derartiger Versuch kam der Quadratur des Kreises gleich. Im Zeitalter von Nationalismus und Imperialismus war es, um mit dem Historiker Thomas Nipperdey zu sprechen, weiterhin »normal«, Kriegsziele zu formulieren. Landerwerb war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von jeher ein Ziel von Kriegen gewesen, auch wenn die Begründungen wechselten. Im Gegensatz zum Zeitalter der Kabinettskriege, in dem Monarchen allein darüber entscheiden konnten, ob sie den Krieg bis zur Erreichung der von ihnen angestrebten Ziele weiterführten oder sich angesichts allgemeiner Erschöpfung mit dem Status quo ante begnügten, war dies im Zeitalter des Volkskrieges nicht möglich.

In diesem spielte die Rechtfertigung der gewaltigen Opferzahlen des Krieges zunehmend eine zentrale Bedeutung. Nur wenn es den Kriegführenden gelang, diese durch Eroberungen und Reparationen mit Sinn zu versehen, konnten sie hoffen, die öffentliche Unterstützung und das eigene Regierungssystem zu erhalten. Der besiegte französische Kaiser und die besiegten russischen, deutschen und österreichischen Monarchen sowie der osmanische Sultan haben dies 1870 und 1917/18 erfahren. Ein Frieden nach der Formel des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates »Keine Annexionen, keine Kontributionen« war für die Kriegführenden im nationalen und internationalen Meinungskampf nicht wirklich attraktiv, gerade weil die Opfer so hoch waren und ein Frieden ohne Sieg nach innen einen systemsprengenden Charakter zu haben drohte. Die deutsche Debatte über die Friedensresolution des Reichstages von 1917, dessen Formel sich von der russischen gar nicht so sehr unterschied, und die sicherlich ernstgemeinten, aber am Widerstand in den eigenen Reihen gescheiterten Bemühungen von Reichskanzler Bethmann Hollweg im Laufe des Krieges, den Weg zu Verhandlungen zu ebnen anstatt diese durch überzogene Forderungen zu verschließen, sind dafür ebenso ein Beleg wie die Weigerung der Alliierten, Kompromisse überhaupt auszuloten, wenn der Gegner nicht bestimmten Mindestforderungen wie der Räumung Belgiens, Serbiens oder Montenegros noch vor Verhandlungen zustimmte.

Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919

Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919, Gemälde von William Orpen, um 1925

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Darüber hinaus fehlte in der damaligen Atmosphäre, die teils durch den »Zeitgeist« suggerierte, dass nur große Staaten dauerhaft lebensfähig seien, teils durch gezielte Propaganda aufgeheizt war, jede Phantasie für eine andere Kultur der Kriegsbeendigung als durch vollständigen Sieg. Niederlagen bedeuteten aus dieser Perspektive betrachtet hingegen Niedergang, Armut und Sturz der bestehenden Ordnung.

Der Versailler Vertrag und die anderen Pariser Vorortverträge waren insofern »Sieg-« oder »Diktatfrieden«. Sie waren nicht weise und reichten schon gar nicht an den Charakter des erwähnten Vertrags von Megiddo heran. Dies gilt auch für den Frankfurter Frieden, der 1871 den Deutsch-Französischen Krieg beendete. Bismarck hat dies eingesehen und versucht, den »Schaden« durch ein Zugehen auf Frankreich sowie eine komplizierte Bündnispolitik zu »reparieren«, auch wenn manche Widersprüche unübersehbar sind. Und die Pariser Friedensmacher? Ihr Ergebnis war, so der Historiker Jörn Leonhard, mit seinen »Widersprüchen, Belastungen und aufgeschobenen Problemen [...] besser als ein Scheitern der gesamten Friedenskonferenz, durch das die erschöpften Nachkriegsgesellschaften in eine unabsehbare Folge neuer Gewalt geschlittert wären. Mit all seinen Schwächen repräsentierte der Friedensschluss genau das, was im Sommer 1919 erreichbar war.« So schmerzlich es für die Besiegten war, aber viel weniger hätten die erschöpften Völker der Sieger kaum akzeptiert.

Und die Utopien Lenins und Wilsons? Sie waren Agenden für die Zukunft. Beide hatten ihren »Reiz«, waren aber, wie die Erschütterungen der folgenden Jahrzehnte zeigen sollten, aus vielfältigen politischen und wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und historischen Gründen keineswegs weltweit mehrheitsfähig. »Der Nationalstaat wurde nicht zum Akteur einer kollektiven Sicherheit, die Internationale der Friedensbewahrung blieb eine Chimäre«, so Jörn Leonhard. Beide Utopien standen zudem nicht nur wechselseitig in Konkurrenz zueinander, sondern sie vergaßen auch, dass die mit ihnen verknüpfte missionarische Idee aus der Perspektive der Anhänger der jeweils anderen als kaum weniger friedensgefährdend angesehen werden konnte als die Ideologien von Nationalismus und Imperialismus, die sie hatten überwinden wollen.

Unvergleichliches vergleichen

Kriege, Kriegsziele und Friedensordnungen der Vergangenheit mit Entwicklungen der Gegenwart zu vergleichen, läuft, wie alle historischen Vergleiche, oft Gefahr, die berühmten Äpfel und Birnen miteinander zu vergleichen. Dennoch zeigt allein die oberflächliche Betrachtung, dass die russischen Begründungen für den nur notdürftig als »Spezialoperation« bemäntelten Aggressionskrieg gegen die Ukraine Argumente enthalten, die wir aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert kennen, die ihre Legitimationskraft im Zeichen der Entwicklung internationaler Ordnungsprinzipien entlang der Wilson'schen Utopie aber schon lange verloren haben. Dazu gehören der Rückgriff auf angeblich historische Rechte, daraus abgeleitete territoriale Forderungen, der Hinweis auf die vermeintlich bedrohte Sicherheit des Landes und die Charakterisierung des Angriffs als Verteidigungskrieg. Dieses Konglomerat von Argumenten und Kriegszielforderungen macht die Suche nach Frieden, wie nach dem Ersten Weltkrieg, zur Quadratur des Kreises, da sie jeden Kompromiss aufgrund seines systemsprengenden Charakters ausschließt. Vor allem aber: Nichts offenbart den nationalistischen und imperialistischen Charakter dieses Krieges so sehr wie die eklatante Verletzung internationaler Verträge und Normen. Das 21. Jahrhundert ist eben nicht mehr das 19. Jahrhundert, und so schwach die internationale Staatengemeinschaft manchmal auch erscheinen mag, sie ist gut beraten, allen Versuchen entgegenzutreten, wie Wladimir Putin internationale Verträge mit den Ketten seiner Panzer zu zerreißen, um skrupellos Annexionen durchzusetzen.

Zudem: Wer die Anerkennung von Annexionen zur Voraussetzung von Frieden macht, verhindert diesen letztlich. Dies zwingt die internationale Staatengemeinschaft, zumindest aber die demokratischen Staaten Europas und der Welt, geradezu zur politischen und militärischen, ökonomischen und finanziellen Unterstützung der angegriffenen Ukraine unterhalb der Schwelle zu einem weitere Staaten involvierenden Krieg. Entschlossenheit und politische Weisheit sind ebenso gefordert wie der Wille zum Durchhalten. Die Idee eines »Friedens durch Recht«, abgesichert durch eine neue »Weltordnung«, war eine der großen Lehren der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, zumal des Zweiten Weltkrieges. Aggression darf sich daher nicht mehr lohnen.


Literaturtipps

Dagmar Schediwy, Der Erste Friedensvertrag der Welt. In: Spektrum Geschichte (https://www.spektrum.de/news/aegypter-und-hethiter-der-erste-friedensvertrag-der-welt/2018671, zuletzt: 04.02.2023).
Eberhard Kolb, Der Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870/71, München 1990.
Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014. 

DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-620


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