Die Raketenabwehr in Europa
Die Raketenabwehr in Europa
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Der Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Europa ist ein andauerndes Streitthema zwischen Russland und der NATO. Worum geht es bei diesem Streit? Was kann das geplante Abwehrsystem? Und welche Bedeutung hat es für den Krieg in der Ukraine?
Eine ballistische Rakete kann innerhalb von Minuten eine Nutzlast über eine große Entfernung transportieren – und an einem gewünschten Punkt zur Explosion bringen. Allgemein wird zwischen Kurz‑ (100–1000 km Reichweite), Mittel‑ (1000–5500 km Reichweite) und Langstreckenraketen (über 5.500 km Reichweite) unterschieden. Dabei kann der Flugkörper mit einem oder mehreren konventionellen, hochexplosiven Gefechtsköpfen ausgestattet werden, aber auch als Träger für nukleare, biologische oder chemische Kampfmittel dienen. Die Raketenabwehr wiederum umfasst alle aktiven und passiven Maßnahmen, um ballistische Raketen zu erfassen, zu identifizieren, zu verfolgen und zu bekämpfen. Dies kann sowohl auf strategischer als auch auf taktischer Ebene und prinzipiell in jeder Flugphase des Zielobjekts erfolgen.
Während des Ost-West-Konflikts hatte die Bekämpfung ballistischer Flugkörper in der NATO-Luftverteidigung lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle eingenommen. Sie war aufgrund des technologischen Rückstands bei der Entwicklung von Abwehrsystemen im Vergleich zu Angriffssystemen schlicht nicht möglich. Das Fehlen einer aktiven Abwehr wurde durch das Prinzip der Abschreckung und durch die Befähigung zum Zweitschlag kompensiert (-> Konzept der Abschreckung; -> Gemeinsam abwehrbereit). Erst ab Ende der 1970er Jahre führten Verbesserungen der technischen Leistungsparameter ballistischer Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite – wie beispielsweise in puncto Zielgenauigkeit – bei den europäischen NATO-Staaten zu einer höheren militärischen Relevanz der Flugkörper. Doch auch bei der Entwicklung von Waffensystemen zu ihrer Abwehr waren mittlerweile technologische Fortschritte erzielt worden, sodass das Bündnis die Integrierte NATO-Luftverteidigung (NATO Integrated Air Defense, NATINAD) um die Abwehr ballistischer Flugkörper erweiterte.
Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence
Mit dem Wandel der NATO-Streitkräften von Verteidigungs- zu Interventionsarmeen in den 1990er Jahren herrschte im Bündnis weitestgehend Konsens über die Notwendigkeit des Schutzes von Truppen im Einsatz gegen ballistische Flugkörper kürzerer Reichweite. Eine moderne Bewaffnung war kein Privileg westlicher Staaten mehr. Die Verbreitung (Proliferation) von Massenvernichtungswaffen einschließlich ballistischer Raketen als Trägersysteme entwickelte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einer der schwerwiegendsten sicherheitspolitischen Herausforderungen nach 1989/90 (-> Friedensordnung von 1990; -> NATO-Osterweiterung). Das NATO-Territorium befand sich bereits in Reichweite ballistischer Flugkörper. Der Zweite Golfkrieg zeigte Anfang 1991 die psychologische und politische Relevanz von ballistischen Flugkörpern genauso wie die gesteigerten technologischen Möglichkeiten zu deren Abwehr.
Im März 2005 beschloss der Nordatlantikrat das Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence Programm (ALTBMD). Dieses war Teil des breiten Ansatzes der NATO, die Erweiterte Integrierte Luftverteidigung auszubauen und zu stärken. Ziel des Programms war es, Truppen im Einsatz gegen Angriffe mit ballistischen Flugkörpern von bis zu 3000 Kilometern Reichweite zu schützen.
Kein Abwehrsystem ist bislang technisch in der Lage, das gesamte Spektrum der Bedrohung durch ballistische Raketen optimal abzudecken. Die europäischen Bündnispartner stellten land- und seegestützte Sensoren sowie Luftverteidigungssysteme (Effektoren) für das Programm bereit. Neben der Abwehr von ballistischen Raketen waren Systeme wie Patriot, SAMP/T (Surface/So Air Moyenne Portée Terrestre) und das geplante MEADSMedium Extended Air Defense System (Medium Extended Air Defense System) ebenso relevante Komponenten für die Bekämpfung von Flugzeugen, Drohnen, Hubschraubern und Marschflugkörpern. Die europäischen NATO-Staaten verfügten jedoch ausschließlich über Abwehrsysteme gegen Flugkörper von bis zu 1000 Kilometern Reichweite in der unteren Abfangschicht. Eine Bekämpfung von Flugkörpern in der oberen Abfangschicht und mit einer Reichweite von bis zu 3000 Kilometern konnten nur die USAUnited States of America sicherstellen. Zur seegestützten Verteidigung setzten sie Schiffe ein, die mit dem System Aegis ausgestattet waren. Diese dienten als Plattform für weitreichende Sensoren sowie als Startgerät für Abfangraketen. Nur mithilfe der USUnited States-Komponenten war es der NATO möglich, einen effizienten Systemverbund zu bilden. Das für eine Vernetzung notwendige Battlefield Management and Command, Control, Communications and Intelligence System (BMC3I) sollte im Bündnisrahmen gemeinsam finanziert werden.
Strategische Flugkörperabwehr
In den 1990er Jahren kreiste die Debatte in der NATO und in Europa vorrangig um die Bedrohung durch ballistische Flugkörper kürzerer Reichweite und den Aufbau entsprechender Fähigkeiten zu deren Abwehr. Eine potentielle Bedrohung Europas durch weitreichende Raketen stand hier vorerst ebenso wenig zur Diskussion wie der Aufbau einer territorialen Flugkörperabwehr. Dies änderte sich, als USUnited States-Präsident Bill Clinton im Frühjahr 2000 die Bereitschaft der USAUnited States of America erklärte, ihren geplanten Schutzschirm gegen Raketenpotentiale sogenannter Schurkenstaaten mit ihren Verbündeten zu teilen.
Die Diskussion in den USAUnited States of America um den Aufbau einer National Missile Defense sowie die Überlegungen, das europäische Bündnisgebiet mit einzubeziehen, entfachten nicht nur die erneute Debatte zwischen Moskau und Washington über nuklearstrategische Fragen, sondern auch die Kontroverse zwischen den USAUnited States of America und ihren europäischen Verbündeten. Dabei stand der ABM-Vertrag (Anti Ballistic Missile Treaty) von 1972 im Fokus, zu dessen Einhaltung sowohl Russland als auch die Mehrheit der europäischen NATO-Mitglieder drängten, um die strategische Stabilität nicht zu gefährden.
Als Teil des SALT Strategic Arms Limitation Talks-1-Pakets (Strategic Arms Limitation Talks) zwischen den USAUnited States of America und der Sowjetunion zur Begrenzung der strategischen Rüstung beschränkte der ABM-Vertrag die maximale Anzahl von Raketenabwehrsystemen beider Länder. So war eine landesweite Stationierung von Abwehrsystemen oder von hierfür erforderlichen Radarsystemen untersagt. Erlaubt war einzig eine feste bodengestützte Stellung mit bis zu 100 Abfangraketen und Startanlagen, um entweder eine Stadt oder eine Basis für Interkontinentalraketen zu schützen.
Die USAUnited States of America beabsichtigten mit ihren Plänen vor allem, das eigene Territorium gegen eine mögliche Raketenbedrohung aus Nordkorea, dem Iran oder Irak zu schützen. Entsprechend ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie das Projekt auch ohne die NATO-Partner realisieren würden. Ein Spannungsfeld aus divergierenden nationalen Interessen und wirtschaftlichen Zwängen sowie dem fehlenden Druck einer akuten Bedrohung bildete den Nährboden für unterschiedliche Wahrnehmungen und Anforderungen, die eine gemeinsame Verteidigungspolitik der NATO behinderten. Zwar waren die USAUnited States of America nicht unbedingt auf die Zusammenarbeit mit dem Militärbündnis als Organisation angewiesen, jedoch auf die Bereitschaft einiger europäischer Staaten, die Stationierung USUnited States-amerikanischer Systemkomponenten auf ihrem Territorium zuzulassen.
Partner oder Gegner?
Der maßgebliche Faktor, der Europa letztendlich zwang, sich mit dem Thema der territorialen Flugkörperabwehr zu beschäftigen, war die Rolle Russlands. Die Beziehungen zwischen Russland und den USAUnited States of America sowie den europäischen NATO-Staaten blieben im Bereich der Raketenabwehr ambivalent. Die in Russland dominierende Perspektive zur territorialen Raketenabwehr wurde bestimmt durch das Bemühen um die Aufrechterhaltung des globalen strategischen Gleichgewichts sowie die nukleare Balance mit den USAUnited States of America. Die bilateralen Verträge zur Rüstungsbeschränkung zwischen den USAUnited States of America und Russland bildeten für Moskau eine Art Anker, um nach wie vor als Supermacht wahrgenommen zu werden.
Als 2002 einige der Verträge zur Rüstungsbeschränkung wie der ABM-Vertrag beendet wurden, fürchtete Russland, diese Position zu verlieren. Spannungen ergaben sich zum einen aus den amerikanischen Plänen zur Entwicklung von Raketenabwehrsystemen für einen flächendeckenden Schutz, der das russische Offensivpotential zu konterkarieren drohte, und zum anderen aus dem Angebot an die europäischen Bündnispartner, sich an der umfassenden Abwehrarchitektur zu beteiligen. Unabhängig davon, ob die technische Umsetzung dieser Pläne geeignet war, das strategische Offensivpotential Russlands tatsächlich zu reduzieren, nahm Moskau diese Planungen als Provokation wahr. Letztendlich wurden russische Gegenmaßnahmen wie die Modernisierung der eigenen Nuklearwaffen oder die Stationierung offensiver Potenziale in unmittelbarer Nähe zum NATO-Bündnisgebiet von einer aggressiven Rhetorik Moskaus gegen die NATO-Raketenabwehr begleitet. Beide Seiten hatten sich im Laufe der Debatte nicht nur immer wieder um Schadensbegrenzung und Deeskalation des Konflikts bemüht, sondern auch dem anderen die Hand für eine Zusammenarbeit geboten. Doch gingen die westlichen Bemühungen um eine Zusammenarbeit mit Russland beim Aufbau einer territorialen Flugkörperabwehr nicht über den politischen Dialog hinaus. Zu unterschiedlich waren die Interessen und die Vorstellungen über eine Zusammenarbeit in dieser Frage. Obwohl Russland deutlich machte, dass es mit einer Stationierung von Systemkomponenten der USAUnited States of America oder der NATO in unmittelbarer Nachbarschaft, also in den früheren Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes und in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, nicht einverstanden war, hielten die USAUnited States of America an ihren Plänen fest. Aus deren Perspektive umfasste eine Kooperation vorrangig Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Transparenz. Ein gemeinsam mit Russland betriebenes Raketenabwehrsystem war zu keiner Zeit eine Option.
Für die meisten NATO-Mitglieder war von zentraler Bedeutung, dass der Aufbau einer gemeinsamen Raketenabwehr nicht zu einem nachhaltigen Konflikt mit Russland führte. Seit 2007, als die amerikanischen Raketenabwehrpläne für Europa zunehmend konkret wurden, enthielten die offiziellen Erklärungen der NATO im Zuge von Gipfeltreffen oder ministeriellen Treffen immer einen Absatz oder zumindest einige Sätze, in denen die NATO versicherte, Russland in Bezug auf den Themenkomplex Raketenabwehr im NATO-Russland-Rat zu konsultieren. Es war nicht im Sinne der Allianz, die Konfrontation mit Russland zu provozieren, um eine Option zur Schadensbegrenzung gegen potenzielle Raketenangriffe aus dem Nahen und Mittleren Osten zu gewinnen. Unbestritten waren auf dem Gebiet der Raketentechnologie in den letzten Jahren Fortschritte erzielt worden, die zumindest eine Verteidigung gegen quantitativ und qualitativ begrenzte Angriffspotenziale ermöglichten. Aber nach wie vor galt: Eine einzige nukleare Rakete, die das Abwehrsystem überwand, würde ihr Ziel vollständig vernichten. Eine Architektur zur territorialen Flugkörperabwehr, die einen vollkommenen und zuverlässigen Schutz bot, war technisch nicht realisierbar.
NATO-Gipfeltreffen in Lissabon 2010
Die Raketenabwehrpolitik von USUnited States-Präsident Barack Obama brachte letztendlich die Wende in der internationalen Raketenabwehrdebatte. Die USAUnited States of America bezogen das Bündnis nun umfassend mit in die Planungen ein, stimmten einer politischen Kontrolle des Einsatzes der Architekturanteile der USAUnited States of America durch den NATO-Rat zu und eröffneten auch Russland Möglichkeiten, mit der NATO im Bereich der Raketenabwehr zusammenzuarbeiten.
Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon 2010 erklärten die Staats- und Regierungschefs die Fähigkeit zur territorialen Flugkörperabwehr offiziell zum Kernelement der kollektiven Verteidigung und zur gemeinsamen Aufgabe der Allianz. Ein Angriff mit ballistischen Flugkörpern auf einen NATO-Partner würde faktisch den Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags auslösen. Das ALTBMD-Programm von 2005 wurde in Verbindung mit den USUnited States-Plänen zur europäischen Raketenabwehrarchitektur zum Grundgerüst für den Aufbau der gemeinsamen territorialen Flugkörperabwehr. Das mehrschichtige Prinzip der angestrebten Architektur, nach dem verschiedene Abwehrsysteme in unterschiedlichen Abfangschichten gegen ballistische Flugkörper aller Reichweiten wirken können sollten, führte zu fließenden Übergängen zwischen der strategischen und taktischen Ebene – im Angriff wie in der Abwehr.
Auf dem NATO-Gipfel in Chicago 2012 bestätigten die Staats‑ und Regierungschefs die vorläufige Befähigung (Interim Capability) des Bündnisses zur Abwehr ballistischer Flugkörper. Das Command and Control System im NATO HQHeadquarters Allied Air Command war in Ramstein in Dienst gestellt worden. Darüber hinaus standen die Aegis-Schiffe der USAUnited States of America und das Forward-based early-warning-Radar in Kürecik (Türkei) nun unter der operativen Kontrolle der NATO. Im September 2015 stationierten die USAUnited States of America vier Aegis-Schiffe im südspanischen Rota. Auf dem NATO-Gipfel in Warschau 2016 verkündeten die Staats‑ und Regierungschefs, dass die anfängliche operative Befähigung (Initial Operational Capability) der NATO BMD erreicht worden sei. Zeitgleich übernahm die Allianz die Befehls‑ und Kommandogewalt für die Raketenabwehranlage Aegis Ashore in Deveselu (Rumänien), eine landbasierte Version des Aegis-Systems. Immer wieder bekräftigte das Bündnis die Dialogbereitschaft gegenüber Russland und versicherte, dass sich die Raketenabwehrarchitektur nicht gegen russische Potentiale richtete.
Der deutsche Beitrag
Für Deutschland war es aufgrund seiner geostrategischen Lage und seiner Funktion als zentraleuropäische Mittelmacht der NATO stets von großer Bedeutung, dass die Politik zur flächendeckenden Raketenabwehr nicht zu Spannungen mit Russland führte. Die politische Debatte und die Argumentation für oder gegen eine deutsche Beteiligung an der Raketenabwehr bewegte sich primär zwischen der Sorge vor russischer Kritik auf der einen und USUnited States-amerikanischem Druck auf der anderen Seite.
Deutschland stellte wiederholt infrage, ob präventive Verteidigungsmaßnahmen gegen eine potentielle Bedrohung die richtige Antwort auf das Problem der Proliferation seien. Die Bundesregierung plädierte für eine Stärkung der diplomatischen Ansätze und sträubte sich dagegen, über den politischen Dialog hinaus auch militärische Maßnahmen zu ergreifen. Sie setzte sich immer wieder für Konsultationen über die USUnited States-Raketenabwehrpläne im Bündnis und für eine gemeinsame Position der europäischen NATO-Staaten ein. Im Vordergrund stand dabei die Sorge vor der Entstehung unterschiedlicher Sicherheitszonen und die damit einhergehende Frage nach der Existenzberechtigung der NATO. Erst als die USAUnited States of America ihre Pläne zum Aufbau einer territorialen Flugkörperabwehr in die NATO integrierten und sich offiziell zur Zusammenarbeit mit Russland bereit erklärten, stimmte die Bundesregierung dem Projekt auf dem NATO-Gipfel in Lissabon nach jahrelanger Zurückhaltung und trotz russischer Widerstände zu.
Anfang Februar 2012 benannte Verteidigungsminister Thomas de Maizière gegenüber den Bündnispartnern und der Presse die grundsätzliche Verfügbarkeit von deutschen Patriot-Verbänden für die territoriale Flugkörperabwehr der Allianz. Patriot ist im Bereich der Systeme kleinerer Reichweite einzuordnen und eignet sich zur Abwehr ballistischer Kurzstreckenraketen. Nach der Bedrohungsanalyse erschien ein Einsatz operationell vorrangig in der Peripherie des Bündnisgebietes und im internationalen Verbund sinnvoll. Darüber hinaus beschloss die NATO, am deutschen Standort Ramstein eine Kommandozentrale einzurichten. Die NATO-Raketenabwehr wurde in das bestehende Luftverteidigungssystem NATO Integrated Air Defence System (NATINADS) integriert und das bereits bestehende integrierte HQHeadquarters Allied Air Command in Ramstein erweitert, um die Verantwortung für die Luftverteidigung aus einer Hand sicherzustellen, Dopplungen von Strukturen zu vermeiden und eine schnellstmögliche Einsatzbereitschaft zu gewährleisten. Damit wurde die Raketenabwehrfähigkeit der NATO von nun an von deutschem Boden aus geführt.
Neue alte Spannungen
Dmitri Medwedew, von 2008 bis 2012 Präsident Russlands, forderte Ende 2010, dass sein Land als gleichwertiger Partner in die Pläne der NATO zur Flugkörperabwehr einbezogen werde. Russland hatte dem Atlantischen Bündnis bereits früher einen alternativen Vorschlag zu einer gemeinsamen Flugkörperabwehrarchitektur unterbreitet, in dem die NATO und Russland gemeinsam möglichen Bedrohungen für Europa durch Risikostaaten begegneten. Medwedew bat darum, das russische Konzept, das auf einer Aufteilung des Schutzgebiets in Zonen basierte, erneut zu prüfen. Darüber hinaus forderte Moskau von der NATO eine rechtlich verbindliche Garantie, dass sich ihre Raketenabwehrarchitektur nicht gegen Russland richte. Falls das Bündnis diese Forderungen nicht erfülle, drohte Russland, eine eigene Raketenabwehr aufzubauen, den neuen Strategic Arms Reduction Treaty (STARTStrategic Arms Reduction Treaty) zu kündigen oder ballistische Flugkörper an der NATO-Ostgrenze zu stationieren.
Die NATO-Mitglieder waren sich einig, dass das Bündnisgebiet und seine Bevölkerungen ausschließlich durch das Bündnis verteidigt werden dürfe. Demzufolge war weder die Aufteilung des NATO-Territoriums in Zonen realisierbar, noch konnten Russland Veto-Rechte zugesprochen werden. Die neuen NATO-Mitglieder an der Ostflanke des Bündnisgebietes standen einer Zusammenarbeit mit Russland ohnehin reserviert gegenüber. Ihr Vertrauensverhältnis zu Moskau war historisch bedingt nicht wiederhergestellt. Sowohl die Obama-Administration als auch der NATO-Generalsekretär lehnten die russische Forderung nach der rechtlichen Garantie ab. In Washington und Brüssel wurde dafür eine politisch verbindliche, jedoch rechtlich nicht wirksame Erklärung in Betracht gezogen, in der das Bündnis noch einmal unterstreichen hätte können, dass sich das Raketenabwehrprojekt nicht gegen russische Interessen richtete. Doch die Mehrheit der strategischen Elite in Russland unterstellte den USAUnited States of America und der NATO, sie würden sich mit ihrem Aufbau einer Raketenabwehr befähigen, einen atomaren Erstschlag auszuführen und einen russischen Vergeltungsschlag abzuwehren. Folglich müsse Moskau Aufrüstungsschritte einleiten, wenn die russischen Bedenken nicht berücksichtigt würden. Schlussendlich scheiterten sowohl die USAUnited States of America als auch die NATO an dem Vorhaben, mit Russland eine Kooperation hinsichtlich der Raketenabwehr zu vereinbaren. Als Reaktion auf die völkerrechtwidrige Annexion der Krim durch Russland 2014 brach die NATO alle Verbindungen auf der Arbeitsebene ab.
Auf das Ende des INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrages 2019, der seit 1988 die Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte (Intermediate Range Nuclear Forces) regulierte, und die russische Stationierung von Mittelstreckenraketen reagierte die NATO mit einem umfangreichen Maßnahmenpaket, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses zu stärken (-> Who lost Russia?). Explizit schloss dieses die gemeinsame Fähigkeit zur Luftverteidigung inklusive der Abwehr ballistischer Flugkörper mittlerer Reichweite ein. Für Deutschland, das in der gemeinsamen NATO-Luftverteidigung eine zentrale Rolle spielt, ist diese Maßnahme von großer Bedeutung. Die Kräfte der bodengebundenen Luftverteidigung der Bundeswehr sind Teil der Integrierten NATO-Luftverteidigung und liefern einen substantiellen Beitrag zur Sicherheit des Luftraumes über dem Bündnisgebiet.
An der NATO-Ostflanke
So ist der Dienstbereich der Luftwaffe auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine gefragt: Bereits Mitte März 2022 verlegten deutsche Flugabwehrraketenkräfte mit dem Waffensystem Patriot von Husum nach Sliač in die Slowakei, um gemeinsam mit einem niederländischen Patriot-Kontingent die Luftverteidigungsfähigkeit der NATO an der östlichen Flanke des Bündnisgebietes zu stärken. Innerhalb der Allianz ist diese Mission als Teil der enhanced Vigilance Activities (eVA) Ausdruck der Solidarität mit den östlichen Bündnispartnern. Im Rahmen der NATO-Mission enhanced Forward Presence (eFP) verlegten Soldatinnen und Soldaten der Flugabwehrraketengruppe 61 Anfang April 2022 mit dem leichten Flugabwehrsystem (Ozelot) nach Litauen.
Doch neue Bedrohungen aus der Luft wie Waffensysteme mit Hyperschalltechnologie treffen hier auf eine Luftverteidigung, die seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts deutlich an Schlagkraft verloren hat. Der qualitative und quantitative Nachholbedarf ist evident. So wird der neue sicherheitspolitische Kurs Deutschlands als Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine auch Folgen für den Dienstbereich der bodengebundenen Luftverteidigung haben. Ob in puncto Nah- und Nächstbereichsschutz oder der Fähigkeit zur Abwehr ballistischer Raketen, ob durch die Beschaffung neuer Luftverteidigungssysteme oder weiterer bereits in Nutzung befindlicher Systeme und deren Modernisierung – in der Diskussion über die Aufteilung des Sondervermögens für die Bundeswehr mehren sich die Stimmen zugunsten einer Verstärkung der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung.
DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-607
Literaturtipps
Friederike C. Hartung, Ein Dach über Europa. Politische Symbolik und militärische Relevanz der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung 1990 bis 2014, Berlin/Boston 2022
Götz Neuneck, Christian Alwardt, Hans Christian Gils, Raketenabwehr in Europa, Baden-Baden 2015
André Böing, Die außenpolitischen Debatten in Deutschland um die Raketenabwehrpläne der USAUnited States of America und der NATO während der Amtszeiten der Regierungen Merkel (2005–2017). Eine Analyse im Lichte der Spannungsverhältnisse »Westintegration« und »Ostpolitik«, Münster 2018
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