Dossier "20. Juli 1944"

Gespiegelte Deutungen. „20. Juli“, Bundesrepublik, DDRDeutsche Demokratische Republik und Kalter Krieg

Gespiegelte Deutungen. „20. Juli“, Bundesrepublik, DDRDeutsche Demokratische Republik und Kalter Krieg

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Die Verschwörung des „20. Juli“ ist ein Mythos. Aber sie war es nicht immer. Dahinter stehen viele Jahre der Öffentlichkeitsarbeit von verschiedenen Seiten. Am längsten dauerte dieser Prozess ausgerechnet in jenem politischen Lager, das sich den antifaschistischen Kampf auf die Fahne schreibt. Der holprige, oft widersprüchliche Weg der Verschwörer zu Idolen ist Gegenstand dieses Textes.

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Öffentliches Gedenken: In der Bundesrepublik erfuhren der Widerstand des "20. Juli" und der Attentatsversuch frühzeitig eine positive Würdigung, hier anlässlich des 10. Jahrestages an der Freien Universität Berlin.

picture alliance / dpa

Es ist der 20. Juli 1944. Stauffenbergs Attentat auf Hitler hatte Erfolg; der damit zusammenhängende Staatsstreich wird plangemäß ausgeführt. In weiterer Folge gelingt den Verschwörern nicht nur ein schneller Friedensschluss im Westen Europas, es kommt gar zu einem Bündnis des „selbstgereinigten“ deutschen Staates mit den USAUnited States of America. Gemeinsam stellen sie sich nun im Osten gegen die Sowjetunion.

Diese kontrafaktische Erzählweise wurde in Übereinstimmung mit den neuen Frontlinien des Kalten Krieges ab etwa 1946 in den USAUnited States of America erdacht. Genutzt wurde sie von Kritikern der amerikanischen Politik des „Unconditional Surrender“: Wenn die USAUnited States of America dem „Dritten Reich“ einige Zugeständnisse angeboten hätten, so das Narrativ, hätten sich die meisten Offiziere der Wehrmacht dem militärischen Widerstand rund um den „20. Juli“ angeschlossen und der „Triumph“ der Sowjetunion hätte vermieden werden können. Diese Erzählweise kann später auch in den neu gebildeten Streitkräften der Bundesrepublik wiedergefunden werden, wo sie der Westintegration der Bundeswehr diente. Wenngleich sie mit der Realität kaum etwas zu tun hat, lässt sich an ihr doch dreierlei aufzeigen. Erstens, wie losgelöst die Rezeption des „20. Juli“ doch von den eigentlichen Begebenheiten jenes Tages war. Zweitens, wie tief verankert seine Deutung im politischen Kontext des Kalten Krieges war. Drittens ist bemerkenswert, wie die ursprünglichen „Verräter“ bzw. „Eidbrecher“ – denn als solche wurden die Verschwörer von einem großen Teil der westdeutschen Bevölkerung und der ehemaligen Wehrmachtsoldaten bis in die 1950er Jahre hinein gesehen – in vergleichsweise kurzer Zeit zu traditionsbildenden Vorbildern für die Bundeswehr wurden.

Von Verrätern zu Freiheitskämpfern – Der „20. Juli“ als Mittel zur Westintegration der Bundeswehr

Wolf Graf von Baudissin sitzt bei einer Diskussionsveranstaltung gestikulierend an einem Tisch.

Verteidiger des Widerstandes: Oberst Wolf Graf Baudissin, der das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" schuf, setzte sich bereits frühzeitig für eine moralische Würdigung der Verschwörer des "20. Juli" ein.

Alfred Strobel/Süddeutsche Zeitung Photo

Die Aufnahme der Verschwörer in die Traditionslinien der Bundeswehr war, wenngleich rasch, keinesfalls geradlinig. Noch 1951 beurteilten noch etwa 60 Prozent der ehemaligen Berufssoldaten der Wehrmacht den Attentatsversuch negativ. In den Folgejahren wurde das gesellschaftliche Bild der Verschwörer schrittweise aufgewertet. Tragend waren in diesem Prozess verschiedene öffentlichkeitswirksame Ereignisse. Beispielhaft ist der Gerichtsprozess um Generalmajor Otto Ernst Remer, der im Herbst 1952 für seine öffentliche Verleumdung der Verschwörer als „Landesverräter“ zu drei Monaten Haft verurteilt wurde. Im zeitlichen Umfeld dieses Verfahrens stieg die öffentliche Zustimmung zum Attentat von 38 auf beachtliche 58 Prozent. Auch die überaus positive Darstellung des Attentats in einer Rede des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zwei Jahre später war von tragender Bedeutung. Für die USAUnited States of America, die als Siegermacht maßgeblichen Einfluss auf die Politik der jungen Bundesrepublik hatten, zeugt das eingangs genannte Narrativ von einer ebenfalls zunehmend positiven Deutung der Verschwörer.

In diesem Rahmen wurde über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik diskutiert. Während Bundeskanzler Konrad Adenauer forderte, dass die neu zu gründende Bundeswehr sich nicht an den Formen der alten Wehrmacht zu orientieren habe, erschwerte das Beharren auf der Eingliederung früherer Wehrmachtsoldaten in die Bundeswehr eine klare Ablehnung der Wehrmacht; immerhin wollte man die potenziellen Rekruten angesichts der Blockkonfrontation zwischen Ost und West nicht in die Opposition drängen. Hierdurch wurde das Narrativ über den „20. Juli“ im Dienste der Kontinuität von Anfang an zu einem Spagat zwischen zwei widersprüchlichen Wertungen: Auf der einen Seite stand die Würdigung der Verschwörer des „20. Juli“ für ihren Aufstand gegen das NSNationalsozialismus-Regime, auf der anderen Seite die Würdigung der Erfolge der Wehrmacht, die ja eben in Treue zum NSNationalsozialismus-Regime weitergekämpft hatte.

Zwar setzte sich Wolf Graf von Baudissin, der 1941 bereits in britische Kriegsgefangenschaft geratene geistige Schöpfer des Konzeptes der Inneren Führung (flankiert durch einige andere beim Aufbau der Bundeswehr beteiligte Personen) für eine stärkere moralische Würdigung der Verschwörer in Abgrenzung zur Wehrmacht und zum NSNationalsozialismus-Regime ein; durchsetzen konnten sich jedoch der am Aufbau der Streitkräfte maßgeblich beteiligte General Hans Speidel und die ihn umgebende Offiziergruppe mit ihrer Deutung des „20. Juli“. In ihrer Brücken schlagenden Interpretation handelten alle korrekt: Die Verschwörer wagten in Treue zum „deutschen Volk“ den Tyrannenmord, die „Eidtreuen“ hingegen verteidigten ihre Heimat und Angehörigen. Der Kunstgriff in diesem Narrativ ist die Instrumentalisierung des in Deutschland und auch unter den westlichen Siegermächten nicht unbeliebten Generalfeldmarschalls Erwin Rommel. Er sei an der Verschwörung beteiligt gewesen – eine historisch umstrittene Deutung –, hätte, wäre er nicht kurz vor dem Staatsstreich verletzt worden und wäre dieser erfolgreich verlaufen, einen schnellen Frieden mit den Westalliierten erzwungen und sich sodann allein oder mit ihnen gemeinsam dem Kampf gegen den Kommunismus an der Ostfront zugewandt – eine historisch nicht belegte Behauptung. Dieses Narrativ, das mit der eingangs beschriebenen ab 1946 in den USAUnited States of America entstandenen Erzählweise beinahe identisch ist, nimmt somit nicht nur die Schuld von den Hitler weiterhin treu ergebenen Soldaten, von denen viele an der Ostfront gekämpft hatten; es würdigt auch ihre plangemäße Fortsetzung des Krieges und stellt gleichzeitig eine Kontinuität zu den Bundeswehrsoldaten her, die sich in der nun entstandenen Blockkonfrontation ebenso gegen den Osten zu wenden hatten. Zudem legitimiert es Deutschlands Position innerhalb der Westmächte.

Portraitfoto des ersten Generalinspekteurs der Bundeswehr Adolf Heusinger

"Tat gegen das Unrecht": Der erste Generalinspekteur Adolf Heusinger würdigte 1959 zum 15. Jahrestages des "20. Juli" öffentlich den Umsturzversuch.

akg-images/AP

Mit dieser Kompromissformel war den Soldaten der neu gegründeten Bundeswehr eine Möglichkeit gegeben, sich zumindest in ihrem öffentlichen Auftreten an die veränderten politischen Umstände anzupassen. Ein nicht unbeachtlicher Teil der Bundeswehr-Angehörigen, auch der Generale, stand den Attentätern bis in die 1960er Jahre hinein wohl immer noch ablehnend gegenüber. Das Feld der öffentlichen Stellungnahmen wurde hingegen ab 1960 beinahe ausschließlich von positiven Einschätzungen bis hin zu heroisierenden Lobpreisungen der Verschwörer dominiert. Richtungsweisend hierfür war der Aufruf vom 20. Juli 1959 von Adolf Heusinger, dem ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, in dem dieser das Attentat als „Tat gegen das Unrecht und gegen die Unfreiheit“ pries. General Hans Speidel hatte drei Jahre zuvor übrigens noch für einen Führungslehrgang jegliche Behandlung des Themas „20. Juli“ verboten.

Reaktionärer Bourgeois oder Verbündeter der KPD? Stauffenberg als Objekt im fluktuierenden Geschichtsbild der NVANationale Volksarmee

Blickt man nun auf die Rezeption des „20. Juli“ in der DDRDeutsche Demokratische Republik (bzw. zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone), findet man dort eine nahezu gespiegelte Entwicklung vor. Auch hier war die Rezeption des Stauffenberg-Attentats in den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges verankert. Doch während auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs eine Mythologisierung der Verschwörung zur Gründungslegende der Bundesrepublik vollzogen wurde, kam es in Ostdeutschland lange Zeit zu einer scharfen Verurteilung der Attentäter.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland grenzte sich die DDRDeutsche Demokratische Republik von Anfang an von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ab: Sie sah sich nicht als Nachfolgestaat des „Dritten Reiches“, sondern in der Tradition eines jahrhundertelangen Kampfes der unteren Schichten gegen jedwede Unterdrückung. In diesem Sinne bildete der „antifaschistische Kampf“ zwar einen wichtigen Teil des Traditionsverständnisses der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands, doch fand der „nationalkonservative Widerstand“ um Stauffenberg darin keinen Platz.

Während sich bis 1950 also noch – ähnlich wie in der Bundesrepublik – vereinzelte positive Stimmen zum Attentatsversuch des „20. Juli“ zu Wort meldeten, konnte sich in der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands ab den 1950er Jahren eine negative Deutungsweise durchsetzen: Die Attentäter seien reaktionäre Angehörige der Bourgeoisie gewesen, die im Angesicht eines verlorenen Krieges bloß ihren eigenen Status bewahren wollten. Ihnen wurde sogar der Plan unterstellt, eine faschistische Militärdiktatur zu etablieren, während Historiker der 1960er Jahre die Verschwörer des Imperialismus beschuldigten: Sie hätten die Absicht gehabt, sich mit den Westalliierten gegen die Sowjetunion zu verbünden. Diese These war in der DDRDeutsche Demokratische Republik genauso wenig belegt wie in der Bundesrepublik.

Der Gewerkschaftler Wilhelm Leuschner steht als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof in Berlin

Späte Anerkennung: In der DDRDeutsche Demokratische Republik gab es über lange Zeit keinerlei Benennungen nach Widerstandskämpfern des "20. Juli". Erst 1988 wurde der Gewerkschafter Wilhelm Leuschner als geeigneter Kandidat identifiziert.

akg-images

Dass die Verschwörer in Veröffentlichungen des Militärgeschichtlichen Instituts der DDRDeutsche Demokratische Republik, das der NVANationale Volksarmee angegliedert war, trotz dieser klaren Parteilinie bis 1962 immer wieder Würdigung als Teil des „antifaschistischen Widerstands“ fanden, ist eine bemerkenswerte Ausnahme. Insgesamt orientierte sich die NVANationale Volksarmee sehr eng an den Vorgaben der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands, welche die Entwicklung ihrer Parteiarmee in einem Maße lenkte, wie sie es bei keiner anderen Institution tat. So waren bis 1989 mehr als die Hälfte der historischen Persönlichkeiten, nach denen Truppenteile, Schiffe und Gebäude der NVANationale Volksarmee benannt waren, antifaschistische Widerstandskämpfer; doch waren davon nur sehr wenige keine Kommunisten. Aus der Gruppe der Widerstandskämpfer um den „20. Juli“ wurde erst im März 1988 der Name des Sozialdemokraten und Gewerkschaftlers Wilhelm Leuschner gewählt.

Als ab den 1970ern jedoch die Parteilinie der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands langsam aufweichte, kam es dennoch zu einer Integration verschiedener zuvor noch wenig geliebter Persönlichkeiten in das Geschichtsbild der DDRDeutsche Demokratische Republik: Martin Luther, Friedrich der Große oder eben auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg. So heißt es im Buch „Militärische Traditionen der DDRDeutsche Demokratische Republik und der NVANationale Volksarmee“ von 1979: „Im Unterschied zu den anderen Teilnehmern der Verschwörung gegen Hitler suchten sie [Stauffenberg und seine engsten Kampfgefährten] das Bündnis mit der Arbeiterklasse, der KPD und dem NKFD. Sie wollten nach dem Sturz des faschistischen Regimes den Krieg an allen Fronten beenden, achteten die Souveränität und Unabhängigkeit aller Völker und waren für freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion.“ Daher sei das von Stauffenberg selbst ausgeführte Attentat des 20. Juli traditionswürdig für die NVANationale Volksarmee. In anderen Werken schreiben die Autoren sogar von einem von Stauffenberg geplanten Separatfrieden mit der Sowjetunion oder einem beabsichtigten Pakt mit Stalin – auch in der DDRDeutsche Demokratische Republik war die Würdigung der Verschwörer also an ein legitimierendes Narrativ gebunden, das den so geschaffenen Mythos Stauffenberg nahtlos in den eigenen Block des Kalten Krieg einband.

Fotografie des Stauffenberg-Ordens der DDR mit einem Portrait von Stauffenberg in der Mitte

Kehrtwende: Nachdem die Widerstandskämpfer des "20. Juli" über Jahrzehnte in der DDRDeutsche Demokratische Republik diffamiert worden waren, begann man ab Ende der 1980er Jahre auch dort mit deren Würdigung, die aber von der deutschen Wiedervereinigung überholt wurde.

https://de.wikipedia.org/wiki/Stauffenberg-Orden#/media/Datei:Stauffenberg_Orden_DDR.png

Diese vorsichtige Würdigung einiger Verschwörer mündete mit der beginnenden Demokratisierung der DDRDeutsche Demokratische Republik Ende des Jahres 1989 schließlich in einer plötzlich überschwänglichen Aufnahme der Verschwörer um Stauffenberg in die Traditionslinien der NVANationale Volksarmee: Im Zuge der rasch eingeleiteten Reformen wurde nun eine Kaserne nach Stauffenberg benannt, eine weitere nach Henning von Tresckow und auch eine Division sollte den Namen Stauffenbergs erhalten – die Benennung der Division kam allerdings durch die Wiedervereinigung Deutschlands nicht mehr zustande. Auch der bereits vom Ministerium für Abrüstung und Verteidigung entworfene Stauffenberg-Orden – er trägt auf der Rückseite die Inschrift „Für militärische Verdienste“, die Vorderseite zeigt ein markantes Profilbild des Attentäters mit der Umschrift „Claus v. Stauffenberg“ – wurde nicht mehr verliehen. Jedoch kam es nur zehn Wochen vor der Wiedervereinigung noch zu einer Neuvereidigung der Soldaten der NVANationale Volksarmee, die symbolisch auf den 20. Juli gelegt wurde. Laut dem Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDRDeutsche Demokratische Republik, Rainer Eppelmann, bekannte sich die NVANationale Volksarmee durch die Wahl jenes Tages zum demokratischen Wandel innerhalb der DDRDeutsche Demokratische Republik; in Westdeutschland hingegen kritisierte man die Neuvereidigung als Versuch des „Reinwaschens“ von der eigenen autoritären totalitären Vergangenheit.

Der lange Weg zur differenzierten Anerkennung – NSNationalsozialismus-Widerstand im Geschichtsbild der Bundeswehr bis heute

In der Bundesrepublik hatten sich seit den späten 1960er Jahren stärker werdende kritische Stimmen im Bezug auf die dominante Darstellungsweise des militärischen Widerstands als Sternstunde der Wehrmachtoffiziere zu Wort gemeldet. Sie stellten einerseits die Motive der Verschwörer infrage, denen bis dahin meist ein beispielhaftes moralisches Gewissen zugeschrieben worden war, und forderten andererseits eine zusätzliche Würdigung des Widerstands anderer Teile der Bevölkerung gegen Hitler: des Arbeiterwiderstands, kommunistischer Widerstandsgruppen und verschiedener Einzelpersonen. Diese vor allem politisch von links kommende Kritik wurde in den 1970er und 1980er Jahren weiter verstärkt. Dies löste scharfe Gegenreaktionen aus: Konservative Kreise sowie Angehörige und Nachkommen der Verschwörer wollten ihre Leitbilder nicht durch den Schmutz gezogen sehen.

Foto von Manfred Messerschmidt beim Besuch einer Vortragsveranstaltung

"Stählerner Garant des Systems": Mit dieser Kennzeichnung der Wehrmacht und seinen Forschungen trug Manfred Messerschmidt (li.) als Leitender Historiker des MGFAMilitärgeschichtliches Forschungsamt maßgeblich dazu bei, die Wehrmacht in das System des NSNationalsozialismus-Unrechtsregimes einzuordnen.

Bundeswehr/MGFA 1977

Inmitten dieser Streitigkeiten setzte die Bundeswehr die dort etablierte Würdigung der Verschwörer steten Schrittes fort, entwickelte sich jedoch auch gemäß der sich verändernden Rahmenbedingungen weiter: Mit dem Ausscheiden der früheren Wehrmachtsoldaten aus der Bundeswehr und der immer stärker werdenden Kritik am Mythos der „unschuldigen Wehrmacht“ wurde die Rechtfertigung ihrer Handlungen zunehmend unzeitgemäß. Mit dem „Traditionserlass“ von 1982 erklärte die Bundeswehr das „Dritte Reich“ als nicht traditionsfähig; wenn auch die deutschen Streitkräfte als „teils schuldhaft verstrickt, teils […] schuldlos missbraucht“ bezeichnet wurden und somit nicht generell traditionsunwürdig wurden, so wurde ihre Traditionsfähigkeit zumindest an die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz gebunden. Zudem kam es auch zur langsamen Eingliederung anderer Widerstandsgruppen in das Widerstandsgedenken um den „20. Juli“, wenn beispielsweise die Wanderausstellung der Bundeswehr von 1984 auch das kommunistische Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und den Bund Deutscher Offiziere würdigte. Im Gedenken an den militärischen Widerstand wurde jedoch stets hervorgehoben, dass die Ereignisse des 20. Juli eine Ausnahme gewesen seien und dass die Bundeswehr den Widerstand nicht zum Prinzip erheben dürfe – gerade als linksgerichtete Protestbewegungen das Widerstandsrecht für sich zu beanspruchen suchten.

Diese Entwicklungen setzten sich auch in der Zeit nach der Wiedervereinigung fort, wurden in mancher Hinsicht sogar verstärkt. In der Neufassung der Ausstellung von 1984 anlässlich des 50. Jahrestages des Attentats im Jahr 1994 wurde das Feld der erinnerten Widerständler ein weiteres Mal erweitert. Ein Jahr später, im Eröffnungsjahr der kontroversen Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die vielen in ihrer Kritik der Wehrmacht zu weit ging, feierte die Bundeswehr ihren 40. Geburtstag. In diesem Rahmen erklärte der damalige Bundesverteidigungsminister Volker Rühe bei einer Rede in München, dass die Wehrmacht als Institution keine Tradition bilden könne; gleichzeitig wies er neben den Verschwörern des „20. Juli“ jedoch auch auf die „viele[n] Soldaten im Einsatz an der Front“ hin, „die tapfer, aufopferungsvoll und persönlich ehrenhaft gehandelt haben“. Eine vollständige Abgrenzung von der ursprünglich etablierten Kompromissformel im Gedenken an die Verschwörer des „20. Juli“, die sowohl „Eidtreuen“ als auch „Eidbrüchigen“ moralisches Handeln zusagt, wurde erst 1997 erreicht, als Rühe vor dem Hohen Haus erklärte, dass die Bundeswehr nicht in der Tradition der Wehrmacht stünde. Verankert wurde diese Abgrenzung schließlich im neuen „Traditionserlass“ von 2018: „Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.“ Einzelne Angehörige der Wehrmacht dürfen nach Einzelfallprüfung jedoch gewürdigt werden, heißt es darin mit spezifischem Verweis auf die Verschwörer des „20. Juli“. Gegen Ende des Dokuments folgt dann die Erklärung, dass der „20. Juli“ und der damit zusammenhängende „militärische Widerstand gegen das NSNationalsozialismus-Regime“ eine „herausgehobene Bedeutung für die Tradition der Bundeswehr“ innehabe.

Literaturhinweise

Heinemann, Winfried, Vom Verräter zum Freiheitskämpfer. Die Rezeption des Hitler-Attentäters nach dem 20. Juli 1944 in Wehrmacht und Bundeswehr. In: Es lebe das „Geheime Deutschland“! Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Person – Motivation – Rezeption. Hrsg. von Jakobus Kaffanke,  Thomas Krause und  Edwin Ernst Weber , Berlin 2011, S. 149–159.
Searle, Alaric, Die unheilbare Wunde. Der 20. Juli 1944 im kollektiven Gedächtnis der Wehrmachtsgeneralität. In: Verräter? Vorbilder? Verbrecher? Kontroverse Deutungen des 20. Juli 1944 seit 1945. Hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Berlin 2016, S. 97–128.
Wenzke, Rüdiger, Von der Ausgrenzung zur Vereinnahmung. Der 20. Juli 1944 in Forschung, Darstellung und Traditionspflege der Nationalen Volksarmee. In: 20. Juli 1944. Neue Forschungen zum Widerstand gegen Hitler. Hrsg. von Jörg Hillmann und Peter Lieb, Potsdam 2019, S. 49–54.

von Moritz Oberhollenzer

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