Das Konzept der Abschreckung

Gleichgewicht des Schreckens

Gleichgewicht des Schreckens

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In den aktuellen Analysen zur sicherheitspolitischen Lage in Europa fällt immer wieder der Begriff »Abschreckung«. Er stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und beschreibt ein System, das einen atomar geführten Dritten Weltkrieg verhindern sollte. Was versteht man unter Abschreckung und welche Prämissen müssen erfüllt sein, damit dieses System auch funktioniert?

Test einer Atombombe

Symbol des Kalten Krieges: Test einer Atombombe in der Wüste von Nevada, USAUnited States of America, in den 1950er Jahren.

Amerika Haus / Süddeutsche Zeitung Photo

Es war der Anfang einer neuen Ära in der Sicherheitspolitik: Am 6. August 1945 warf ein USUnited States-amerikanischer Bomber eine Atombombe über der Stadt Hiroshima ab. Ihre Sprengwirkung entsprach in etwa 13 Kilotonnen (KT) TNTTrinitrotoluol-Sprengstoff; zwischen 20 000 und 80 000 Menschen starben sofort, weitere zehntausende später an den Folgen der radioaktiven Strahlung.

Die Amerikaner hatten ihr Projekt zur Entwicklung der Atombombe unter größter Geheimhaltung vorangetrieben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen sie daher die wachsende Überlegenheit des sowjetischen Imperiums im Bereich der konventionellen (also nicht-nuklearen) Waffen zunächst mit Gelassenheit hin: Ihr Atommonopol garantierte ihnen eine strategische Überlegenheit; Stalin würde es auf einen Krieg nicht ankommen lassen.

NATO und Warschauer Pakt vor 1990
ZMSBw

Atomares Patt

Aber die Geheimhaltung hatte nicht ausgereicht: Nicht zuletzt durch den Verrat von Atomgeheimnissen (etwa durch den deutschstämmigen Physiker Klaus Fuchs) gelang es der Sowjetunion, 1949 ihrerseits eine Atombombe zu zünden. Das Zeitalter des »nuklearen Patts« brach an.

Kubakrise

»O.K. Mr. President, let's talk.« Die Kubakrise brachte die Supermächte UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken und USAUnited States of America an den Rand einer Katastrophe, Karikatur aus der britischen Boulevardzeitung »Daily Mail«, 1962.

SZ Photo / Süddeutsche Zeitung Photo

Die technische Entwicklung der Bomben ging auf beiden Seiten weiter: Die Sprengkörper wurden kleiner, leichter, handhabbarer – und viel wirkmächtiger. Einen großen Schritt in die Richtung wesentlich gefährlicherer Waffen stellte die Entwicklung der Wasserstoffbombe 1953/1954 dar, bei der die größte Waffenwirkung nicht mehr auf eine Kernspaltung, sondern auf eine Kernfusion, also der Verschmelzung zweier Atome, zurückging. Unvorstellbare Sprengwirkungen bis zum Äquivalent von 100 Millionen Tonnen TNTTrinitrotoluol (100 Megatonnen) wurden dadurch möglich – das Siebentausendfache der Hiroshima-Bombe. Trotzdem waren die USAUnited States of America zunächst weiter im Vorteil. Sie verfügten nicht nur über mehr Sprengköpfe, sie hatten auch die besseren Voraussetzungen, nukleare Waffen ins Ziel zu bringen. Das einzige Mittel dazu war lange der strategische Bomber. Durch ihre Bündnissysteme, vor allem den 1949 geschlossenen Nordatlantikvertrag (NATO), hatten die USAUnited States of America weltweit Stützpunkte für solche Maschinen bauen können: von Grönland über Großbritannien, Marokko (später Spanien), Diego Garcia im Indischen Ozean und Okinawa (Japan) bis hin nach Alaska. Von diesen Basen aus konnten die Bomber der USUnited States Air Force vom Typ B-52, der 1955 zum ersten Mal zur Truppe kam und heute noch verwendet wird, Ziele in allen Teilen der Sowjetunion angreifen.

1955 schloss die Sowjetunion mit den anderen Staaten des Ostblocks ebenfalls ein Bündnis, den Warschauer Pakt. Vorerst waren die Sowjets jedoch nicht in der Lage, das Kernland der USAUnited States of America mit Bombern zu erreichen.

Das alles war schlagartig in Frage gestellt, als die Sowjetunion 1957 erstmals einen künstlichen Satelliten in eine Umlaufbahn brachte, ein Ereignis, das als »Sputnik-Schock« in die Geschichtsbücher einging. Damit war klar, dass die Sowjets innerhalb kurzer Zeit mit Raketen auch nukleare Sprengsätze würden befördern können – bis in die USAUnited States of America. Beide Seiten profitierten bei der Entwicklung ihrer Raketen von den Erfahrungen der deutschen Wissenschaftler, die im Krieg mit der V2 eine erste ballistische Rakete gebaut hatten. Wie schon 1944/1945 ging man bis in die 1970er Jahre hinein davon aus, dass es gegen eine einmal abgeschossene Rakete keine Abwehrmöglichkeit gab.

Enthauptungsschläge

Gleichwohl blieben die USAUnited States of America im Vorteil: Sie konnten von ihren Basen aus die Sowjetunion aus allen Richtungen angreifen, und das mit kurzen Vorwarnzeiten. Auch wenn sich das sowjetische Atomwaffenpotenzial nicht würde ausschalten lassen: Ein »Enthauptungsschlag« gegen die politisch Verantwortlichen schien möglich. Umgekehrt mussten sowjetische Raketen über den Nordpol in die USAUnited States of America einfliegen; die riesige amerikanisch-kanadische Radarkette in der Arktis sorgte hier für Vorwarnzeiten, die es erlaubten, zumindest den Präsidenten an Bord eines Flugzeugs in Sicherheit zu bringen.

B-52 Stratofotress

B-52 Stratofotress: Das USUnited States-Militär nutzt bis heute Langstreckenbomber wie diese Boeing als Trägersystem für den Einsatz ihrer Nuklearwaffen.

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Die Lage drohte sich zu ändern, als die Sowjetunion 1962 Vorbereitungen traf, nuklear bestückte Raketen auf Kuba zu stationieren. Im Süden der USAUnited States of America gab es keine vergleichbare Radarkette und die deutlich geringere Entfernung zum amerikanischen Festland hätte drastisch kürzere Vorwarnzeiten bedeutet. In der Folge schien auch ein Enthauptungsschlag gegen Washington möglich zu werden. Das war der Grund, weshalb USUnited States-Präsident John F. Kennedy so scharf reagierte und Kuba blockieren ließ. Beide Seiten schienen bereit zur Eskalation; am Ende gelang es, die Krise mit diplomatischen Mitteln zu entschärfen. Die USAUnited States of America zogen ihre veralteten Atomraketen vom Typ Jupiter aus der Türkei zurück, die Sowjets ihre aus Kuba. Es war die Politik des brinkmanship gewesen – die Bereitschaft, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen, bevor eine der beiden Seiten einknickte.

Die USAUnited States of America und die NATO setzten in den Jahren ihrer nuklearen Überlegenheit auf die abschreckende Wirkung der Atombombe: Der damalige Präsident Dwight D. Eisenhower erklärte, auf jede Aggression mit einem massiven Nuklearwaffeneinsatz zu reagieren (Massive Vergeltung).

Von Massive Retaliation zu Flexible Response

Aber die Berlin-Krise ab 1958 sowie das sich abzeichnende nukleare Patt zwangen zum Nachdenken. War es glaubwürdig, dass die USAUnited States of America ein nukleares Inferno auslösten, wenn ein kompaniestarker Konvoi auf den Zugangswegen nach Berlin bei Magdeburg festgehalten würde? In der Kubakrise erklärten die amerikanischen Generale ihrem Präsidenten, im Ernstfall müsse er einem nuklearen Schlag zustimmen, und dann würden sie die Sowjetunion innerhalb von zwei Wochen in die Steinzeit bomben. Was er in dieser Zeit denn tun solle, fragte der Präsident und Oberbefehlshaber. »Am besten gar nichts«, war die Antwort. Aber mit dieser Absage an die politische Kontrolle des Atomkrieges war Präsident Kennedy keineswegs einverstanden. Er begann die westliche Strategie hin zu einer Flexiblen Antwort (Flexible Response) zu verändern. Erst wenn konventionelle Mittel nicht mehr ausreichten, sollte, politisch gesteuert, nuklear eskaliert werden – und selbst dann kontrolliert, stufenweise von nuklearen Gefechtsfeldwaffen bis hin zu strategischen Interkontinentalwaffen.

Und in der Tat bewies der Vietnamkrieg, in dem sich die USAUnited States of America während der Kennedy-Jahre immer stärker militärisch engagierten, dass weiterhin Kriege unterhalb der Nuklearschwelle möglich waren.

Die europäischen Partner, gerade auch die Bundesrepublik, standen dem Konzept der Flexible Response anfangs skeptisch gegenüber: Was, wenn der amerikanische Präsident irgendwann nicht weiter eskalierte? War dies der Ausstieg der USAUnited States of America aus der Nukleargarantie für Europa? Die Massive Retaliation war ein Konzept zur Kriegsverhinderung durch Abschreckung gewesen – war das neue nicht eher eine Kriegsführungsstrategie? Andererseits wuchs mit Flexible Response die Bedeutung der konventionellen Kräfte im Bündnis, und damit das Gewicht des größten konventionellen Kräftestellers auf dem europäischen Kontinent: der Bundesrepublik.

Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.

Nuklearwaffen sind immer politische Waffen. Selbst der Einsatz eines einzelnen taktischen atomaren Sprengkopfs für eine 155-mm- oder 203-mm-Haubitze bedurfte und bedarf seit der Ära Kennedy der Freigabe durch den Präsidenten – eben weil er einen Eskalationsschritt hin zu einem globalen Atomkrieg darstellen würde. Nur unter ganz eng gefassten Bedingungen durften vorher festgelegte höhere Befehlshaber Nuklearwaffen ohne eine solche Freigabe einsetzen –falls eindeutig festgestellt werden konnte, dass der zentrale Führungsapparat in den USAUnited States of America handlungsunfähig war.

Sichere Vernichtung

Um dies zu verhindern, setzte man auf die Mutually Assured Destruction (MADMilitärischer Abschirmdienst, Gesicherte Zweitschlagsfähigkeit). Die Zielsetzung lautete: Auch nach einem Überraschungsangriff auf die nuklearen Waffensysteme und die Führungsstruktur einer Seite würden der anderen, angegriffenen Seite hinreichend einsatzfähige Ressourcen verbleiben, um dem Angreifer seinerseits vernichtende Schläge zu versetzen.

Dafür war es wichtig, redundante Führungssysteme zu schaffen. Zunächst wurden Vorkehrungen getroffen, den USUnited States-Präsidenten als den Oberbefehlshaber der Streitkräfte jederzeit in Sicherheit bringen zu können. Dass Präsident Kennedy immer wieder seinen Sicherheitsleuten entkam, um sich mit Frauen zu treffen, war daher ein Problem der nationalen Sicherheit: Was, wenn eine von ihnen eine sowjetische Agentin war und der Präsident im Falle des Falles unauffindbar blieb? Als Kennedy im November 1963 ermordet wurde – und auch dahinter hätte ja ein sowjetischer Agent stecken können –, musste als allererstes Vizepräsident Lyndon B. Johnson in ein Flugzeug gebracht und noch in der Luft vereidigt werden, damit die Reaktionsfähigkeit der USAUnited States of America sichergestellt war.

Im März 1981 wurde Präsident Ronald Reagan von einem Attentäter angeschossen und schwer verletzt. Außenminister Alexander Haig, der danebenstand, reagierte mit »I’m in charge!« – »Alles hört auf mein Kommando!« Das stimmte natürlich nicht – der Vizepräsident war jetzt in charge, aber Haig, dem früheren Vier-Sterne-General und NATO-Oberbefehlshaber Europa, war daran gelegen, dass sofort ein Entscheidungszentrum für den Fall einer Krise bereitstand.

Die Ausschaltung der gegnerischen Führung in einem Erstschlag war eine Möglichkeit, den potenziellen Feind an einem Zweitschlag zu hindern. Die andere Möglichkeit bestand darin, alle oder doch sehr viele seiner Waffensysteme frühzeitig zu vernichten.

Die Triade

Daher kam es darauf an, die eigenen Waffensysteme möglichst unverwundbar zu machen. Das »klassische« Trägersystem war der Bomber, der aus großer Höhe einen nuklearen Sprengsatz abwerfen sollte, dann aber schnell genug sein musste, selbst der Waffenwirkung zu entkommen; schon die »Enola Gay«, die Hiroshima bombardiert hatte, war von der Druckwelle schwer durchgerüttelt worden. Bei Wasserstoffbomben stellte sich das Problem noch viel stärker.

Andererseits waren Langstreckenbomber zunächst einmal kaum durch einen Überraschungsangriff auszuschalten – zumindest so lange, wie ständig einige nuklear bestückte Maschinen irgendwo im Luftraum über den USAUnited States of America kreisten. Zugleich wurde es angesichts der verbesserten Luftabwehrsysteme immer schwieriger, solche Bombenflugzeuge bis über das Ziel durchzubringen. Waren sie aber einmal über dem Zielgebiet, waren sie lange das präziseste delivery vehicle (Trägermittel).

Mittelstreckenrakete vom Typ SS-20

Neue Form der Bedrohung: sowjetische Mittelstreckenrakete vom Typ SSSchutzstaffel-20, 1987.

picture alliance / ITAR-TASS | ITAR-TASS

Das war wichtig, weil sich die Abschreckung in den 1960er Jahren immer mehr auf Interkontinentalraketen abstützte. Interkontinentalraketen aber brauchten feste Startrampen, die dem jeweiligen Gegner bekannt waren und daher in einem Erstschlag bekämpft werden konnten. Versuche, solche Raketen auf Eisenbahnwagen beweglich vorzuhalten und so ihren jeweiligen Standort zu verschleiern, führten zu wenig greifbaren Ergebnissen. Beide Seiten gingen dazu über, ihre Raketen in großen unterirdischen Silos unterzubringen, die einen weitgehenden Schutz boten und aus denen die Raketen, etwa vom Typ Minuteman, abgefeuert werden konnten.

Wollte man wiederum die Silos bekämpfen, war es wichtig, sehr präzise zu treffen – oder man musste hierzu sehr große Nuklearsprengköpfe einsetzen, mit allen sich daraus ergebenden Nebenfolgen.

In den 1960er Jahren kursierten Jugendbücher über aufregende technische Errungenschaften. Eines davon behandelte die Fahrt des atomgetriebenen U‑Boots USS Nautilus, das unter dem Nordpol hindurchtauchte. Was das Buch nicht verriet: Das Ereignis markierte eine neue Form der Bedrohung der Sowjetunion durch die USAUnited States of America. Ein solches U‑Boot konnte unter dem Eis hindurchfahren, vor der sowjetischen Nordküste auftauchen und von dort mit einer kurzen Vorwarnzeit ballistische Raketen (Polaris, später Trident) gegen das Kernland der Sowjetunion abfeuern.

Während der gesamten zweiten Hälfte des Kalten Krieges hatte die Sowjetunion bei den Interkontinentalraketen einen erheblichen Vorsprung, wogegen die USAUnited States of America bei den seegestützten Raketen überlegen waren. Ein Nachteil der seegestützten Raketen war allerdings, dass sie eher ungenau in der Nähe des Ziels detonierten, vor allem deshalb, weil sich der genaue Standort des U-Boots beim Abschuss nur schwer bestimmen ließ. Die Entwicklung eines satellitengestützten Global Positioning System (GPSGlobal Positioning System) sollte dem abhelfen.

Reichweiten der SS-20
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Nukleare Kontrolle

Eine eigene Rolle spielten im westlichen Verteidigungssystem Großbritannien und Frankreich. Beide besaßen und besitzen Nuklearwaffen: Die britischen Bomben und Polaris-Raketen waren amerikanischer Bauart; London hatte sich vertraglich verpflichtet, seine Zielplanung eng mit Washington abzustimmen – hier besaßen die USAUnited States of America also einen erheblichen Einfluss. Frankreich dagegen hatte seine Atomwaffen selbst entwickelt. Französische Bomber, Raketen-U‑Boote, Flugzeugträger und die Mittelstreckenraketen in ihren Silos auf dem Plateau d’Albion unterstehen allein dem französischen Präsidenten. Das klingt nach einer Zersplitterung der Kräfte, bedeutete allerdings auch mindestens zwei voneinander unabhängige, wenn auch größenordnungsmäßig sehr unterschiedliche Entscheidungszentren. Dies konnte den Abschreckungswert erhöhen.

Überhaupt war das Wichtige an den Nuklearwaffen, dass sie politischer Kontrolle unterlagen. 1964 brachte Stanley Kubrick den satirischen Film »Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben« heraus, in dem ein Wahnsinniger gezielt den nuklearen Weltuntergang auslöst. Das galt es im realen Leben auf jeden Fall zu vermeiden. Andererseits musste aber sichergestellt sein, dass die verbleibenden Atomwaffen auch dann noch eingesetzt werden konnten, wenn die politische Führung ausgeschaltet worden war – sonst wäre das eine Einladung zum Erstschlag gewesen.

Die Freigabeverfahren für Nuklearwaffen sind bis heute in Ost und West streng geheim und in Teilen nicht einmal den Verbündeten bekannt. Die weitestgehende Autonomie haben, soweit man weiß, die Kommandanten von raketenbestückten U-Booten. Das aber war während des Kalten Krieges der Grund, weshalb fast nie sowjetische Raketen-U‑Boote im offenen Atlantik operierten: Zu groß war die Angst der kommunistischen sowjetischen Führung, ein solches U-Boot könnte sich der Kontrolle entziehen; bei den von den Sowjets präferierten landgestützten Waffensystemen war diese Gefahr geringer.

Neue Ungleichgewichte

Neben den strategischen gab es auch kleinere taktische Atomwaffensysteme, die zur Bekämpfung gegnerischer Truppenkonzentrationen oder für große Sprengungen (Atomic Demolition Munitions oder Atomminen) gedacht waren. Auch sie unterlagen der politischen Kontrolle, weil man allgemein davon ausging, dass die Entscheidung zu ihrem Einsatz einen Sprung auf der Eskalationsleiter bedeutete und die Welt dem »großen« Nuklearkrieg näherbringen konnte.

In den späten 1970er Jahren ging die Sowjetunion dazu über, im europäischen Teil ihres Landes Mittelstreckenraketen vom Typ SSSchutzstaffel-20 zu stationieren. Sie bedrohten nicht die USAUnited States of America, sehr wohl aber die europäischen Verbündeten. Das warf die alte Unsicherheit im nordatlantischen Bündnis auf, wie sie schon den Strategiewechsel zur Flexible Response begleitet hatte: Konnte man sich auf die amerikanische Nukleargarantie wirklich verlassen? Würden die USAUnited States of America mit Interkontinentalraketen reagieren, wenn die Sowjetunion »nur« die Europäer bedrohte? Der Westen reagierte seinerseits ab 1983 mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing-II, die von der Bundesrepublik aus weite Teile der europäischen Sowjetunion erreichen konnten. Das ermöglichte der NATO eine »vorbedachte Eskalation«: Ein sowjetischer Angriff auf europäische NATO-Partner hätte sofort die Zerstörung sowjetischen Territoriums zur Folge gehabt.

Der Westen verfügte aber zusätzlich über ein technologisch völlig neues System: den Marschflugkörper oder Cruise Missile. Dabei handelte es sich um ein computer- und radargesteuertes unbemanntes Flugzeug von erheblicher Reichweite, das konventionell oder nuklear bestückt die Radarsysteme des Warschauer Pakts unterfliegen und sein Ziel im Tiefstflug erreichen konnte.

1987 landete der Deutsche Mathias Rust, aus Finnland kommend, auf dem Roten Platz. Wenn das schon einem Sportflieger mit einer Cessna gelingen konnte, um wie viel größer musste dann die Bedrohung durch die oben genannten Marschflugkörper sein.

Grafik geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen 1983–1987

Aus dem Gleichgewicht?

Es schien jetzt plötzlich erneut möglich, die Moskauer Staats- und Parteiführung in einem Überraschungsschlag auszuschalten – ein potenziell destabilisierender Gedanke. Letztlich gelang es der NATO dadurch, das nukleare Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen, das die Aufstellung sowjetischer SSSchutzstaffel-20-Raketen erheblich gestört hatte. Wenn die sowjetische Führung versucht hatte, zwischen die USAUnited States of America und ihre europäischen Partner einen Keil zu treiben, so hatte die solidarische Haltung der Bündnispartner dies erfolgreich abgewehrt.

Hinzu kam, dass der amerikanische Präsident Reagan den Auftrag gab, ein Abwehrsystem zu entwickeln, das anfliegende sowjetische ballistische Raketen abwehren konnte (Strategic Defense Initiative, SDI, das unter dem anschaulichen Beinamen Star Wars bekannt wurde). Hätte dies Aussicht auf Erfolg gehabt, wäre es ein weiterer Anreiz für die sowjetische Führung gewesen, die USAUnited States of America anzugreifen, solange sich das Gleichgewicht des Schreckens nicht vollends verschoben hatte. Sowjetische Analysten kamen aber recht bald zu dem zutreffenden Schluss, dass SDI technologisch noch lange unausgereift bleiben und damit keine Bedrohung darstellen würde.

Langfristig aber waren die Sowjetunion und ihre im Warschauer Pakt zusammengeschlossenen Partner dem Westen technologisch unterlegen. Auf dessen Fähigkeit, einen sowjetischen Überraschungsangriff abzuwehren und danach die Heranführung der zweiten strategischen Staffel aus der Tiefe der Sowjetunion wirkungsvoll zu behindern, hätte Moskau nur noch mit einer weiteren Steigerung seiner Rüstungsanstrengungen reagieren können, wozu die Volkswirtschaften der sozialistischen Staatenfamilie nicht mehr in der Lage waren.

1987 unterzeichneten die USAUnited States of America und die Sowjetunion den INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrag. Mit ihm begann die letzte Phase des Kalten Krieges, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 endete (siehe Europäische Friedensordnung von 1990).

Ist MADMilitärischer Abschirmdienst verrückt?

Natürlich hatten viele schnell bemerkt, dass das Kürzel für das Gleichgewicht des Schreckens, MADMilitärischer Abschirmdienst, gleich dem englischen Wort für »verrückt« war. War also das alles so verrückt wie Dr. Seltsam aus dem Film?

Es mag seltsam klingen, aber das System der gegenseitigen Abschreckung hatte eine strenge innere Logik. Der amerikanische Politiker und Sicherheitsexperte Strobe Talbott schrieb ein Buch, das auf Deutsch unter dem Titel »Raketenschach« herauskam.

Solange beide Seiten rational handelten, musste ihnen klar sein, dass es in einem Atomkrieg keine Gewinner geben kann: »Wer zuerst schießt ...« Das System war also darauf ausgerichtet, einerseits die Eskalation bis hin zum Nuklearkrieg als glaubwürdige Abschreckung vorzubereiten, andererseits aber eine solche tatsächliche Eskalation durch politische Kontrolle und technische Vorkehrungen zu verhindern.

Entscheidend war, dass beide Seiten rational handelten. Der kommunistischen Führung in Moskau unterstellte man das im Westen implizit. Was immer über den Kommunismus kritisch zu sagen ist: Er ist eine in sich geschlossene, intellektuell anspruchsvolle Weltanschauung. Die Spitzenpolitiker im Westen waren nicht verrückt, und auch die Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion handelten rational. Weil das gegeben war, blieb es bei der gegenseitigen Bedrohung und kam es nie zum Atomkrieg.

Literaturtipps

Odd Arne Westad, Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2019.
John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007.
Militärgeschichte. Von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Hrsg. von Michael Epkenhans und Frank Hagemann, Braunschweig 2021, S. 460–486.

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DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-587


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