Dossier "20. Juli 1944"

Post-Nationalsozialismus. Über die politischen Vorstellungen des „20. Juli“

Post-Nationalsozialismus. Über die politischen Vorstellungen des „20. Juli“

Datum:
Lesedauer:
6 MIN

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Was kommt nach dem Tyrannenmord? Natürlich hatten auch die Kreise um die Verschwörenden Pläne für die unmittelbare Zeit nach einem gelungenen Staatsstreich. Auch wenn die politischen Vorstellungen des Widerstands im Umfeld des „20. Juli“ nicht als Vorläufer der parlamentarischen Demokratie betrachtet werden können, so liefern sie mit der Betonung von Rechtsstaatlichkeit und Humanität zumindest Anknüpfungspunkte, die einen fundamentalen Bruch mit dem NSNationalsozialismus-Staat und seinen Menschheitsverbrechen markieren.

Das Bild zeigt ein Dokument. Es ist eine Abschrift aus den Ermittlungsakten der Gestapo

Majestät des Rechts: Erste Seite einer Regierungserklärung von Ludwig Beck und Friedrich Goerdeler. Die Wiederherstellung des Rechtsstaates war ein wesentliches Anliegen für die Zeit nach einem geglückten Umsturz.

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Der 20. Juli 1944 steht für mehr als nur für ein fehlgeschlagenes Attentat. Oft gehen aber der ebenfalls bedeutsame Staatsstreich und die Planungen für eine neue politisch-soziale Ordnung durch die Fokussierung auf den spektakulären Bombenanschlag im Führerhauptquartier unter. Doch ohne Umsturz und neue Ordnung verpufft der Tyrannenmord und wird zur rein symbolischen Geste. Zwar betrachteten die Verschwörenden selbst angesichts der wenig Erfolg versprechenden Ausgangslage im Sommer 1944 die Tat als bloßes Sichtbarmachen eines „anderen Deutschlands“. Und auch dem NSNationalsozialismus-Staat war wenig daran gelegen, diese als einen Staatsstreich seitens des Militärs herauszustellen. Trotzdem sind der missglückte Umsturz und die Pläne sowohl der militärischen Akteure als auch ihrer zivilen Mitstreiter für eine politische und soziale Neuordnung Deutschlands nach dem Nationalsozialismus maßgeblich für die historische Bewertung des militärisch-konservativen Widerstands.

Wie die Mitglieder der Gruppe selbst waren auch die jeweiligen politischen Vorstellungen äußerst verschieden. Was alle Verschwörenden teilten, waren die fundamentale Ablehnung der als verbrecherisch wahrgenommenen NSNationalsozialismus-Herrschaft und der Wille zum Handeln.

Das Bild zeigt einen Orden: Eichenlaub mit Schwerten zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes

Einheit: Eisernes Kreuz und Hakenkreuz, Wehmacht und Nationalsozialismus. Hier bei einer der höchsten Auszeichnungen des Dritten Reiches - Eichenlaub mit Schwertern zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.

Fotoarchiv für Zeitgeschichte/Ar/Süddeutsche Zeitung Photo

Im Gegensatz zu den politischen Gegnern der NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei aus der Weimarer Zeit führte den militärischen Widerstand und auch die nationalkonservativen Kräfte oft ein langer Weg in die Opposition gegen den NSNationalsozialismus-Staat. Viele der späteren Verschwörenden hatten die Machtübernahme des Nationalsozialismus zunächst begrüßt, und nicht wenige von ihnen trugen den Revisionskurs und die Kriegspolitik des NSNationalsozialismus-Staats mit – teils bis hin zum Vernichtungskrieg. 

Die vom Historiker Johannes Hürter beschrieben Teilidentität der Ziele von Wehrmacht und NSNationalsozialismus-Staat ermöglichte den späteren Angehörigen des militärischen Widerstandes eine Karriere „im Dritten Reich“. Denn die Verschränkungen mit dem NSNationalsozialismus-Staat versetzten den militärisch-konservativen Widerstand überhaupt erst in die Lage, durch den Zugang und die Bereitstellung der erforderlichen Machtmittel, einen aussichtsreichen Umsturz planen und umsetzen zu können.

Ein Programm für die Zeit nach dem Nationalsozialismus

Die in den Gestapo-Ermittlungsakten „Sonderkommission 20. Juli 1944“ erhaltenen Dokumente geben einen Einblick in die Pläne für die unmittelbare Zeit nach dem Staatsstreich. In der sogenannten Regierungserklärung und in Entwürfen für öffentliche Aufrufe verdichten sich die Debatten der Verschwörenden über eine post-nationalsozialistische politisch-soziale Ordnung. 

Das Bild zeigt Carl Friedrich Goerdeler stehend während seiner Verurteilung vor dem Volksgerichtshof 1944.

Kopf der neuen Regierung: Carl Friedrich Goerdeler, ehemaliger Leipziger Oberbürgermeister, sollte das Amt des Reichskanzlers nach dem Umsturz übernehmen.

SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo

Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Vorstellungen einte die Mitglieder der Gruppe um den „20. Juli“ die Überzeugung, dass die NSNationalsozialismus-Herrschaft durch ein politisches System ersetzt werden müsse, das auf legalen und moralischen Prinzipien basiert. In den Dokumenten wird die Erschütterung über die Praxis der NSNationalsozialismus-Herrschaft und des Vernichtungskrieges deutlich, die sich bei den nationalkonservativen Widerständlern erst durch Distanzierung von und dann durch den Bruch mit dem NSNationalsozialismus-Regime zeigt.

Im Mittelpunkt stand für die Verschwörenden die Wiederherstellung des Rechtsstaates. Unabhängigkeit und Rechtsgebundenheit der Justiz sollten wieder garantiert werden. Die Möglichkeit zu Politisierung, Willkür und Terror durch die Rechtsprechung – wie sie sich im nationalsozialistischen Unrechtsstaat zeigte – sollte so beseitigt werden.

Die angestrebte politische Ordnung orientierte sich stark an der preußischen Tradition der Gemeindeverfassung. Diese sah eine dezentralisierte Verwaltung vor, die auf kommunaler Ebene zwar Autonomie gewährte, gleichzeitig jedoch eine starke zentrale gesamtataatliche Autorität beibehält. Eine wesentliche Rolle kam der Familie als kleinster Einheit des Staates zu.

Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Stabilität. Hierbei wurde ein Gleichgewicht zwischen marktwirtschaftlicher Ordnung und sozialer Absicherung angestrebt.

Genralfeldmarschall Witzleben bei seinem Prozess vor dem Volksgerichtshof, im Hintergrund Verteidiger sowie weitere Angeklagte.

An der Spitze der Wehrmacht: Der hoch dekorierte Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, hier bei dem Prozess vor dem Volksgerichtshof, sollte nach dem Staatsstreich die Befehlsgewalt über die gesamte Wehrmacht ausüben.

SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo

Das Militär behielt seine zentrale Rolle als Träger der Staatsgewalt. Den Krieg wollte die Regierung beenden und umgehend Friedensverhandlungen mit den Alliierten aufnehmen, der Schwierigkeiten von Verhandlungen war sie sich aber bewusst. Ziel war es, auf diplomatischem Weg eine möglichst günstige Position für Deutschland zu erreichen, weitere Zerstörungen und Opfer zu vermeiden und vor allem die nationale Einheit Deutschlands zu erhalten.

Die Verschwörenden sprachen auch offen und direkt die NSNationalsozialismus-Verbrechen an. Die Judenverfolgung sollte umgehend eingestellt und Verantwortliche für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch grenzten sich die Verschwörenden in ihren vorbereiteten Aufrufen und im Regierungsprogramm von NSNationalsozialismus-Herrschaftspraktiken und der NSNationalsozialismus-Weltanschauung ab. Dem Mythos von der Einheit von Volk, Führer und Partei, den das Regime nicht müde wurde zu propagieren, stellten sie das Bild von korrupten NSNationalsozialismus-Eliten gegenüber, die gegen das eigentliche Interesse des Volkes handeln. „Anständigkeit“, „Sauberkeit“, „Sachverstand“, „Pflichterfüllung“ und nicht zuletzt eine christliche Ethik waren dabei Motive, die von den Verschwörenden gegen den NSNationalsozialismus in Anschlag gebracht wurden.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit – Ein Bewertungsversuch

Die Regierungserklärung und die Aufrufe enthielten einen Plan für die unmittelbare Zeit nach der Regierungsübernahme. Die Erklärung betonte die Notwendigkeit einer starken Führung, um Ordnung und Stabilität nach dem Sturz des NSNationalsozialismus-Regimes zu gewährleisten. Zwar lassen sich von einzelnen Vorhaben und Ideen der Verschwörenden Linien in die Zeit nach 1945 ziehen, etwa bezüglich der Hervorhebung von Rechtsstaatlichkeit sowie der Anklänge einer sozialen Marktwirtschaft und eines föderalen Staatsaufbaus wie bei der Bundesrepublik. Doch die Programmatik der Verschwörenden verknüpfte diese zu einer Form der Staatlichkeit und Herrschaft, die zwar in Teilen nach 1945 politisch diskutiert wurde, sich vom endgültigen Grundgesetz der Bundesrepublik aber signifikant unterschied. Denn in den Entwürfen von 1944 fehlte ein wesentliches Element demokratischer Ordnung: die politische Willensbildung durch freie und allgemeine Wahlen.

Darin zeigten sich die im konservativen Milieu verbreiteten antiparlamentarischen und antidemokratischen politischen Haltungen. Verstärkt wurden die Ablehnung und fast schon Ängste vor der Demokratie dadurch, dass viele Verschwörende der Ansicht waren, die Instabilität des Weimarer Parlamentarismus habe den Nationalsozialismus überhaupt erst ermöglicht. Nach den Erfahrungen mit der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus vertrauten die Mitglieder des „20. Juli“ ihrem eigenen Volk nicht.

Auch wennl sich die Bundesrepublik (gelegentlich) auf das Erbe des Widerstandes berief, sollte der „20. Juli“ nicht als direkter Vorläufer des politischen Systems der Bundesrepublik betrachtet werden. Gleichwohl zeigen die politischen Vorstellungen des „20. Juli“, dass innerhalb des nationalkonservativen Milieus intensiv über die Zukunft Deutschlands nachgedacht wurde und es einen klaren Bruch mit den Ideologien und Praktiken des Nationalsozialismus gab. Die Stimmung zum Aufbruch in ein neues Deutschland ist in den erhaltenen Dokumenten allerdings nur in Ansätzen zu finden. Neben dem nüchternen Sprachstil fällt vor allem das Wort „Wiederherstellung“ auf. Es markiert sprachlich die zentrale, rückwärtsgewandte Denkbewegung des nationalkonservativen Widerstands: Der Weg in Deutschlands Zukunft sollte über seine Vergangenheit führen. Dem Nationalsozialismus wird die vermeintlich „gute alte Zeit“ gegenübergestellt, sodass dieser als vorübergehende Irritation in der Geschichte deutscher Staatlichkeit erscheint.

Doch die Kritik an den Verschwörenden sollte nicht zu hart sein. Denn deren Blick zurück ist kaum verwunderlich. Schließlich führte die vom Nationalsozialismus fast schon kultische propagierte „Neue Zeit“ direkt in die Katastrophe. Die Jahre der NSNationalsozialismus-Herrschaft dürften die Lust am Neuen und sämtliche utopische Energien aufgebraucht haben. Der Sommer 1944 war keine Zeit für Experimente. Und vielleicht weist auch die Vorstellung von der horizontalen Verteilung der Herrschaft auf die untersten möglichen Ebenen bei gleichzeitiger Betonung der Macht der Exekutive weniger auf die politische Ordnung der Bundesrepublik hin als vielmehr auf die Strukturen, die sich im Prozess der europäischen Integration bis heute zeigen.

Weiterführende Hinweise

Die Gedenkstätte deutscher Widerstand bietet auf ihrer Seite eine Sammlung von Faksimiles von Originaldokumenten des Widerstands an.

von Frank Reichherzer

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