Dossier „20. Juli 1944“

Der militärische Widerstand. Eine historische Einordnung

Der militärische Widerstand. Eine historische Einordnung

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Warum konnte das NSNationalsozialismus-Regime so lange bestehen? Und warum wagten so wenige den Versuch, sich gegen die Diktatur, den Hass und die Unterdrückung so vieler aufzulehnen? Letztlich war es die Masse der „ganz normalen Deutschen“, die vom Regime profitierte und es dadurch stützte. Widerstand war eine Mission weniger, die viele mit dem Leben bezahlten.

Hitler reicht einem Mann die Hand zur Begrüßung, daneben stehen Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Wilhelm Keitel.

Zum Anschlag bereit: Claus Schenk Graf von Stauffenberg (ganz li.) traf auch in den Tagen vor dem tatsächlichen Attentatsversuch am 20. Juli 1944 immer wieder mit Hitler zusammen, wie hier im Führerhauptquartier "Wolfsschanze" am 15. Juli 1944.

Bundesarchiv, Bild 146-1984-079-02

Das „Dritte Reich“ ist gekennzeichnet durch größte Menschheitsverbrechen und das totale moralische Versagen jeglicher Instanzen und nicht zuletzt der deutschen Bevölkerungsmehrheit. Umso evidenter war der Bedarf jener hinterher, die Machtübergabe an die Nationalsozialisten und deren Folgen erklären zu wollen, vor allem aber den eigenen Beitrag dazu zu relativieren. Ein gängiges Narrativ in diesem Kontext lautete, Hitler sei von der Mehrheit der Deutschen nicht gewählt worden und gegen die skrupellose Brutalität der Nazis habe man sich gar nicht oder nur unter Einsatz des Lebens wehren können.

Kaum jemand verteidigte die Demokratie

Das Argument an sich ist richtig: Die NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei erreichte bei den nicht mehr ganz so freien Wahlen am 5. März 1933 „nur“ einen Spitzenwert von 43,9 Prozent. Vergessen wird dabei, dass inklusive der Nationalsozialisten mit deutlicher Mehrheit Parteien gewählt worden sind, die eine freiheitliche Demokratie zumindest nicht verteidigten. Dies tat am Ende nur noch die SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands, die als einzige Partei im Reichstag am 23. März 1933 gegen das sogenannte Ermächtigungsgesetz stimmte. Mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, wie es formal richtig hieß, wurde die Gewaltenteilung durchbrochen: Die Regierung konnte fortan Gesetze einbringen und selbst verabschieden, ohne Zustimmung des Parlamentes. Zusammen mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933, der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, mit der bereits die Grundrechte der Verfassung außer Kraft gesetzt worden waren, gilt das „Ermächtigungsgesetz“ heute als rechtliche Hauptgrundlage der nationalsozialistischen Diktatur. 

Grafische Darstellung der Reichstagswahlergebnisse und Mandate der verschiedenen Parteien in den Jahren 1919 bis 1933

Reichstagswahlergebnisse und Mandate in der Weimarer Republik 1919 bis 1933

Bundeswehr/Nogli

Auf dieser Basis vollzog sich fortan ein Prozess der Gleichschaltung, der gleichwohl am 31. März und 7. April 1933 gesetzlich verankert worden ist. Den Genannten folgten eine ganze Reihe weiterer Gesetze und Verordnungen, die das Beamtenwesen „arisierten“ (7. April 1933), die Neubildung von Parteien verboten (14. Juli 1933), den Einparteienstaat errichteten (1. Dezember 1933), den Ländern ihre Hoheitsrechte entzogen (30. Januar 1934), die Frage der Staatsangehörigkeit allein in die Hände des NSNationalsozialismus-Regimes gab (5. Februar 1934) und vieles andere mehr. Binnen eines Jahres war die freie demokratische Gesellschaft der Weimarer Republik vernichtet und an ihrer Stelle die nationalsozialistische Diktatur installiert worden, die die Welt sechs Jahre später in den bislang umfassendsten Krieg der Menschheitsgeschichte stürzte: Über 60 Staaten waren direkt oder indirekt an ihm beteiligt, 110 Millionen Menschen standen unter Waffen und etwa 80 Millionen verloren ihr Leben.

Diese Entwicklung war allerdings alles andere als überraschend: Die Nationalsozialisten hatten mitnichten einen Hehl daraus gemacht, wie sie die Macht im Staate zu nutzen gedachten, so man sie ihnen gäbe – das Parteiprogramm war hier sehr deutlich, und noch prägnanter gestaltete Hitler seine öffentlichen Auftritte. Sein Propagandapamphlet „Mein Kampf“, 1925 veröffentlicht, wurde breit diskutiert. Anfangs selbst in völkischen Kreisen umstritten, boomte dessen Verkauf vor allem ab 1930, und auch in Bibliotheken war der Band durchaus gefragt, zumal nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten: Hatte sich das Buch zuvor über 240 000 Mal verkauft, kamen allein im Jahr 1933 über 800 000 Exemplare hinzu; bis zum Ende des Regimes lag die Gesamtauflage schließlich bei fast 11 Millionen. 

Hitler fährt stehend und den Hitlergruß zeigend an angetretenen Soldaten und Zuschauern vorbei.

Unterstützung der Massen: Adolf Hitler fährt, anlässlich seines 50. Geburtstages, die Front der in Paradeuniform angetretenen Formationen ab, 20. April 1939.

Bundesarchiv, Bild 102-18218

Alle, die wissen wollten, konnten also wissen, was geschehen würde, haben sich jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen nicht damit auseinandergesetzt – die einen stimmten mit der Programmatik der Nationalsozialisten gänzlich oder in Teilen überein, die anderen meinten, so schlimm würde es schon nicht werden – und die allermeisten waren mit der Demokratie einfach nicht zurechtgekommen. Zudem verspürte die übergroße Mehrheit in den ersten Jahren tatsächlich keinen evidenten Drang, sich gegen das Regime zu stellen. Wenn man zur neu ausgerufenen „Volksgemeinschaft“ gehörte, profitierte man davon – nicht zuletzt von der Ausgrenzung der Nachbarn, weil sie jüdisch, Sinti oder Roma, sozialdemokratisch, kommunistisch, sexuell nicht heteronormativ aufgestellt, körperlich oder geistig gehandicapt oder aus anderen Gründen nicht erwünscht gewesen sind. Dass all diese Menschen verfolgt, in den Untergrund gezwungen oder in Konzentrationslager verschleppt, gefoltert oder gar ermordet wurden, übersah die Mehrheitsbevölkerung geflissentlich ebenso wie die Tatsache, dass der zeitgleiche wirtschaftliche Boom alleine den Kriegsvorbereitungen geschuldet war.

Ausgrenzung und Aufrüstung

Denn mit dieser Vorgabe waren Hitler und seine Helfershelfer ganz offen angetreten: Sie wollten die Streitkräfte ausbauen, um mit ihnen „Lebensraum im Osten“ zu erobern und diesen „rücksichtslos zu germanisieren“, wie es der gerade ernannte Reichskanzler der militärischen Führung im heutigen Bendlerblock am 3. Februar 1933 mitteilte. Auch dort regte sich keinerlei Opposition, im Gegenteil – die „Ausmerzung des Krebsschadens der Demokratie“, die „Wiederherstellung des Großmachtstatus“ und das Zerreißen der ominösen „Fesseln von Versailles“ waren dort wenigstens mehrheitsfähig. Außerdem lieferte der angehende Diktator in der Folgezeit in rasantem Tempo:

Ein jüdischer Anwalt wird von SA-Leuten mit einem Schmähschild über den bevölkerten Stachus in München getrieben.

Dem Terror ausgeliefert: Der jüdische Rechtsanwalt Dr. Michael Siegel wird von SASturmabteilung-Schergen über den Stachus in München getrieben, 10. März 1933.

Bundesarchiv/Heinrich Sanden

Der allgemeinen industriellen Aufrüstung folgte ab 1935 der umfangreiche Ausbau der Armee, inklusive der Aufstellung einer Luftwaffe und der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Dadurch wurde nicht nur das Renommee und soziale Prestige der Soldaten immens erhöht, auch die Beförderungen in der rapide wachsenden Truppe ließen nicht lange auf sich warten. Die am 16. März 1935 in „Wehrmacht“ umbenannte Reichswehr stieg in ihrem Personalumfang von den 115 000 Mann 1933 auf 1,1 Millionen 1939, die durch die Mobilmachung zu Kriegsbeginn sogar noch auf 4,5 Millionen aufwuchsen. Die deutsche Rüstungsindustrie konnte mit diesem Tempo nur unter Verzicht auf Qualität und nachhaltiger Produktion Schritt halten. Breiten- statt Tiefenrüstung führte zwar zur Ausrüstung der rasch aufgestellten Truppen, doch zeigten sich im Krieg schnell die Versäumnisse und Nachteile. Da dieser ohnehin darauf ausgerichtet war, die von der Wehrmacht zu erobernden Länder rücksichtslos auszuplündern, wollte das Regime damit die eigene Ressourcenarmut und die immensen zwischenzeitlich aufgetürmten Staatsschulden ausgleichen. Der Raub- und Vernichtungskrieg insbesondere im Osten Europas war von Anfang an Teil der Planungen.

Denn die Einsicht, dass ein langer Krieg für das Deutsche Reich nicht durchzuhalten wäre, hatte bereits während der Reichswehrzeit dazu geführt, sich alternative Gedanken über die künftige Kriegführung zu machen. Im sogenannten Blitzkrieg wollte man die Lösung gefunden haben: schnelle und drastische militärische Schläge zur raschen Vernichtung des Gegners. Funktionierte dies, wie im Fall des Überfalls auf Polen 1939, der Besetzungen Dänemarks und Norwegens sowie der Niederringung Frankreichs, Jugoslawiens und Griechenlands 1940, erwies sich der „Blitzkrieg“ – wenigstens unmittelbar und kurzfristig – als zielführendes Konzept.

Deutsch Soldaten auf deutschen Panzer I und Panzer II neben mittlerem Schützenpanzer im polnischen Gelände

"Blitzkrieg": Diese neue Strategie brachte dem nationalsozialistischen Deutschland schnelle Siege zu Beginn des Krieges, etwa in Polen, Frankreich oder Dänemark, Aufnahme aus dem "Polenfeldzug", September 1939.

Bundesarchiv, Bild 146-1976-071-36

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 zeigte sich die Kehrseite dieses Vorgehens. Den anfänglichen Siegen folgten nur mehr sporadische Offensiven und schließlich ab der Katastrophe von Stalingrad 1943 der nicht mehr aufzuhaltende Rückzug. Nachdem im Sommer 1944 die deutsche Heeresgruppe Mitte an der Ostfront unter den Schlägen der Roten Armee zusammengebrochen und die westlichen Verbündeten dazu noch in Frankreich gelandet waren, drängten die gegnerischen Truppen die deutschen an allen Fronten immer schneller zurück.

Deutsche Kriegsgefangene beim Marsch durch eine deutsche Ortschaft mit zerstörten Fachwerkhäusern in Richtung einer Brücke

Am Ende: Deutsche Kriegsgefangene der 1. USUnited States-Armee beim Marsch durch eine zerstörte Ortschaft in der Nähe des Rheins, März 1945.

Bundesarchiv, Bild 146-1971-052-27

Die endgültige Niederlage ist dabei lediglich eine Frage der Zeit gewesen, doch das unbeirrte Weiterkämpfen der Deutschen zog den Krieg noch bis in den Mai 1945. Gründe für dieses Weitermachen sind seither immer wieder gesucht worden: Für die Mehrheit schien es alternativlos, weiter ihre so empfundene Pflicht zu erfüllen, nicht wenige fürchteten im Wissen um die von Deutschen oder in deutschem Namen begangenen Verbrechen das Ende des Krieges und erstaunlich viele hielten Hitler bis zum bitteren Ende die Treue. Sicherlich spielte dabei eine wesentliche Rolle, dass das NSNationalsozialismus-Regime in der zweiten Kriegshälfte zunehmend brutaler mit den eigenen Soldaten und der Bevölkerung insgesamt umging. Der Terror, der von Anfang an Teil des NSNationalsozialismus-Systems gewesen war, eskalierte zusehends gegen all jene, die auch nur den Anschein erweckten, nicht mehr mit aller Rücksichtslosigkeit mitmachen zu wollen, gleichgültig ob an oder hinter der Front oder in der Heimat. Abertausende bezahlten dafür mit ihrem Leben oder ihrer Gesundheit, Millionen allerdings waren es, die das Regime noch aufrechterhielten. Es brauchte die Soldaten der Anti-Hitler-Koalition, die mit ihrem Leben dem Krieg und dem Nationalsozialismus ein Ende machten, die Konzentrations- und Gefangenenlager befreiten, letztlich dem Töten und Morden ein Ende bereiteten. Von innen heraus waren die Deutschen dazu nicht in der Lage – und die weitaus meisten auch gar nicht willens.

Wachsende Opposition und evidenter Widerstand während des Krieges

Opposition und Widerstand hat der Nationalsozialismus in Deutschland über sein 12-jähriges Regime hinweg nämlich nur sehr wenig erfahren. Freilich ging er von Beginn an sehr rabiat mit allen um, die man als Gegner ausmachte, und saß vergleichsweise schnell und fest im Sattel. Doch auch die Zahl derer, die sich widersetzen wollten, war viel zu gering. Gleichwohl sind es durchaus Prominente gewesen, deren Opposition ein Zeichen hätte sein können. So warf General der Infanterie Kurt von Hammerstein-Equord als Chef der Heeresleitung bereits im Oktober 1933 das Handtuch – mindestens auch aus politischen Gründen. Generaloberst Ludwig Beck versuchte 1938 als Generalstabschef des Heeres angesichts der Hitlerschen Kriegsplanungen gegenüber der Tschechoslowakei den Rücktritt der gesamten Generalität zu orchestrieren. Am Ende war es er allein, der zurücktrat, es folgte ihm niemand.

Wirklich etwas unternommen gegen das NSNationalsozialismus-Regime hat also kaum jemand. Zwar suchten der sozialdemokratische und kommunistische Untergrund und andere wenige Oppositionelle nach einer breiteren Gefolgschaft, fanden aber keine. Einzelaktionen wie das gescheiterte Sprengstoffattentat von Georg Elser auf Hitler im Münchner „Bürgerbräukeller“ 1939 blieben Solitäre. Die absolute Mehrheit der deutschen Gesellschaft stand entweder hinter dem „Führer“ oder zumindest nicht gegen ihn. Seltene Ausnahmen bildeten Einzelpersonen, die beispielsweise Verfolgten halfen; in politischer Hinsicht waren sie ohne Belang.

Eine Masse von Menschen zeigt den Hitlergruß, ein Einzelner in der Mitte verschränkt verweigernd die Arme vor der Brust.

Allein unter vielen: Angestellte der Blohm+Voß-Werft sind zum Stapellauf des Schulschiffes "Horst Wessel" versammelt und grüßen mit dem "Hitlergruß". Ein einzelner Arbeiter in der rechten Bildhälfte verweigert ihn und verschränkt die Arme.

Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl

Zwar existierten durchaus kleinere Gruppen von widerständigen Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Motiven heraus dem Regime versagten, etwa aus politischen, religiösen oder ethischen Überzeugungen heraus, fanden allerdings keine Massenbasis. Manche von ihnen arbeiteten im Untergrund für die Kriegsgegner, auch in den Streitkräften. Widerstandsgruppen, wie die von der Gestapo unter dem Namen „Rote Kapelle“ zusammengefassten, gehörten auch Soldaten an, bildeten jedoch die absolute Ausnahme. Problematisch war für sie nicht zuletzt, dass sie aus dem Ausland kaum Unterstützung und keine Anerkennung erhielten. Damit besaßen sie letzten Endes nicht die Machtmittel, das Regime wirksam anzugreifen oder anderweitig eine wesentliche Änderung des Systems herbeizuführen.

Widerstand aus der Wehrmacht heraus

Daher waren es nicht ohne Grund vor allem Soldaten, die versuchten, mit einem Attentat auf Hitler und einem Staatsstreich das NSNationalsozialismus-Regime zu beseitigen. Heute wissen wir von etwa 42 Anschlägen auf den „Führer“, nicht ausschließlich von Militärs freilich, mit dem Ziel, durch die Ausschaltung des Diktators dessen System zu destabilisieren, im besten Fall zum Einsturz zu bringen. Vor allem für einen Systemwechsel brauchte es nicht allein die Beseitigung Hitlers, sondern die Zusammenarbeit mit anderen Widerständischen zur Ausfüllung des dadurch entstehenden Machtvakuums. Deswegen fanden sich in der Gruppe, die sich schließlich zur Tat am 20. Juli 1944 durchrang, Menschen aus einem breiten Spektrum von links bis rechts aus der Politik, den Gewerkschaften, Kirchen und nicht zuletzt dem Militär. Soldaten kamen nicht nur nahe genug an Hitler heran, sondern verfügten eben auch über eine Organisation, die es erlaubte, die dann eroberte Macht im Staat zu garantieren.

Am Ende scheiterte das Attentat, und auch der Staatsstreich misslang. Der Krieg wurde fortgesetzt und kostete in seinem folgenden letzten Jahr allein auf deutscher Seite noch einmal fast so vielen Soldaten das Leben wie in all den Kriegsjahren zuvor zusammengerechnet – zuzüglich der Toten der Anti-Hitler-Koalition und der Opfer der Luftangriffe sowie der durch die eskalierende deutsche Terrormaschinerie Ermordeten. Zu Letzteren gehörten auch etwa 200 derer, die den Versuch gewagt hatten, und die Überlebenden galten nicht Wenigen als Verräter – bis weit über das Ende des „Dritten Reiches“ hinaus. Dass es bei einem Scheitern so kommen würde, war den widerständischen Männern und Frauen des 20. Juli 1944 klar, vor allem Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg selbst: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter an seinem Gewissen.“ Ihm hatte Generalmajor Henning von Tresckow, neben Stauffenberg die zentrale Persönlichkeit des militärischen Widerstandes, noch kurz vor der Tat im Juli 1944 geschrieben: „Das Attentat muss erfolgen, coûte que coûte [koste es, was es wolle; J.Z.]. Sollte es nicht gelingen, so muss trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ 

Beide hatten seinerzeit einen langen Weg hinter sich von der glühenden Verehrung für Hitler und den Nationalsozialismus seit Ende der 1920er Jahre bis hin zu jenem Tag. Nicht wenige der Männer und Frauen des 20. Juli 1944 dienten dem Regime bis dahin treu, einige waren sogar an Verbrechen beteiligt oder doch wenigstens in sie verstrickt, etliche fanden den Weg auch erst, nachdem sie die Verbrechens- und Vernichtungspraxis miterlebt hatten. Entsprechend vielschichtig und verschieden war die Motivlage derer, die sich am Widerstand beteiligten. Die wenigsten empfanden die Notwendigkeit dazu von Anfang an, später fehlten dann oft Mut und Rückhalt.

Martin Bormann, Hermann Göring und Bruno Loerzer besichtigen die zerstörte Baracke im Führerhauptquartier "Wolfsschanze"

Ort des Attentats: Martin Bormann, Hermann Göring und Bruno Loerzer besichtigen die Überreste der zerstörten "Lagebesprechungsbaracke" nach dem Attentat am 20. Juli 1944.

Bundesarchiv, Bild 146-1972-025-10

Hans Mommsen, einer der wichtigsten bundesdeutschen Historiker, meinte auf dem Historikertag 1998 pointiert, das seinerzeitige Problem seien nicht die 100-prozentigen Nazis gewesen, sondern die nach Millionen zählenden 25- bis 50-prozentigen. Es waren die „ganz normalen Deutschen“, die das Regime stützten, seine Maßnahmen exekutierten und nicht zuletzt von seinen Verheißungen profitierten. Sich dagegen zu wenden, fiel entsprechend schwer und führte zu Ausgrenzung und Verfolgung. Die Bevölkerungsmehrheit hatte in der Demokratie geschlafen und war in der Diktatur aufgewacht. Millionenfaches Leid und Tod waren die Folgen, die moralische Bankrotterklärung ganzer Generationen. Schließlich mussten sich die Widerständischen zum Tyrannenmord und zum Putsch durchringen, zu brutaler Gewalt also, um gegen das verbrecherische Regime vorzugehen.

Der Widerstand des einfachen Soldaten, des „kleinen Mannes“, bestand indes vor allem darin, sich dem Morden und Schlachten zu entziehen, sei es durch Desertion, Überlaufen oder zehntausendfach dokumentierte Selbstverstümmelung. Auch hier waren die Motive verschieden und nicht immer politisch motiviert. Dennoch wurden sie zeitgenössisch wie in der Folge unisono als Verräter und/oder Feiglinge diskriminiert, die einschlägigen Urteile der NSNationalsozialismus-Unrechtsjustiz blieben bis in unser Jahrtausend in Kraft. Es brauchte eine langwierige Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die bis heute nicht gänzlich aufgearbeitet und bei gar nicht Wenigen offenbar schon wieder in Vergessenheit geraten ist, wenn man sich den Auftrieb der Rechtspopulisten und -extremisten vor Augen führt. Anders als die seinerzeitigen Generationen aber haben wir heute die historische Erfahrung und wissen, was geschieht, wenn man Freiheit und Recht in der Demokratie nicht verteidigt.

Lehren

Dabei hatte die bundesrepublikanische Gesellschaft aus all dem insoweit gelernt, als in unserer Verfassung inzwischen die wehrhafte Demokratie verankert ist – mitsamt dem individuellen Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht mehr möglich ist (Art. 20 (4) GG). Dadurch soll verhindert werden, dass sich Vereinigungen oder Parteien, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnen und bekämpfen, unter pervertierter Ausnutzung der demokratischen Spielregeln unseren Staat erobern. Freilich braucht es auch dazu Menschen, die unsere freie Gesellschaft verteidigen wollen, die Republik schützen und ihre Nachbarn respektieren, unabhängig von deren Geschlecht, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit – eben ganz so, wie es unsere gemeinsame Werteordnung vorsieht.

Bundesminister der Verteidigung legt einen Kranz im Rahmen einer Gedenkveranstaltung im Ehrenhof des Bendlerbolcks nieder.

Wichtiges Erinnern: Bundesminister der Verteidigung Boris Pistorius legt im Rahmen einer Feierstunde im Ehrenhof des Bendlerblocks einen Kranz zum Gedenken an den Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nieder, 20. Juli 2023.

Bundeswehr/Jörg Carstensen

Um dies im tagtäglichen Dienstbetrieb zu erleben, hat sich die Bundeswehr dem Konzept der Inneren Führung verschrieben mit seinem Kern des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin in Uniform. Gerade deswegen – auch dies eine Lehre aus den Erfahrungen mit dem „Dritten Reich“ – sind Soldatinnen und Soldaten am Ende nur einem verpflichtet: ihrem Gewissen. Dafür braucht es einen klaren Wertekompass, der unverrückbar auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung basiert. Dazu gehört nicht zuletzt das Wissen um die deutsche Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit ihr – denn anders als unsere (Ur)Großelterngeneration werden wir nicht behaupten können, wir hätten von nichts gewusst oder nicht ahnen können, wohin die Vernichtung von Demokratie und Menschenrechten führt.

von John Zimmermann

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