Ukraine-Dossier

Hybride und konventionelle Kriegführung in der Ukraine

Hybride und konventionelle Kriegführung in der Ukraine

Datum:

Im Interview wird Oberst i.G.im Generalstabsdienst Sönke Marahrens aus dem European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) in Helsinki zu den hybriden wie konventionellen Anteilen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine befragt. Das Hybrid CoE ist eine internationale Organisation zur Förderung eines gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatzes zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen. Die Aufgabe des Hybrid CoE besteht darin, die Sicherheit seiner Mitglieder zu stärken, indem Fachwissen und Schulungen zur Abwehr hybrider Bedrohungen bereitgestellt werden. Die Fragen stellt Oberst Dr. Uwe Hartmann, Leiter der Abteilung Bildung im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. 

Ukrainische Artillerie, Februar 2023

Ukrainische Artillerie in der Nähe von Bachmut im Osten der Urkaine, 4. Februar 2023

picture alliance / EPA | SERGEY SHESTAK

Hartmann: Im Kriegsgeschehen in der Ukraine stehen schwere Waffen im Vordergrund. Vor allem die Artillerie spielt eine entscheidende Rolle sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite. Inwiefern kann der Krieg in der Ukraine noch als hybrid charakterisiert werden?

Marahrens: Aus meiner Sicht ist der Krieg seit dem gescheiterten Versuch der Einnahme Kyjiw/Kiews in der Ukraine kein hybrider, sondern ein echter konventioneller Krieg und sollte auch so betrachtet und ausgewertet werden. Natürlich werden durch Russland gegen die Ukraine weiterhin auch Mittel angewendet, die bei Hybrid Warfare eine Rolle spielen, beispielsweise im Cyberraum oder die Nutzung von Memes und gezielten Informationskampagnen. Derzeit sind aber in der Ukraine im Schwerpunkt die russischen Militärstrategen und -planer am Zug. 

Der hybride Krieg gegen den Westen hingegen, der Ende Februar, Anfang März 2022 abflaute, ist wieder im vollen Gange. Dies kann man an der Kampagne zu gestiegenen Energiekosten gegen Deutschland oder die Unterbindung der Lebensmittelversorgung für Afrika erkennen, die mittelfristig gegebenenfalls wieder Flüchtlingswellen auslösen könnte.  

Außerhalb meines Beobachtungsbereichs liegt der Gebrauch der Artillerie. Hier würde ich aber aufgrund meines Hintergrundes in Militärstrategie sagen: Wenn man im Westen nur auf Konzepte des Bewegungskrieges setzt und dabei die russischen Doktrinen, die immer auch die Artillerie betont haben, aus dem Auge verliert, lässt sich hier eher von einem westlichen blind spot als von einer Überraschung sprechen.

Hartmann: Das Kriegsgeschehen in der Ukraine zeigt aber auch neuartige Waffeneinsatzformen wie beispielsweise die Nutzung von Mini-Drohnen, die bislang eher dem hybriden Spektrum zugeordnet werden. Inwiefern wird hier der konventionelle Krieg von hybriden Aktivitäten beeinflusst?

Marahrens: Drohnen sind im militärischen Bereich nichts Neues, die erste Drohne flog 1917 bei der USUnited States Navy. Neu ist, dass in der Ukraine im großen Umfang auch kleine, marktverfügbare Drohnen verwendet werden, deren Ersatz- oder Anbauteile auch mithilfe von 3D-Druckern produziert werden. Diese Technologieverknüpfungen lassen sich bereits seit dem Entstehen des sogenannten Islamischen Staates (IS"Islamischer Staat") beobachten. Das militärische Potenzial dieser kleinen Drohnen zeigte sich 2021 im Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien. Mithilfe von Klein-Drohnen fügte die aserbeidschanische Armee den Armeniern empfindliche Verluste zu.

Bemerkenswert ist aber nicht nur die Verfügbarkeit, sondern auch die Integration dieser Mini-UAVs (Unmanned Aerial Vehicle) in die Einsatzführung: Man spricht hinsichtlich der ukrainischen Nutzung der Mini-UAVs mittlerweile von einem Uber Warfare. Uber ist ja einer der weltweit größten Anbieter von Taxifahrten, ohne auch nur ein einziges Taxi zu besitzen. Freiwilligenverbände speisen online ihre Echtzeitbilddaten in ein sicheres Netzwerk ein, die dann von anderen ukrainischen Truppenteilen für deren Operationen verwendet werden. Im Westen würde wahrscheinlich zunächst die Frage beantwortet werden müssen, wem die Drohne eigentlich gehört, also Heer oder Luftwaffe, und wer die Daten dann »nutzen« darf. Hier scheint die ukrainische Armee auf Auftragstaktik basierende truppennähere, effektive und einsatzrelevante Lösungen entwickelt zu haben.

Hartmann: Nach dem Verlust von Cherson haben die russischen Streitkräfte mit massiven Raketen- und Drohneneinsätzen gegen ukrainische kritische Infrastrukturen reagiert, beispielsweise gegen das Stromnetz. Ist das ein hybrider Einsatz im konventionellen Krieg?

Marahrens: Angriffe gegen kritische Infrastrukturen werden dem Spektrum hybrider Bedrohungen zugeordnet, da sie in der Regel mit geringem Aufwand eine große Wirkung erzeugen. Diese Infrastrukturen werden ja nicht ohne Grund als »(system-)kritisch« eingestuft und daher auch so bezeichnet. Man scheint in der Vergangenheit etwas zu lässig mit deren Schutz umgegangen zu sein. Es gibt diese Angriffe gegen kritische Infrastrukturen aber auch im Kontext konventioneller Kriegshandlungen, da man sich erhofft, damit den Kriegswillen der gegnerischen Bevölkerung zu brechen. Hier streitet sich die historische Fachwelt, ob das in der Vergangenheit wirklich je funktioniert hat, da man damit teils eine noch negativere Einstellung gegen die eigene Kriegführung erreicht hat.

Die Angriffe gegen kritische Infrastruktur waren für die russischen Streitkräfte nicht billig. Experten schätzen, dass allein die bei den in der Frage angesprochenen Angriffen verwendeten circa 110 Raketen Russland etwa 700 Millionen Euro gekostet haben. Aktuelle Entwicklungen, wie die Einkäufe weiterer Drohnen im Iran oder das vermutete Abschrauben von nuklearen Gefechtsköpfen von Mittelstreckenraketen des Typs Iskander, zeigen, dass die russischen Streitkräfte weiterhin auf diese Form der Gefechtsführung setzen, ihnen dazu aber die originär dafür vorgesehenen Kampfmittel ausgehen.

Hartmann: Mit den taktischen Bataillonskampfgruppen (BTG) versucht die russische Armee, das Gefecht der verbundenen Waffen nach unten auf die Bataillonsebene zu verlagern. Inwieweit hat dieses Konzept funktioniert?

Marahrens: Hier streiten sich die Geister. Es gibt Experten, die von einem »Arme-Leute-Konzept« sprechen, während andere, zu denen ich auch gehöre, sagen: Achtung, das müssen wir uns näher ansehen. Prinzipiell hat das BTG-Konzept zum einen dazu geführt, dass die späteren vier Hauptangriffsachsen durch den Westen erst spät aufklärbar waren, da die russischen Truppen quasi von jedem Punkt aus angreifen konnten. Zum anderen sind kleinere Einheiten, wenn sie richtig geführt und unterstützt werden sowie eine entsprechende Führungskultur haben, prinzipiell agiler. Auch das ist keine neue Erkenntnis, das wussten schon die Preußen, als sie 1873 von der Linien- auf die Kommandotaktik umstellten. Eine NATO-Brigade, die sich sechs BTG gegenübersieht, könnte dann gegebenenfalls den Kampf eines »Elchs gegen sechs Wölfe« führen, und da stehen die Chancen nicht gut für den Elch.  

Für die Russen kann das derzeitige BTG-Konzept aber auch zum Bumerang werden, da diese mit bis zu 60 Prozent aus dem Kaderpersonal der Divisionen gebildet wurden. Wenn dieses Personal fällt oder ausfällt, gibt das empfindliche Einbrüche bei der Ausbildung des Personalersatzes, wie es mittlerweile für die 11. Russische Armee aus Kaliningrad nachgewiesen wurde. 

Hartmann: Welche Rolle spielen noch Cyberangriffe auf Netzwerke oder Desinformation im Informationsraum?

Marahrens: Es findet zwar ein Cyberwar statt, allerdings passiert wohl nicht das, was viele westliche Experten in der Diskussion um sogenannte Hackback-Operationen, also eine offensiv ausgerichtete Cyberabwehr, immer befürchtet haben: dass es damit verstärkt zu ungewollten Nebeneffekten oder Kollateralschäden kommt. Aber das ist alles mit Vorsicht zu genießen. Die Ukraine hat sich sieben Jahre im Zielfeld permanenter russischer Cyberaktivitäten befunden und entsprechend gelernt, Cybersecurity umzusetzen. Des Weiteren soll es neben der Unterstützung der USAUnited States of America mit 40.000 Starlink-Terminals auch eine »Armee« von 30.000 bis 250.000 westlicher Hacker geben, die die Ukraine unterstützen. Als letztes gilt es zu berücksichtigen, dass die russischen Streitkräfte den Krieg in der Ukraine wohl anscheinend zunächst wirklich nur als eine »Spezialoperation« geplant haben, ähnlich wie die Operation im Januar 2022 in Kasachstan, und daher anscheinend keine eigenen Führungsmittel ausgeplant und eingesetzt wurden. Sie mussten sich damit zumindest anfangs auch auf das ukrainische Internet und Telekommunikationsnetz abstützen und konnten es daher nicht mithilfe von Cyber- oder Electronic Warfare-Maßnahmen ausschalten. Darüber hinaus zeigt sich derzeit, dass das russische kryptierte Datenfernmeldenetz wohl nicht die in es gesetzten Erwartungen erfüllt.  

Hartmann: Inwieweit nutzt Russland Nuklearwaffen als Teil einer hybriden Kriegführung? Analysten sprechen hierbei von einer »Selbstabschreckung der NATO«. 

Marahrens: Die Wirkung von Nuklearwaffen liegt primär in ihrer Bedeutung als »Waffe der letzten Stunde«. Das damit verbundene Abschreckungspotential wirkt eher im Informationsraum. Davon zeugen Begriffe vergangener NATO-Strategien, wo man von Mutual Assured Destruction (MADMilitärischer Abschirmdienst) sprach. Die damit einhergehenden Schreckensbilder lassen sich aber natürlich sehr gut in Informations- und Desinformationskampagnen verwenden. Wenn dies Thema von westlichen Experten aufgegriffen wird, kann dies zu Alarmismus führen: Der Empfänger der Nachricht hört nur noch das Thema, nicht aber die Bewertung, ob das atomare Szenario denn nun eintreten wird oder ob es sich um eine irreale Bedrohung handelt. So können Experten schnell und ungewollt zu sogenannten useful idiots für Desinformationskampagnen werden und im gesamtpolitischen Raum zur Selbstabschreckung, also der Reaktion auf eine selbstausgemachte Bedrohung führen. Ob Russland Atomwaffen tatsächlich einsetzt, unterliegt, genau wie die Entscheidung zur Beendigung des Angriffs auf die Ukraine, einzig und allein dem russischen Präsidenten. 

 Hartmann: Hybride Kriegführung zielt darauf ab, Gesellschaften zu spalten und die Handlungsfähigkeit von Regierungen zu mindern. Warum ist es Russland nicht gelungen, den Verteidigungswillen der Ukraine zu untergraben? 

Marahrens: Man könnte argumentieren, »steter Tropfen höhlt den Stein«. Dabei vergisst man aber die Psychologie des Menschen. Während die Ukraine noch zu den Zeiten der Farbenrevolution ein tief gespaltener Staat war, änderte sich das mit der Besetzung der Krim und dem Entstehen der Separatisten-Bewegung im Donbass/Donbas und Lugansk/Luhansk. Letzteres schuf ein gemeinsames Konfliktbild für alle Bürgerinnen und Bürger in der restlichen Ukraine und Ersteres nahm Russland politische Einflussmöglichkeiten, da man nun nicht mehr »politisch wirksam« in Kiew vertreten war. Erschwerend kam hinzu, dass die »leichteren« Mittel hybrider Kriegführung, wie beispielsweise Desinformation, auch nicht mehr in der Ukraine wirkten.

Hartmann: Was können wir in Mitteleuropa derzeit als erste Lehren aus dem Krieg ziehen?

Marahrens: Ich bin immer etwas vorsichtig, was generelle Lehren hinsichtlich der konventionellen russischen Kriegführung anbelangt. Die Art der Konfliktführung zeigt meines Erachtens zu viele Abweichungen von bisher gültigen Annahmen wie beispielsweise zu Fragen der Luftüberlegenheit oder dem Einsatz gepanzerter Mittel.

Bei der Abwehr hybrider Bedrohungen unterscheiden wir im European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats derzeit vier Maßnahmen – drei passive in Form von

  1. glaubwürdiger Abschreckung – nicht nur im militärischen Bereich,
  2. dem Aufbau und der Aufrechterhaltung von gesamtstaatlicher und –gesellschaftlicher Resilienz sowie
  3. dem Aufbau von Widerstandsstrukturen. Letzteres ist aber für Demokratien ohne äußere Bedrohungen nicht ganz einfach. Das Beispiel Schwedens zeigt aber, dass es möglich ist.
  4. ist als aktive Maßnahme die proaktive Politik auf nationaler und internationaler Ebene notwendig, die »autoritäre Regelbrecher« einhegt und eigene rechtliche und demokratische Strukturen durch gesetzgeberische Maßnahmen abhärtet und damit resilienter macht. 

Hartmann: Man könnte den Eindruck haben, dass es in Präsident Putins innerem Machtzirkel zu Vertrauensbrüchen gekommen ist. Welche Auswirkungen haben diese auf die russische Kriegführung?

Marahrens: In der Woche vor dem Angriff kam es überraschend dazu, dass Putin seinen Generalstabschef General Valery Gerassimow und seinen Geheimdienstchef Sergei Narishkin öffentlich rügte. Solche öffentlichen Zurechtweisungen können in hierarchischen Systemen dazu führen, dass die Organisation weniger agil wird, weil man auf eine eher abwartende rezeptive Haltung zurückfällt, statt weiterhin proaktiv zu handeln. Dies würde erklären, warum die russischen Streitkräfte und Geheimdienste nur so langsam auf die Anfangserfolge der Ukrainer reagierten, da aus Angst vor Bestrafung niemand der Überbringer schlechter Nachrichten sein wollte. 

Hartmann: Die russische Seite betont, dass die militärischen Operationen nach Plan verliefen. Wo sehen Sie Misserfolge und Erfolge?

Marahrens: Aus meiner Sicht gingen die ursprünglichen Planungen bereits in den ersten Tagen schief, da die russischen Streitkräfte zum einen nie für einen echten Krieg geplant hatten und zum anderen den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung und ihres Präsidenten völlig unterschätzt haben. Wobei ich behaupten würde, dass dies auch auf westliche Entscheider zutraf.  Russland konnte zwischenzeitlich schon 3.5 von 5 Kriegszielen erreicht. Es kontrolliert mit 30.000 Soldaten Belarus; es hat größere Anteile des Donbas und von Luhansk als vor dem Angriff besetzt, die es derzeit zu halten versucht; es hat eine Landbrücke zwischen Donbas/Luhansk und der Krim hergestellt. Wäre der Krieg morgen zu Ende und man einigte sich auf die derzeitigen Grenzen, wäre darüber hinaus das Abkommen von Minsk obsolet und die widerrechtliche Annexion der Krim plötzlich legitimiert. Nur der beabsichtigte Regimechange in der Ukraine hat nicht stattgefunden. Umgekehrt bleibt aber aus geostrategischer Sicht auch die Frage, wie lange Russland den Krieg noch führen kann, ohne sich nicht beispielsweise in Sibirien von seinen konventionellen Streitkräften völlig zu entblößen. Das könnte bei China mit seinen Arktis-Ambitionen zu einer Entscheidung führen, statt Taiwan zunächst Sibirien zu besetzen. Die Situation ist insgesamt derzeit sehr volatil und unsicher.  

Die Fragen stellte Oberst Dr. Uwe Hartmann



DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-619


Die Aussagen in dem Interview stellen die persönliche Meinung von Oberst i. G. Sönke Marahrens, basierend auf seiner Arbeit mit ausnahmslos offenen Quellen am HybridCoE in Finnland dar.

Neue Beiträge

Unsere neusten Artikel, Karten, Podcasts, Audio-Buchjournale oder Videos im Ukraine-Dossier.