Ukraine-Dossier

Krieg in der Ukraine und Innere Führung: Zur strategischen Relevanz militärischer Ethik

Krieg in der Ukraine und Innere Führung: Zur strategischen Relevanz militärischer Ethik

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Der Krieg in der Ukraine kann als Fallstudie zur strategischen Relevanz militärischer Ethik gesehen werden. Das Vorgehen der russischen Streitkräfte stellt dabei als Negativbeispiel grausam vor Augen, wohin ein Mangel an Ethik im Militär führen kann.

Ein Beitrag von Christian Göbel zu unserem Ukraine-Dossier.

Russischer Soldat im Theater von Mariupol, 12. April 2022

Ein russischer Soldat im zerstörten Theater von Mariupol, in dem Frauen und Kinder Zuflucht gesucht hatten. Über 300 starben bei einem russischen Angriff am 16. März 2022

picture alliance / EPA | SERGEI ILNITSKY

In Deutschland ist militärische Ethik eng mit dem Begriff der »Inneren Führung« verbunden, deren Tauglichkeit für Kriegs- und Kampfeinsätze in jüngerer Zeit aber wiederholt – auch in der Bundeswehr – angezweifelt worden ist. Mit den Grundprinzipien der Inneren Führung verankert die Bundeswehr innerhalb des Militärs ethische Werte, die sich aus der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes und dem Menschenrechtsethos ergeben, zu dem sich die Weltgemeinschaft in der Charta der Vereinten Nationen (VN) im Jahr 1945 bekannt hat. Dieser Wertehorizont kann als Vergleichspunkt zur Beurteilung des Verhaltens der ukrainischen und russischen Streitkräfte im derzeitigen Kriegsgeschehen und zugleich der Selbstvergewisserung dienen. Das Vorgehen der russischen Streitkräfte stellt dabei als Negativbeispiel grausam vor Augen, wohin ein Mangel an Ethik im Militär führen kann.

Streitkräfte und Inneres Gefüge

Neben grundsätzlichen ethischen Fragen um die Zulässigkeit oder Gerechtigkeit von Krieg stellt das Militär als soziale Institution moralische Herausforderungen, deren Nichtbewältigung strategische Bedeutung hat. Streitkräfte können zur Durchsetzung politischer, ökonomischer und persönlicher Interessen missbraucht werden. Die Bundeswehr ist zum Beispiel in Mali, wie vor Jahren im Kongo, mit Herrschenden konfrontiert, die Militär als Macht- und Terrorwerkzeug gegen die eigene Bevölkerung einsetzen. Blicken wir auf die eigene Geschichte, so war die Schaffung neuer Streitkräfte im demokratischen Deutschland Antwort auf die Instrumentalisierung des Militärs durch den NSNationalsozialismus-Unrechtsstaat. Das von dem späteren General Wolf Graf von Baudissin geprägte Leitbild des »Staatsbürgers in Uniform« und die Prinzipien der Inneren Führung stellen neben den einsatzbereiten Soldaten den verantwortungsbewussten Staatsbürger und freien Menschen.

Oberst Graf Wolf von Baudissin 1956

Prägte maßgeblich die Konzeption der »Inneren Führung«: Oberst Wolf Graf von Baudissin, 1956

Bundeswehr

Baudissins Gedanke, dass man »als Mensch« Soldat sei, bedeutet nicht nur, dass das Militär die Würde der Soldatinnen und Soldaten respektieren muss, sondern beinhaltet eine Verpflichtung zur Persönlichkeitsbildung. Dass Soldatinnen und Soldaten auf Krieg und Töten vorbereitet werden, widerspricht dem nicht. Vielmehr kann im ethisch herausfordernden Umgang mit letaler Gewalt sittliche Reifung erzielt werden. Der Soldatenberuf hat zwar einen gewissen »sui generis«-Charakter, steht aber weder außerhalb der Moral noch braucht er eine Partikularethik; vielmehr müssen übergeordnete Normen auf die Extremsituation Krieg angewendet werden. Auch darauf verweist Baudissins Grundsatz: Als Menschen ist Soldaten und Soldatinnen auch der Respekt für die Würde anderer geboten. Es besteht eine Pflichtenhierarchie: Spezielle soldatische Pflichten (zum Beispiel Gehorsam) müssen Angehörige der Bundeswehr mit ihren Pflichten als Bürgerinnen und Bürger und als Menschen in Übereinstimmung bringen, nicht umgekehrt. Das russische Vorgehen im Ukrainekrieg zeigt, was passiert, wenn Streitkräften ein solches »inneres Gefüge« fehlt. Diesen Begriff nutzten die Väter der Bundeswehr ursprünglich für die »geistige, politische und moralische Gesamtverfassung« des Militärs; daraus entwickelte sich etwas später der Begriff »Innere Führung«.

Kriegsverbrechen und die Aufgabe des »Moral High Ground«

Neben dem völkerrechtswidrigen Angriff selbst und nuklearen Drohungen sind bereits zahllose Kriegsverbrechen aktenkundig (VN-Berichte vom 23. September und 18. Oktober 2022): willkürliche Festnahmen, Raub, Diebstahl, Plünderungen, Vergewaltigung, Vertreibung und Zwangsumsiedlung, Folter und Hinrichtung von Kriegsgefangenen und Zivilisten (Massaker von Butscha), darüber hinaus Angriffe auf die zivile Infrastruktur wie Energie- und Wasserversorgung, medizinische Einrichtungen, Schulen und Wohngebiete. Das EU-Parlament hat Russland deshalb am 23. November 2022 zum »staatlichen Terrorismus-Unterstützer« erklärt. Früh warfen die unerwarteten Schwierigkeiten im Angriff auf die Ukraine Zweifel am Erfolg der russischen Militärreform seit dem Georgienkrieg (2008) auf, die eine umfassende Modernisierung der Streitkräfte zum Ziel hatte. Inzwischen ist der Krieg in der Ukraine auch zum Offenbarungseid hinsichtlich der Einsatzbereitschaft und sittlichen Verfasstheit der Streitkräfte geworden. Freilich hat Putins verrohte Armee systematische Menschenrechtsverletzungen nicht erst in Butscha, Isjum und zuletzt in den im geräumten Cherson entdeckten Folterkellern begangen, sondern schon in Syrien, auf der Krim, in Georgien und in Tschetschenien; dass sich ein »Grosny-Szenario« in Kyjiw (Kiew) wiederholen könnte, wurde zu Beginn des Krieges weithin befürchtet.

Diese offensichtlichen Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht bedeuten die Aufgabe jenes »Moral High Ground«, auf dem man sich bewegt, solange man internationales Recht und universelle Werte achtet. Sie haben Russland – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jede mögliche Sympathie geraubt. Das ist strategisch relevant. Statt Verständnis für eigene Sicherheitsinteressen zu finden, ist Russland international weitgehend isoliert. Überwältigende Unterstützung erfährt die angegriffene Ukraine. Selbst viele russische Bürgerinnen und Bürger glauben die zur Rechtfertigung des Krieges verbreiteten Propagandalügen nicht mehr: Erst sprach man von einem Manöver; dann wurde behauptet, das ukrainische Volk warte nur auf die Befreiung von einem Naziregime, die russische Bevölkerung in der Ostukraine müsse geschützt werden oder die Ukraine sei nie eigenständig gewesen; später folgte die Mär vom Präventivschlag, einem neuen »vaterländischen Krieg«, der der Besetzung Russlands durch die NATO zuvorkommen sollte. Doch der Teilmobilmachung vom 21. September 2022 haben sich Reservisten unter anderem deswegen zu Hunderttausenden entzogen, weil sie genau wussten, dass ihre Wahl nur zwischen »Gefängnisstrafe oder Mörder« bestanden hätte (so ein Reserveoffizier im Auslandsrundfunk der Deutschen Welle). Und von den Soldaten, die die bittere Realität dieses sinnlosen Kriegs auf dem Schlachtfeld erfahren haben, sind Tausende desertiert. Daraus hat sich eine zusätzliche strategische Belastung entwickelt: Im besetzten Osten der Ukraine wird derzeit unter großem Aufwand versucht, Deserteure aufzuspüren. Zudem hat in den letzten Wochen auch der Protest der leidenden Soldatenmütter mehr Widerhall in der russischen Bevölkerung gefunden.

Gewaltregime, Soldatenmissachtung und die strategischen Folgen

Neben der extrinsischen Gewalt, die Militär gegen den Feind anwendet (rechtmäßig oder, wie im vorliegenden Fall, unter Missachtung von Völker- und Kriegsrecht), produziert die russische Armee auch intrinsische Gewalt. Schon der in der – damals zum russischen Kaiserreich gehörenden – Ukraine als Sohn ethnischer Polen geborene und später nach Großbritannien ausgewanderte Schriftsteller Joseph Conrad (1857–1924) fand scharfe Worte für die Gewaltherrschaft der Zaren. In seiner Kritik des russisch-japanischen Krieges (1904/05) hob er hervor, dass Russland »das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit« gegen »die eigenen Bürger« begeht, die es »rücksichtlos abschlachtet« (Autocracy and War). Conrad meinte die Soldaten, deren Leben den Interessen der Herrschenden geopfert wurde. Dass Russland Menschen als »Kanonenfutter« behandelt, wird auch im gegenwärtigen Krieg betont: nicht nur von der psychologischen Kriegführung der Ukrainer (in Flugblättern und Videoappellen Präsident Wolodymyr Selenskyjs an die Besatzer), sondern auch von internationalen Beobachtern wie dem britischen Verteidigungsminister Ben Wallace, der trotz jüngster ukrainischer Erfolge vor einem langen Krieg warnt, da die »Ressource Mensch« Russland so zahlreich zur Verfügung stehe und so skrupellos gebraucht werde (13. November 2022). Auch Russen selbst sagen: »Wir sind für die bloß Kanonenfutter«, wie es ein weiterer Reservist, den die Deutsche Welle interviewen konnte, formulierte. Der russische Präsident Wladimir Putin, so der Schriftsteller und ehemalige sowjetische Reserveoffizier Michail Schischkin, teile die Einstellung des Weltkrieg-Marschalls Georgi Schukow: Der Tod der Soldaten mache nichts, denn »russische Weiber werden noch mehr Soldaten gebären.« Mit ähnlichen Äußerungen wandte sich im Oktober der Militärgeistliche Michail Wassiljew im Fernsehen an russische Mütter. Die Empörung war groß. Dennoch wurde er, inzwischen gefallen, am 9. November 2022 posthum von Putin zum »Helden Russlands« erklärt. Im Zuge der Teilmobilmachung zeigt zudem die Verlegung von dürftig ausgebildeten und mangelhaft ausgerüsteten Reservisten an die Front, dass dem Regime echte Fürsorge wenig bedeutet.

Michail Schischkin in Luzern, 4. März 2022

Protest gegen den Krieg in der Ukraine: Der in der Schweiz lebende russische Autor Michail Schischkin nimmt an einer Friedenskundgebung in Luzern teil, 4. März 2022

picture alliance/KEYSTONE | PHILIPP SCHMIDLI

Auch in den Streitkräften selbst herrscht Gewalt. Offiziere misshandeln Untergebene, und noch immer führt die sogenannte Dedowtschina, die Schikane jüngerer durch ältere Soldaten, zu Gewaltexzessen, Todesfällen, Selbst- und Kameradenmorden. Schischkin verweist auf diesen Hintergrund, um Kriegsverbrechen in der Ukraine zu erklären, und spricht von einer »Schule der Sklaven«. Selbst ein russischer Militärreport beschreibt ein System, in dem der Stärkere dem Schwächeren mit beliebigen Mitteln »seinen Willen aufzwingen« kann. Unterdrückung und Angst sollen Disziplin fördern, stabile Führung garantieren, auf die Kriegsrealität vorbereiten. »Kadavergehorsam wird Soldaten von ihresgleichen eingeprügelt« (Schischkin). Mehr noch: Das russische »Gewaltregime gegenüber einfachen Soldaten« soll zur »Entgrenzung von Gewalt gegen die andere Seite« führen. Dass seit Oktober sogar Schwerverbrecher für den Krieg rekrutiert werden, bestätigt das ethische Desinteresse der Militärführung und stützt sogar die These, dass Russland Kriegsverbrechen strategisch als Kriegsmittel gebraucht.

Die Gewalt im russischen Militär hat auch gesellschaftliche Folgen: »Die russischen Streitkräfte ziehen die Aggressivität der Gesellschaft ein und geben sie wie aus einem Gewaltkraftwerk potenziert wieder ab.« Der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kyjiw, Johannes Voswinkel, hat deshalb gar von einem »verrohten Land« gesprochen. Ein Human-Rights-Watch-Bericht betont, dass sozial Dysfunktionales auch im Militär keine Funktionalität hat, sondern kontraproduktiv ist, weil es militärische Stärke mindert. Beleg dafür ist die in Russland schon zu Friedenszeiten grassierende Wehrdienstvermeidung aufgrund der abschreckenden Zustände im Militär.

All dies ist moralisch verabscheuungswürdig und zeigt ein systemisches Problem des Mangels an ethischem Führungsvermögen. Dieser hat strategische Relevanz. Die Schwächen des ›inneren Gefüges‹ der russischen Streitkräfte haben sich als zentraler Grund für ihr unerwartet schwaches Abschneiden im Ukrainekrieg entpuppt. Eine Armee, die ihre Soldaten missachtet, bietet diesen weder Sinn noch Identifikationspotenzial, Motivation oder Kampfmoral. Diese Einschätzung teilen zahlreiche Beobachter, zum Beispiel Experten des Centers for the Study of War und der britischen Geheimdienste in ihren täglichen Ukraineupdates. Der russische Autor Schischkin meint: »Den Krieg entscheiden keine Panzer, sondern Soldaten. Die russische Armee hat versagt (selbst wenn sie noch gewinnen sollte). Die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen«, die Russen nicht. Der russischen »Militärtradition der Soldatenmissachtung« (Alexander Golz, russischer Journalist) müssten echte Fürsorge sowie Kameradschaft entgegengesetzt werden, also auch jene Tugend, die in der Bundeswehr (§12 SG) an Respekt, Menschenwürde, Ehre und Rechte gebunden ist. Dies würde das ethische ›innere Gefüge‹ stärken und Kohäsion wie Motivation fördern.

Ukrainischer Freiheitskampf: Krieg um welche Werte?

Es spielt aber nicht nur die schwache Moral der Russen eine Rolle, sondern auch die starke Kampfmoral des Gegners. Dass das Erreichen der strategischen Ziele der russischen Führung bisher verhindert werden konnte, liegt – neben der überwältigenden internationalen Unterstützung – an der Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer. Diese haben zum Beispiel EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei ihren Besuchen in Kyjiw hervorgehoben (zuletzt am 25. Oktober 2022). Allerdings muss die Frage offenbleiben, ob der ukrainische Freiheitskampf als positiver Beleg dafür gesehen werden kann, dass eine Armee, die, wie die Bundeswehr, dem Menschenrechtsethos verpflichtet ist, nicht nur moralisch überlegen, sondern auch militärisch effektiver ist.

Es ist wohl wahr, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht nur einen Verteidigungskampf gegen Aggressoren führen, sondern auch einen »Krieg um Werte« (Präsidentengattin Olena Selenska am 29. November 2022); aber wenn ein Bezug zur Inneren Führung hergestellt werden soll, muss es dabei um andere Werte gehen als ›nur‹ Leben und Besitz. Tatsächlich ist das der Fall: Die Bevölkerung der Ukraine kämpft darum, in Freiheit und Demokratie leben zu können. Der Widerstand gegen die russische Invasion und den Terror, den Putin über »ganz Europa« gebracht hat, so der Friedenspreisträger Serhij Zhadan am 21. Oktober 2022, ist damit nicht nur indirekt ein Kampf für die Freiheit Europas (er beugt Angriffen auf EU-Länder vor), sondern auch ein Kampf für europäische Werte. Dafür hat das Europaparlament das ukrainische Volk am 14. Dezember 2022 mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit geehrt, und am 16. Dezember wurde bekannt, dass Präsident Selenskyj und das ukrainische Volk mit der gleichen Begründung auch mit dem Karlspreis 2023 ausgezeichnet werden. Um von Ähnlichkeiten zur Inneren Führung sprechen zu können, müssten die ukrainischen Streitkräfte aber auch das Menschenrechtsethos so umsetzen, dass die Würde jedes Menschen unbedingt geachtet wird, eine aus diesem Werterahmen abgeleitete Führungskultur pflegen und daran orientierte politisch-ethische Bildung betreiben. Nach den vorliegenden VN-Berichten begeht jedoch auch die ukrainische Armee, wenngleich in viel geringerem Umfang als die russische, Kriegsverbrechen und Verletzungen der Menschenwürde. Das dürfte deutschen (und europäischen) »Staatsbürgern in Uniform« nicht passieren.

Sacharow-Preis 2022

Verleihung des Sacharow-Preises 2022 an das tapfere ukrainische Volk am 14. Dezember 2022

picture alliance / Panama Pictures | Dwi Anoraganingrum

Auf der Suche nach positiven internationalen Belegen für die Effektivität ›innerer Führung‹ wird man am ehesten im NATO-weiten Interesse an der Auftragstaktik fündig. Zwar handelt es sich bei Auftragstaktik und Innerer Führung auf den ersten Blick um verschiedene Dinge. Doch auch wenn die beiden »sehr unterschiedlichen Epochen deutscher Militärgeschichte entstammen«, so stellt die Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) A-2600/1 fest, »sind sie doch dergestalt miteinander verbunden, dass die Auftragstaktik die Führungsform ist, die dem Bild vom ›Staatsbürger in Uniform‹ am besten entspricht. So wird Mitverantwortung für die Erreichung eines gemeinsamen Zieles erlebbar.« Auch die USUnited States-Vorschrift »Mission Command« setzt auf solche Prinzipien der Inneren Führung: Vertrauen, Einsicht, Mitverantwortung, Gespür für die moralische und Sinndimension des soldatischen Handelns. Und die britische Armee hat vor wenigen Jahren unter anderem aus strategischen Erwägungen ein neues Ethikkonzept entwickelt, das deutliche Entsprechungen zur Inneren Führung aufweist: Hier geht es vor allem darum, zu vermeiden, dass Soldatinnen und Soldaten, die in modernen Einsatzszenarien schnell zu »strategischen Korporalen« werden, ethisch unreflektierte Handlungen oder Kriegsverbrechen begehen, deren verheerende öffentliche Wirkung die strategischen und politischen Ziele eines Einsatzes gefährden würden. Demgegenüber beschränkt sich Russlands Führung im Ukrainekrieg auf das aggressive Leugnen eigener Kriegsverbrechen und verweigert dem VN-Menschenrechtsrat Zugang zu den besetzten Gebieten.

Treuer Dienst und gewissensgeleiteter Gehorsam

Das Militär wird oft mit einem Begriff des Soziologen Erving Goffman als »totale Institution« beschrieben, in der sich durch Abschottung, totale Kontrolle und Zwang Antisozialisation vollzieht. Die russischen Streitkräfte sind ein Beispiel dafür. Der Historiker Jörg Baberowski hat sie als »Gefängnis« bezeichnet, »in dem Rekruten gedemütigt und gebrochen werden«. Vom »Zarenreich bis zum Putin-Regime waren sie totalitär organisierte Institutionen« (Sven Felix Kellerhoff, Historiker und Journalist). Die Bundeswehr hingegen ist durch die Innere Führung und das Konzept des »Staatsbürgers in Uniform« trotz mancher Einschränkungen individueller Freiheiten und eines notwendig hierarchischen Systems keine totale Institution.

Grundsätzlich sollte jedes Militär ›Transzendenzcharakter‹ haben: Es darf kein »Staat im Staat« sein, sondern ist über sich selbst hinaus auf die Gesellschaft verwiesen, zu deren Schutz es existiert. Die Bundeswehr ist darüber hinaus an politische Weisungen gebunden und an eine von antiker Tugendethik, neuzeitlicher Menschenrechtsethik und christlicher Naturrechtsethik gleichermaßen bejahte Werteordnung, die verlangt, die Würde jedes Menschen ins Zentrum des Handelns zu stellen. Stets ist in Erinnerung zu rufen, dass klassische Soldatentugenden nur Sekundärtugenden sind, die ihren moralischen Wert von außen erhalten. Man denke an Tapferkeit und Treue: Bei SSSchutzstaffel-Verbrechern haben sie größte Unmenschlichkeit befördert. Deswegen sind Bundeswehrangehörige eben nicht zu blindem, sondern kritischem, »gewissensgeleitetem Gehorsam« (ZDv A2600/1: 401) und zur Treue zur Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes verpflichtet (§7–8 SG). Solch ethische Transzendenz fehlt Putins Militär: Dass Soldatinnen und Soldaten bedingungslos gehorchen müssen, hat die Duma durch drakonische Strafen für Befehlsverweigerung und Fahnenflucht betont (20. September 2022).

Freilich zeigen soziologische Untersuchungen auf, dass auch in der Bundeswehr Probleme existieren: Bildet die »Generation Einsatz« vor allem in Kampftruppen einen neuen militärischen Habitus aus, der sich am archaischen Kämpfer orientiert und in Einzelfällen für demokratiefeindliches Gedankengut empfänglich ist? Da kommen die neuen Anstrengungen zur ethischen Bildung in der Bundeswehr gerade recht (ZDv A-2620/6). Insbesondere Einsatzsoldatinnen und -soldaten müssen ethisch so begleitet werden, dass nicht nur Kampferfahrung habitusbildend wird, sondern die Sinnerfahrung des Kampfes für eine gute Sache. Nicht nur Kriegerethos und Kampfmoral dürfen zählen, sondern dass auch im Kampf Moral das Handeln leitet. Dass jetzt wieder in Europa Krieg geführt wird, hat es schmerzhaft in Erinnerung gerufen: Auch Angehörige deutscher Streitkräfte sind mehr als bewaffnete Entwicklungshelfer, ihr Handeln vollzieht sich im »Referenzrahmen Krieg« – dieser aber hat einen ethischen Referenzrahmen. Gerade weil die Bundeswehr keine »totale Institution« ist, muss hier ein angemessener soldatischer Habitus sittliche Reife habituell machen.

Es kann manchmal reichen, wenn Vorgesetzte eine Werteordnung durchsetzen. Eine solche ethische Disziplinierung hat sogar in Russland Wirkung gezeigt: Der oben genannte Human-Rights-Watch-Bericht stellt fest, dass die Dedowtschina keineswegs überall praktiziert wird und ganz »verhindert werden könnte«, wenn die politische Führung den Kampf dagegen insgesamt so ernst nähme, wie es einige Kommandeure bereits tun. Innere Führung allerdings verlangt mehr als ethische Disziplinierung: Handeln aus Einsicht und sittlicher Reife. Es muss allen Angehörigen der Bundeswehr bewusst sein, dass Ethik Teil ihres professionellen Ideals ist.

Weitgehend ist es das natürlich längst. Ein ehemaliger deutscher ISAFInternational Security Assistance Force-PRTProvincial Reconstruction Team-Kommandeur merkte kürzlich an, wie »stolz er auf die Tatsache [sei], dass die ihm unterstellten Soldaten auch nach sechs Monaten extremer Belastung und fast täglicher Gefechte hochdiszipliniert und moralisch völlig integer agiert hätten«; dies sei auch der Inneren Führung und »unserer klaren Werteorientierung« geschuldet. Nach über 65 Jahren Bundeswehr scheint es Deutschen heute selbstverständlich, dass Soldatinnen und Soldaten nicht marodieren; dass das leider keineswegs überall so ist, zeigt das russische Vorgehen in der Ukraine.

Literaturtipps

Angelika Dörfler-Dierken und Christian Göbel (Hrsg.), Charakter – Haltung – Habitus. Persönlichkeit und Verantwortung in der Bundeswehr, Berlin 2022. 
Human Rights Watch, The Wrongs of Passage. Inhuman and Degrading Treatment of New Recruits in the Russian Armed Forces, VOLVerdingungsordnung für Leistungen. 16, NO. 8 (D), https://www.hrw.org/report/2004/10/19/wrongs-passage/inhuman-and-degrading-treatment-new-recruits-russian-armed-forces (Stand: 26.01.2023).
Serhij Zhadan, Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg, Berlin 2022.

DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-616

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