Ukraine-Dossier: Kampfzone Schwarzes Meer

Die Marinen und maritimen Interessen der Schwarzmeeranrainer

Die Marinen und maritimen Interessen der Schwarzmeeranrainer

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Während des noch andauernden Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine finden Kampfhandlungen nicht nur an Land, in der Luft und im Cyberraum, sondern auch auf See statt. Das Schwarze Meer ist ein Binnenmeer, dessen Anrainer bis auf Georgien entweder Konfliktpartei oder aber Mitglied der NATO sind.

Russische Fregatte „Admiral Essen“

Moderner Seekrieg: Die russische Fregatte „Admiral Essen“ feuert eine Flugabwehrrakete auf eine ukrainische Drohne des Typs Bayraktar TB2 ab, April 2022

IMAGO/Cover-Images

Für die meisten Bürger der EU und Russlands dürfte das Schwarze Meer bis zum Frühjahr 2022 vor allem ein touristischer Begriff gewesen sein: Warna und Sewastopol waren und sind die touristischen Hochburgen an seiner West- und Nordküste. Doch bereits mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 durch Russland rückte auch dessen militärische Relevanz in den Fokus europäischer und transatlantischer Sicherheitspolitik. Infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sprang es förmlich in den Blickpunkt der medialen Öffentlichkeit.

Das Schwarze Meer ist ein Binnenmeer an der geostrategisch wichtigen Schnittstelle zwischen Südosteuropa und Asien. Deshalb prallen in dieser Region sowohl maritime und kontinentale als auch geostrategische Interessen aufeinander. Seine Anrainer sind in drei Gruppen zu unterteilen: im Norden Russland, im Westen und Süden die NATO-Staaten Bulgarien, Rumänien und Türkei sowie im Norden und Osten die Ukraine und Georgien. Verbunden ist es durch die Meeresenge von Kertsch mit dem Asowschen Meer, das aus russischer Perspektive eine Einheit mit dem Schwarzen Meer bildet. Einen Zugang zur offenen See besitzt das Schwarze Meer nur über die von der Türkei kontrollierten Meerengen der Dardanellen und den Bosporus. Dem Binnenmeer wohnt aber auch eine große wirtschaftliche Relevanz für China als Teil seiner Neuen Seidenstraße (chin. „Ein Gürtel, eine Straße“) inne. Somit treffen dort die Interessen mehrerer Groß- und Regionalmächte sowie multinationaler Organisationen aufeinander. Dies zeigt seit Februar 2022 deutlich und nachhaltig der Krieg in der Ukraine auf.

Seeherrschaft im Waffenverbund

Im maritimen Bereich sind die Seestreitkräfte üblicherweise die Mittel zur militärischen Machtausübung. Weil das Schwarze Meer ein Binnenmeer ist, spielen weitreichende Flugabwehrsysteme, Landstreitkräfte, Luftstreitkräfte und weitreichende Küstenraketenbatterien eine ebenso wichtige Rolle wie Schiffe und Boote. In der aktuellen Auseinandersetzung verursachten keine Schiffe oder Boote die größten Schiffsverluste, sondern von Land aus eingesetzte Waffensysteme. Es muss daher eher von einem amphibischen Waffenverbund gesprochen werden. Zur Erlangung und zum Ausüben der Seeherrschaft auf der offenen See spielen die Marinen noch immer die herausragende Rolle.

Der größte militärische Akteur im Schwarzen Meer ist die NATO, repräsentiert durch die drei dort ansässigen Bündnismarinen, gefolgt von der russischen Schwarzmeerflotte. Im Frieden und in Spannungsphasen entsandte die Allianz als Zeichen ihres Interesses an Stabilität in der Region immer wieder ihre ständigen NATO-Einsatzverbände Standing NATO Maritime Group 2 (SNMG2) oder Standing NATO Maritime Countermeasures Group (SNMCMG2) in das Binnenmeer. Aber nur die drei Marinen Bulgariens, Rumäniens und der Türkei dürfen dort für das transatlantische Bündnis permanent Seestreitkräfte stationieren. Grundlage dafür ist das 1936 geschlossene Abkommen von Montreux, das der Türkei die vollkommene Souveränität über die westlichen Meerengen garantiert.

Fregatte türkische Marine

Die Fregatte der türkischen Marine „Yavus“ während einer gemeinsamen Patrouille im Schwarzen Meer an der Seite ihrer NATO-Partner, 12. November 2021

imago images/ZUMA Wire

Nichtanrainer dürfen nur Kriegsschiffe mit maximal 10 000 Tonnen Verdrängung und einer Flotten-Gesamttonnage von 30 000 Tonnen für maximal 21 Tage in das Binnenmeer entsenden. Insgesamt sind nicht mehr als 45 000 Tonnen an Kriegsschiffen von Nicht-Anrainern im Schwarzen Meer erlaubt. Das Abkommen von Montreux verschaffte der Türkei letztendlich eine geostrategische Schlüsselposition. Seit dem 28. Februar 2022 sperrt die Türkei die Passage für Kriegsschiffe, was die maritime Kräfterelation vom Kriegsbeginn konserviert.

Die russische Schwarzmeerflotte

Der zweitgrößte maritime Akteur im Schwarzen Meer ist die russische Schwarzmeerflotte. Schon Zar Peter I., der Große, strebte nach der Krim und Zarin Katharina II., die Große, annektierte sie nach dem Russisch-Türkischen Krieg 1768–74 am 8. April 1783. Anerkannt wurde die Besitzname durch das Osmanische Reich erst im Vertrag von Jassy am 9. Januar 1792. Die russische Gründung Sewastopols erfolgte 1793 maßgeblich durch die Flotte. Seitdem war die Stadt Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Die erbitterten Verteidigungskämpfe um den Hafen und die Festung im Krimkrieg von 1854/55 und während des Zweiten Weltkrieges 1941/42 begründeten den ruhmreichen Nimbus der russischen bzw. sowjetischen Schwarzmeerflotte und des „urrussischen“ Kriegshafens, der bis heute eine große Strahlkraft im kulturellen Gedächtnis vieler Russen besitzt.

Die heutige Schwarzmeerflotte ging aus der 1991 aufgelösten sowjetischen hervor, deren Erbe bis 1997 ein offener Streitpunkt zwischen der Ukraine und Russland war. Erst der russisch-ukrainische Flottenvertrag vom Mai 1997 regelte die Aufteilung der Flotte (18,3 % Ukraine und 81,7 % Russische Föderation), die Nutzung des Flottenstützpunkts Sewastopol und weiterer Stützpunkte auf der Krim auf Basis einer Pacht, die mit Gaslieferungen Russlands an die Ukraine verrechnet wurden. Demgemäß durfte Russland in den dortigen Stützpunkten bis zu 25 000 Soldaten, 132 gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 22 Luftfahrzeuge und 24 Artilleriesysteme stationieren. In Kraft trat der Vertrag erst 1999. Bis 2014 schöpfte Russland die Limits nie aus. Am 21. April 2010 unterzeichneten beide Länder die sogenannten Charkiw-Verträge, die Russland eine weitere Nutzung der Stützpunkte bis 2042 gestatteten. Nach der Annexion der Krim kündigte Russland den Vertrag am 31. März 2014 einseitig auf und übernahm gleichzeitig den größten Teil der ukrainischen Flotte. Mehr als 5000 ukrainische Seeleute liefen in der Folge freiwillig zu den Russen über. Zwar wurde ein Teil der Schiffe im Frühsommer 2014 wieder an die Ukraine zurückgegeben, doch die Rückgabe bereits am 5. Juli 2014 wieder ausgesetzt.

Der maritime strategische Schwerpunkt Russlands verlagerte sich nach den Gebietsannexionen in der Ukraine 2014 immer stärker in diese Region. Bis 2022 wurde ihrer Modernisierung zu Lasten der Ostseeflotte im Rahmen der russischen maritimen Strategie von 2015 eine hohe Priorität eingeräumt. Gleichzeitig erkannte die Militärführung den amphibischen Charakter der Region und beschloss 2017 eine Verbesserung der teilstreitkraftgemeinsamen (Joint-)Fähigkeiten seiner Truppen. Dies manifestierte sich in der massiven Aufrüstung der Krim. Bereits 2018 waren dort etwa 32 000 Soldaten, 40 Panzer, 174 Artilleriesysteme und 113 Luftfahrzeuge stationiert. Das war mehr als eine Verdreifachung des Umfangs der Kräfte und es lässt sich darin auch schon die Schwerpunktsetzung der russischen Streitkräfte auf Artillerie ablesen. Abgerundet wird das Arsenal durch moderne S-400-Flugabwehrraketensysteme und „Iskander“-Seeziel-Marschflugkörper.

Der eisfreie Tiefwasserhafen Sewastopol ist der Hauptstützpunkt der Flotte, dort waren zu Kriegsbeginn etwa 80 Prozent der Kampfeinheiten stationiert. Es ist der einzige große russische Tiefwasserhafen am Schwarzen Meer. Weitere Stützpunkte auf der Krim sind Jewpatorija, Saky und Feodossija. Der größte Schwarzmeer-Stützpunkt auf russischem Territorium ist Noworossijsk an den Ausläufern des Kaukasus. 2022 eroberten die russischen Streitkräfte die ukrainische Basis Berdjansk. Seitdem beherrscht Russland die gesamte nördliche Zentralregion und den Nordosten des Meeres mit seinen Stützpunkten.

Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“

Der russische Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“ fährt am 7. September 2014 bei Istanbul durch den Bosporus ins Mittelmeer. Die „Moskwa“ war bis zu ihrem Untergang am 14. April 2022 das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte

picture alliance / dpa

Der Untergang der „Moskwa“

Die russische Schwarzmeerflotte stellt gegenwärtig eine Mischung aus alten sowjetischen Schiffen und kampfkräftigen Neubauten dar. Kern der modernen Flotte sind drei Fregatten der „Admiral-Grigorowitsch“-Klasse, vier Korvetten der „Bujan-M“-Klasse, vier Korvetten der „Wassili-Bykow“-Klasse und sechs U-Boote vom Typ „Kilo-III“. Diese Schiffe verfügen auch über moderne Cruise-Missile des Typs SSSchutzstaffel-N-30 „Kalibr“. Daneben sind noch viele alte Kriegsschiffe der Typen „Kriwak“, „Tarantul“ und „Ropucha“ im Einsatz. Gerade die amphibischen Landungsschiffe der „Ropucha“-Klasse sind Ausdruck des offensiven strategischen Ansatzes der russischen Marine. Noch kurz vor dem Beginn des Angriffskrieges hatte die russische Marine zusätzliche Landungsschiffe aus der Ostsee in das Schwarze Meer verlegt.

Die Flotte umfasste zum Kriegsbeginn etwa 50 Kriegsschiffe. Flaggschiff war bis zum 14. April 2022 der 1982 als Typschiff seiner Klasse unter dem Namen „Slawa“ in Dienst gestellte Raketenkreuzer, der seit 1996 den Namen „Moskwa“ trug. Die etwa 10 000 Tonnen verdrängende „Moskwa“ war das Kriegsschiff, dem bei Kriegsbeginn die höchste Kampfkraft im gesamten Schwarzen Meer zugeschrieben wurde. Diese leitet sich allgemein aus dem Zusammenspiel von Militärtechnologie, technischem Zustand der Schiffe, Ausbildung der Besatzung, logistischer Versorgung und Moral der Einheiten ab. Auf der „Moskwa“ scheint es allerdings in mehreren dieser Bereiche deutliche Defizite gegeben zu haben. Mit zwei landgestützten „Neptun“-Seezielflugkörpern gelang es der Ukraine, mithilfe USUnited States-amerikanischer Aufklärungsergebnisse den Kreuzer in der Nähe der Schlangeninsel am 13. April katastrophal zu treffen. Er sank einen Tag später. Der größte Verlust eines Kriegsschiffes in Kampfhandlungen seit dem Zweiten Weltkrieg war ein herber Rückschlag für die russische Marine und die russische Armee insgesamt, der auch durch Propaganda nicht verharmlost werden konnte. Fast schon wie eine Ironie der Geschichte wirkt es, dass die „Moskwa“ zur Flugabwehr optimiert wurde und die eigene Flotte schützen sollte. Ohne eine temporäre Luftherrschaft oder ausgeprägte maritime Flugabwehr dürften amphibische Operationen gegen die ukrainische Küste damit vorerst unmöglich geworden sein.

In der Defensive

Der Untergang der „Moskwa“ beendete die erste Phase des russischen Seekriegs im Schwarzen Meer. In dieser agierte die Flotte zunächst offensiv, besetzte die strategisch wichtige Schlangeninsel und bedrohte durch mögliche amphibische Operationen im Rücken der Landfront mit seinen Landungsschiffen die ukrainische Küste in der Region Cherson und Odessa. Der Verlust eines Landungsschiffs vor Berdjansk durch ukrainische Flugkörper sowie der „Moskwa“ führte zu einem defensiveren Ansatz ab Ende April. Während dieser zweiten Phase kontrollierte die russische Flotte zwar das nördliche Schwarze Meer und übte dort die Seeherrschaft aus, doch nur bis zur Reichweite ukrainischer Küstenbatterien. In dieser Zeit verschoss die Flotte „Kalibr“-Marschflugkörper zur Unterstützung der Landkämpfe und auf strategische Ziele. Allerdings gelang es der Ukraine, im Küstenvorfeld ihre Stellung durch den geschickten Einsatz von Drohnen und Küstenbatterien auszubauen. Ende Juni eroberte sie sogar die Schlangeninsel zurück. Das leitete die dritte Phase ein, in der die russischen Seestreitkräfte bis auf die Blockade der ukrainischen Seeverbindungslinien und den „Kalibr“-Beschuss nicht mehr in Erscheinung traten. Seit Ende September deutet sich in Folge der ukrainischen Gegenoffensive an der Landfront ein Rückzug der Schwarzmeerflotte in weiter von der Front entfernt liegende Stützpunkte am russischen Teil der Schwarzmeerküste an. Während des bisherigen Kriegsverlaufs konnte kein verbundener und koordinierter Einsatz von Marinefliegerkräften vom Fliegerhorst Saky auf der Krim beobachtet werden. Das deutet auf kommunikative Defizite, mangelhafte Führungsfähigkeit und fehlendes Training bzw. Einsatzkonzepte für die Seekriegführung aus der Luft hin.

Mit Artillerie, Flugkörpern und Drohnen zerstörten die ukrainischen Streitkräfte anscheinend noch mehr als zehn weitere russische Schiffe und Boote. Dies ist ein Ausdruck des amphibischen Charakters der maritimen Kriegführung in diesem Gebiet. Neben den feindlichen Seestreitkräften geht auch von Land und aus der Luft eine erhebliche Bedrohung für Schiffe und Boote aus. Die ukrainischen Erfolge verhinderten wahrscheinlich von Russland geplante Landungsoperationen. Am 9. August 2022 geriet die Krim selbst in die Reichweite ukrainischer Luftschläge, als der Marinefliegerhorst Saky angegriffen wurde. Dabei verloren die russischen Marineflieger mindestens acht Flugzeuge. Auch das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte wurde bisher zweimal durch ukrainische Flugdrohnen anvisiert.

Der zweitgrößten Flotte im Schwarzen Meer gelang es nicht, die Seeherrschaft vor der gegnerischen Küste zu etablieren. Im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive im Frühherbst 2022 wurde die Stationierung der vulnerablen russischen U-Boote in Sewastopol anscheinend zu riskant, weshalb am 20. September deren Rückzug in das weiter von der Front entfernte Noworossijsk begann. Die Verwundbarkeit Sewastopols trat am 29. Oktober offen zu Tage, als mehrere Drohnen auf der Wasseroberfläche Schiffe im Hafen angriffen und beschädigten. Erstmals in der Seekriegsgeschichte erfolgte ein koordinierter Angriff mit selbständig auf dem Wasser fahrenden Seedrohnen.

Hafenblockaden und Getreideabkommen

Der Schwarzmeerflotte gelang jedoch die Blockade der ukrainischen Häfen. Außerhalb des Aufklärungs- und Wirkbereichs des ukrainischen Waffenverbundes konnten die russischen Seestreitkräfte zudem erfolgreich die Seeverbindungslinien abriegeln, wofür sie auch Minen einsetzten. Das hatte und hat massive Auswirkungen auf den Außenhandel, weil keine Seetransporte mehr zur und von der Ukraine stattfanden. Gerade der auf Schiffstransporte angewiesene Export von Getreide und anderen Massengütern war und ist mit erheblichen ökonomischen Folgen für die Weltwirtschaft verbunden. Denn die Ukraine ist nicht nur eine der wichtigsten Getreide-, sondern auch eine der wichtigsten Düngemittelproduzentinnen weltweit. Erst auf Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei gestattete Russland im sogenannten Getreideabkommen vom 22. Juli 2022 die Ausfuhr von Getreide, anderen Lebensmitteln, Dünger und Ammoniak aus den drei ukrainischen Häfen Odessa, Tschornomorsk/Tschernomorsk und Juschne/Juschnoje entlang eines festgelegten Korridors. Das Abkommen war 120 Tage bis zum 19. November 2022 gültig und wurde um weitere 120 Tage bis 11. März 2023 verlängert. Um sicherzustellen, dass keine Güter exportiert werden, die auf der Sanktionsliste stehen, die u.a. die USAUnited States of America und die EU gegenüber Russland verhängt haben, kontrolliert ein am 27. Juni in Istanbul eingerichtetes Joint Coordination Centre die daran beteiligten Schiffe beim Einlaufen und Verlassen des Schwarzen Meers mithilfe von Inspektionsteams. Im Koordinierungszentrum sind Vertreter Russlands, der Ukraine, der Türkei und der UNUnited Nations tätig. Russland nutzte die Androhung zur Aussetzung das Abkommen bisher mehrfach als Hebel, um Druck auf die Ukraine und die internationale Gemeinschaft bzw. den Westen auszuüben.

Abkommen zum Getreideexport

Häfen und Route für das russisch-ukrainische Abkommen zum Getreideexport, Stand 28. Juli 2022

dpa-infografik GmbH

Betrachtet man den Einsatz der russischen Schwarzmeerflotte seit Kriegsbeginn lässt sich darüber hinaus feststellen, dass ihr als Folge der westlichen Sanktionen zusehends die Präzisionsmunition ausgeht. Die Angriffe mit „Kalibr“-Marschflugkörpern auf Punktziele in der Ukraine haben deutlich abgenommen. Seit Sommer 2022 erfolgt der Einsatz der Schwarzmeerflotte nur noch sporadisch. Bis dahin folgte die russische Seekriegführung noch primär dem Konzept des hochintensiven Seekrieges auf Basis der Erfahrungen des Kalten Krieges und der Kampfeinsätze der NATO, wie die Operationen Deliberate Force 1995 und Allied Force 1999, oder der russischen Flotte im syrischen Bürgerkrieg. Seit dem Herbst führt Russland verstärkt Drohnenangriffe durch. Anscheinend deutet sich hier ein Wandel in der Kriegführung hin zu billigen unbemannten und autonomen Waffensystemen in den russischen Streitkräften an. Auf diesem Feld agierten die ukrainischen Streitkräfte von Anfang an kreativer und optimierten die Kriegführung mit Drohnen.

Die ukrainische Marine

Die zweite am Krieg beteiligte Flotte ist die der ukrainischen Marine. Wie bereits dargestellt, ging auch die ukrainische Marine aus der Konkursmasse der sowjetischen Schwarzmeerflotte hervor. 18 Prozent dieser sollten in den Besitz der Ukraine übergehen. In ukrainischen Werften lagen auch noch viele nicht fertiggestellte Schiffe aus der Sowjetära. Weil Sewastopol als wichtigster Marinestützpunkt auf ukrainischem Boden von der russischen Marine genutzt wurde, richtete die Ukraine ihr Hauptquartier in Odessa ein. Der dortige ehemalige sowjetische Marinestützpunkt wurde fortan zum wichtigsten der ukrainischen Marine. Auf der Krim wurden bis 2014 drei weitere kleine Stützpunkte genutzt. Andere Basen sind Mykolajiw/Nikolajew und das 2022 von Russland eroberte Berdjansk am Asowschen Meer. Deshalb beschränkt sich das ukrainische maritime Operationsgebiet seit dem Verlust großer Teile der ukrainischen Schwarzmeerküste an Russland nur noch auf deren Nordwesten.

Die operativen Fähigkeiten der ukrainischen Marine sind auf den Küstenschutz beschränkt. Bis zu seiner Selbstversenkung im März 2022 war das ukrainische Flaggschiff eine „Kriwak-III“-Fregatte sowjetischer Bauart, die auch an internationalen Operationen wie Operation Active Endeavour (2008) oder Operation Ocean Shield (2014) teilnahm. Ansonsten stehen der Flotte nur noch wenige Schnell- und Patrouillenboote zur Verfügung. Eine genaue Angabe der ukrainischen Boote und Luftfahrzeuge ist wegen des gegenwärtig stattfindenden Krieges nicht möglich. Die ukrainische Marine war und ist der russischen Schwarzmeerflotte an Schiffen und Booten klar unterlegen. Im Verhältnis zu anderen Marinen ist der Anteil an marineinfanteristischen Kräften aber stark ausgeprägt. Neben Infanterie verfügt sie auch über eigene Panzerbataillone und starke Artillerietruppen. Dazu gehören Küstenraketenbatterien, die seit Sommer 2022 neben den ukrainischen Seezielflugkörpern „Neptun“ auch über westliche „Harpoon“ verfügen und zukünftig schwedische RBS-17 erhalten sollen. Der sicherlich spektakulärste Erfolg dürfte die Versenkung der „Moskwa“ durch zwei ukrainische „Neptun“ gewesen sein.

Die ukrainischen Marineflieger umfassten zu Kriegsbeginn etwa zehn Hubschrauber, sechs Aufklärungsflugzeuge und seit 2021 auch sechs Kampfdrohnen Baykar Bayraktar TB2. Ukrainische bewaffnete Flugdrohnen versenkten mit Panzerabwehrlenkraketen mehrere russische Boote. Die Zusammensetzung der Marine ist einerseits dem amphibischen Charakter der Region, andererseits der strategischen Schwerpunktlegung der Ukraine auf den Landkrieg seit der Annexion der Krim 2014 geschuldet.

Bayraktar TB2

Soldaten schieben eine Drohne des Typs Bayraktar TB2 auf dem Flugplatz Kulbakino im Süden der Ukraine. Aufgenommen während der Partnership-for-Peace-Übung Sea Breeze 2021

imago images/Ukrinform

Auch wenn die ukrainische Marine durchaus kreativ und geschickt im Waffenverbund von Aufklärung mit Drohnen, Artillerie und Küstenraketenbatterien agiert, konnte sie der Blockade ihrer Seeverbindungslinien durch Russland kaum etwas entgegensetzen. Sie ist zwar dazu befähigt, ihre Küsten zu schützen. Allerdings fehlen ihr die notwendigen Seestreitkräfte, um auf das Meer wirken zu können. Deshalb ist sie auch nicht in der Lage, den russischen maritimen Rückzug seit Herbst ihrerseits operativ auszunutzen.

Die Marine der Türkei

Die größte Marine im Schwarzen Meer ist die der Türkei. Obwohl die Türkei NATO-Mitglied ist und beispielsweise 2016 eine rumänische Initiative zum Aufbau einer bulgarisch-rumänisch-türkischen Schwarzmeerflotte unterstützte, pflegt sie auch aktiven Kontakt mit Russland. Zum Verdruss vieler NATO-Staaten entschied sich die Türkei im Oktober 2017, statt eines westlichen Systems das russische S-400-Flugabwehrsystem für ihre Streitkräfte zu erwerben. Im selben Jahr besuchte die türkische Marine auch den Flottenstützpunkt Noworossijsk. Durch diese aktive Schaukelpolitik zwischen Ost und West kann Präsident Recep Tayyip Erdoğan aber auch die Vermittlerrolle zwischen Russland und anderen Staaten wahrnehmen, wie zum Beispiel im syrischen Bürgerkrieg und im Ukrainekrieg. Diese Politik der Türkei ebnete zwar einerseits den Weg für das Getreideabkommen und eröffnete immer wieder Kommunikationswege für mögliche Waffenstillstandsverhandlungen zwischen den Kriegsparteien, doch andererseits nutzt sie ihre Position auch als politischen Hebel gegen die NATO, wie die türkischen Bedingungen für den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens klar aufzeigen. Mit ihrer Schaukelpolitik akzeptiert sie für die Umsetzung nationaler Interessen eben auch die Lähmung der Allianz. Im Ergebnis entwickelte sich die Türkei in den vergangenen zehn Jahren immer stärker zu einer Regionalmacht mit entsprechenden nationalen Ambitionen.

Ein wichtiges Mittel ihrer militärischen Machtentfaltung ist die türkische Marine. Von 14 Marinestützpunkten liegen vier am Schwarzen Meer und drei im Marmarameer. Unter einem zentralen Marinekommando gibt es zwei Regionalkommandos: Süd für die Ägäis und das Mittelmeer sowie Nord für die Meerengen und das Schwarze Meer. Die türkische Flotte ist keinem dieser Bereich zugeteilt, sondern wird je nach strategisch-operativem Bedürfnis zwischen ihnen hin- und herbewegt. Das Marinekommando in Gölcük führt die nationale Task Force, die aus den drei Task Groups Nord, Süd und West besteht. Während die türkische Marine in der Vergangenheit primär deutsche und USUnited States-Schiffe erwarb, ist die maritime Rüstungsindustrie gegenwärtig in der Lage, die Neubauten selbst auszuführen. Wie in anderen Bereichen auch ist die Türkei damit auf diesem Sektor zusehends autark und tritt immer stärker als Rüstungsexporteur auf. Am bekanntesten ist der Drohnentyp Baykar Bayraktar, der als Folge der propagandistisch geschickten Inszenierung durch die Ukraine zum Symbol des erfolgreichen Widerstandes gegen die russischen Streitkräfte avancierte.

Kern der türkischen Flotte sind 12 in Deutschland gebaute U-Boote des Typs 209, 16 Fregatten, 9 Korvetten, 18 Flugkörperschnellboote, 16 Patrouillenboote, 11 Minenabwehreinheiten sowie 34 Landungsschiffe und -boote. In der Fertigstellung befindet sich ein modernes amphibisches Angriffsschiff des Typs „Anadolu“. Zum Ende dieser Dekade werden noch 15 auf eigenen Werften gebaute Zerstörer, Fregatten und Korvetten eine Erneuerung der türkischen Marine einleiten. Ebenfalls zur Flotte gehören Seefernaufklärer, Marinehubschrauber sowie Kampf- und Aufklärungsdrohnen. Abgerundet werden die Fähigkeiten der türkischen Marine durch marineinfanteristische Kräfte in Brigadestärke, bestehend aus drei Marine-Bataillonen, einem Panzerbataillon, einem Artilleriebataillon und einem Logistikbataillon. Die türkische Marine kann durch die Kontrolle der Meerengen ihre Schiffe jederzeit ins Schwarze Meer verlegen und ist deshalb als die größte Flotte im Schwarzen Meer anzusehen, ohne dass sie gegenwärtig tatsächlich mehr Schiffe als Russland dort stationiert hat. Allerdings ist zu erwarten, dass immer ein Teil der Flotte im Mittelmeer verbleiben wird, um die Ansprüche auf Erdgasfelder in der Ägäis gegenüber anderen Staaten und vor allem Griechenland zu untermauern. Dieser Disput zwischen zwei NATO-Staaten im Südosten der Allianz stellt außerdem eine Achillesferse des Bündnisses in der Region dar.

Weitere maritime Akteure

Im Falle einer NATO-Operation im Schwarzen Meer wird diese aus dem Martime Command MARCOMAllied Maritime Command in Northwood/UKUnited Kingdom geführt. Ein einheitliches Lagebild nach NATO-Standard kann gegenwärtig für das Schwarze Meer nicht erstellt werden. Die beiden anderen Bündnisstaaten Bulgarien und Rumänien besitzen Marinen, die ein Mix aus alten Schiffen sowjetischer Bauart, eigenen Konstruktionen und älteren NATO-Schiffen sind. Fregatten, Korvetten, Schnellboote, Minenabwehreinheiten und Hubschrauber bilden deren Seestreitkräfte. Als Zeichen des Interesses der Allianz am Schwarzen Meer besuchten die ständigen Einsatzverbände der NATO immer wieder das Binnenmeer und manifestierten so Bündnissolidarität. Als weiterer Anrainer sei hier noch Georgien erwähnt, das aber über keine eigene Marine, sondern nur eine Küstenwache verfügt und daher keine nennenswerte militärische Rolle spielt.

Die Rolle Chinas

Am Ende soll noch auf einen anderen geostrategischen Akteur in der Region hingewiesen werden, der dort über keine eigene Flotte verfügt, aber bei vielen Entscheidungen der Anrainer eine wichtige Rolle spielt: China. Weil ein wichtiger Teil der Neuen Seidenstraße durch diese Staaten verläuft, hat China dort umfangreiche Investitionen getätigt. Diese erfolgten primär in Bulgarien, Georgien und der Ukraine, die zum Teil auch sehr hohe Schulden zur Errichtung von Infrastrukturprojekten für die Neue Seidenstraße aufgenommen haben. Georgien spielt dabei eine Schlüsselrolle als asiatisches Logistikzentrum für den euro-asiatischen Handelsverkehr. Gegenstück im Westen ist Warna in Bulgarien, das außerdem den Zugang zum europäischen Binnenmarkt bietet. Kyjiw/Kiew wiederum zielt darauf, über die Seidenstraße die eigene Abhängigkeit vom russischen Markt zu verringern. Sollte sich Russland die gesamte Nordküste des Schwarzen Meers sichern können, hätte das geostrategische Auswirkungen, deren Schockwellen vor allem in Richtung Osten zielen. Daher ist anzunehmen, dass China ein inhärentes Interesse an einem stabilen Status Quo in dieser Region hat, um Rechts- und Handlungssicherheit für seine Investitionen zu schaffen.

Der Krieg in der Ukraine ändert aktuell wenig an den bestehenden Flottenverhältnissen im Schwarzen Meer. Für die zukünftige maritime Entwicklung der Region dürften primär die jeweiligen nationalen strategischen Entscheidungen auf Basis der Ergebnisse eines Friedensvertrages zwischen Russland und der Ukraine ausschlaggebend sein. Nach dem Konflikt werden die geostrategischen Karten neu gemischt werden und eines der davon betroffenen Instrumente werden auch die Marinen der Anrainer sein.

DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-595


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von Christian Jentzsch

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