Am Rande des Schlachtens
Am Rande des Schlachtens
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Die Artillerie donnert, während Chirurg Dmytro mit anderen Medizinern die Verwundeten für den Weitertransport ins Hinterland stabilisiert. Für das russische Militär sind er und sein Team ein Ziel.
Ein Beitrag des Kriegsfotografen Till Mayer zu unserem Ukraine-Dossier.
Bachmut, Frontlinie, Frühling 2023: Irgendwo zwitschert ein Vogel. Sonnenstrahlen wärmen die Mauer auf. Daran lehnen Tragen. Das Blut darauf ist eingetrocknet. Die Häuser in der Nachbarschaft sind verlassen: Leere Fensterhöhlen glotzen auf grauen Asphalt. Druckwellen haben einige der Dächer abgedeckt, bei anderen ist das Dachgestühl nach Treffern ausgebrannt. Einem Baum hat ein Einschlag die Krone abgerissen.
Jetzt wummert die Artillerie. Braaaamm, braammm, in der Ferne Einschläge. Dann ein scharfer Knall, die Antwort einer ukrainischen Haubitze. Alles weit genug entfernt. Der Soldat, der hinter der Eingangstüre sitzt, blickt nicht einmal auf. Er schneidet mit seinem Kampfmesser Hartwurst und Weißbrot in Scheiben und legt Energieriegel auf ein Tischchen. „Für die Sanitäter. Sie brauchen Kraft, nachdem sie es mit den Verwundeten zu uns geschafft haben“, sagt er. Auch Kaffee und Tee stehen bereit.
Hinter ihm führt ein Gang zum Operationssaal mit zwei OP-Tischen. Im Dämmerlicht des Gangs sitzen drei Sanitäterinnen, eine noch in voller Einsatz-Montur mit schusssicherer Weste und dem Helm auf dem Kopf. Ihre Einheit hatte schwere Verluste. Einen Verletzten konnten sie bringen, andere ihrer Kameraden haben es nicht geschafft. Jemand legt wortlos eine Packung Taschentücher neben sie auf die Bank. Die junge Frau kämpft, nicht zu weinen. Dann legt sie kurz die Hände vor ihr Gesicht.
Ein dunkler Raum schließt sich an den OP-Saal an. Das Licht ist aus, vom Nachbarraum fällt ein wenig Licht herein. Wie in allen Räumen haben Sperrholzplatten die Fensterscheiben ersetzt. Kein Glas bedeutet keine Splitter. Einschläge in der Nähe des Gebäudes hat es schon einige gegeben. Chirurg Dmytro versucht, im Halbdunkel ein wenig Ruhe zu finden. “Heute ist es zumindest ruhiger als gestern“, sagt er. 15 schwere Fälle täglich, das sei der Schnitt. Der 42-Jährige trägt einen dunkelblauen Wollpullover, den er in die Tarnhose gestopft hat. Der braune Ledergürtel hält alles zusammen. Irgendwie sieht er aus wie ein Skipper. Kein so unpassender Vergleich. „Vor der Invasion habe ich meinen Bootsschein gemacht“, erzählt er später. Blickt er in das Licht, das durch die Türe fällt, sieht man müde, hellblaue Augen unter seinem silber-blonden Scheitel.
Die Unbarmherzigkeit des Krieges
Dmytro versorgt mit einem Medizinerteam Verwundete der nahen Front bei Bachmut. Dort findet seit Monaten ein grausames Schlachten statt. Es ist ein unbarmherziger Kampf, Straße um Straße, Hauszeile um Hauszeile. Seit Sommer 2022 stürmen die russischen Truppen auf die Stadt. Bachmut ist in weiten Teilen ein Trümmerfeld, die Zerstörung ist allgegenwärtig. Die Artillerie feuert unablässig. Tausenden ukrainischen Soldaten und russischen Wagner-Söldnern hat das bisher das Leben gekostet, aber auch Zivilisten und ihren Helfern. Bachmut ist zum Inbegriff für die Hölle des russischen Angriffskriegs geworden.
Dmytros Auftrag ist eine Erstversorgung der Verwundeten und die Stabilisierung für den Weitertransport ins Hinterland. Dort werden sie dann in Krankenhäusern und Spezialkliniken operiert. „Aufgrund der Straßenkämpfe haben wir viele Schussverletzungen“, sagt er. Durch die schweren Artilleriegefechte kommt es zu Polytraumen. Der Einschlag einer Granate kann zu mehrfachen Verletzungen führen: Verbrennungen, der enorme Druck schädigt das Gehör und kann innere Blutungen verursachen, Schrapnelle fressen sich in das Gewebe. Durch die Explosion werden Körper oft durch die Luft geworfen, das endet mit Frakturen und ebenfalls inneren Verletzungen. Trümmer landen auf den Soldaten, sie führen zu Brüchen und schweren Quetschungen.
„Dann gibt es noch die Probleme mit Landminen und Sprengfallen“, so der Mediziner weiter. Die Explosionen enden nicht selten in Notoperationen. „Wir müssen dann eine erste Amputation vornehmen – wenn zum Beispiel die Knochen durchtrennt sind, das Körperteil nur noch durch Haut und Fleisch verbunden am Körper hängt. Unsere Amputation ist eine Erstversorgung, der in der Regel eine weitere in einem Hospital folgt. Wir haben aufgrund einer fehlenden Kühlung auch kein Blutplasma, können nur Trockenplasma nutzen“, schildert der Chirurg in seinem Ruheraum. Dann wird er zum Einsatz gerufen.
Versorgung an der Front
Der bärtige Soldat, der bäuchlings auf dem OP-Tisch liegt, ist ein vergleichsweise leichter Fall. Ein Splitter steckt im Gewebe des Rückens, sensible Blutgefäße scheinen nicht in Gefahr zu sein. „Das bekommen wir gut hin“, erklärt Dmytro. Der Soldat stöhnt leise vor Schmerzen und bekommt Morphium. Der zweite Chirurg, Kyrill, übernimmt. Dmytro untersucht die blutende Hand eines Soldaten, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem zweiten OP-Tisch liegt. Das Blut tropft auf den Boden. Ein Sanitäter legt einen neuen Verband an. Dmytro eilt in einen Nebenraum. Dort warten drei Männer, die eine Explosion überstanden haben. Der Arzt leuchtet in ihre Ohren, ob die Gehörgänge unversehrt sind. Derweil legt eine Sanitäterin bei den drei Soldaten Infusionskanülen für den Tropf. Die Nadel sticht bei einem Hünen direkt in das Auge eines in den Oberarm tätowierten Totenkopfs.
„Alles unter Kontrolle, alle versorgt“, sagt Dmytro. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen, wie wir hier leben“, bietet er an. Der Arzt führt in den Untergrund des Hauses. Im Keller ist es kalt. Nackte Glühbirnen geben spärlich Licht. „Aber jetzt ist Frühling. Im Winter hatten wir hier unten gerade einmal plus fünf Grad. Im OP-Saal waren es plus zehn“, berichtet er. Seit Ende Januar halten die Mediziner hier die Stellung. Dann öffnet er eine Tür und steht in der „Küche“. In Regalen sind fein säuberlich Lebensmittel eingereiht, es gibt einen kleinen Gasherd. Dmytro steht im Lichtkegel. Dahinter zieht sich der Raum im Dämmerlicht in die Länge. Hier steht Bett an Bett. „Der Keller ist ein guter und stabiler Schutzraum. Das ist wichtig bei all den Einschlägen rund herum“, erklärt Dmytro.
Auf dem Dach des Gebäudes ist kein Rotes Kreuz auf weißem Grund als Schutzzeichen angebracht. Dabei wäre das kleine Frontkrankenhaus durch die Genfer Konventionen besonders geschützt. Die Ambulanzen, die aus der Kampfzone kommen, rattern schnell weiter, sobald die Verwundeten im Haus sind, damit Drohnen das Gebäude nicht lokalisieren können. „Wüssten die Russen, dass wir hier die Verletzten behandeln, sie würden uns mit ihrer Artillerie in Stücke schießen. Je weiter die Stabilisierungspunkte von der Front entfernt sind, desto mehr Verwundete sterben auf dem längeren Weg dorthin. So perfide rechnet das russische Militär“, sagt der Chirurg, als er über Betonstufen wieder nach oben geht.
24/7 in Bereitschaft - auch für russische Soldaten
„Dabei versorgen wir auch russische Verwundete. Ich bin Arzt, da ist es meine Pflicht. Nicht zu vergessen, jeder russische Soldat, dem wir das Leben retten, kann später als Gefangener gegen einen ukrainischen Soldaten getauscht werden“, fügt der Mediziner hinzu. Seit Tag Eins der Invasion ist Dmytro im Einsatz. Er meldete sich bei der Territorialverteidigung als Sanitäter. Dann trat er in die Armee als Chirurg ein. Vor dem 24. Februar hatte er eine eigene Firma, die medizinische Analysen erstellte. „Sie war recht erfolgreich“, sagt er.
Seit dem 24. Februar 2022 hatte Dmytro keinen Urlaub mehr. „Hier heißt es 7/24 einsatzbereit sein“, erklärt der Arzt. Das geht an die Substanz. Seine Partnerin sieht er seit über einem Jahr nur online. Eine Starlink-Verbindung macht das immerhin selbst an der Front möglich. „Meine beiden Kinder aus erster Ehe sind in Deutschland. Sie in Sicherheit zu wissen, das ist eine Erleichterung für mich“, sagt der Militärarzt. „Es gab auch Augenblicke, da dachte ich, ich schaffe das alles nicht mehr. Einmal, als wir tagelang im Hinterland warteten. Nichts zu tun, mit dem Grübeln anzufangen, das ist das Schlimmste. Geliebte Menschen fehlen mir, wie allen hier. Stattdessen gibt es nur den Krieg“, meint Dmytro.
Für die Zeit nach dem Krieg hat Dmytro schon einen Plan. „Nach dem Sieg geh ich segeln. Ich weiß noch nicht, auf welchem Meer, vor welcher Küste. Aber davon träume ich“, sagt der Skipper lachend. An seine Kollegen in Deutschland hat er eine Nachricht. „Wir brauchen eine umfangreiche Einweisung für unser Sonographie-Gerät. Wenn da jemand kommen könnte. Nicht hier an die Front, das ist zu gefährlich. Aber nach Kramatorsk. Wir wären dankbar.“
Literaturtipp
Till Mayer, Ukraine – Europas Krieg, Bamberg 2022.
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