Dossier "20. Juli 1944"

Tyrannenmord als Notwehr. Fritz Bauers Plädoyer im Remerprozess 1952

Tyrannenmord als Notwehr. Fritz Bauers Plädoyer im Remerprozess 1952

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Der Remer-Prozess im Jahr 1952 war ein Meilenstein des Umgangs mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Der Staatsanwalt Fritz Bauer – selbst Verfolgter des NSNationalsozialismus-Regimes – inszenierte im Gerichtssaal nichts Geringeres als die rechtliche und moralische Rehabilitierung des „20. Juli“. Damit begann, wenn auch zögerlich, eine Neubewertung des Widerstandes und der Zeit des Nationalsozialismus.

Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig mit Art.1 Abs. 1 GG.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar": Auf Betreiben von Fritz Bauer angebrachter Schriftzug des Art. 1 Grundgesetz am Eingang zur Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig am Fritz-Bauer-Platz 1.

picture alliance/dpa, Stefan Jaitner

Otto Ernst Remer – Eine Wahlkampfrede und ihre Folgen

SRP, Parteiwerbung

"Ohne mich!" von Rechts: Ankündigung der Vorträge von Otto Ernst Remer und Fritz Heller Grosser zur Wiederbewaffnung (1950)

Bundesarchiv, BArch Plak 005-033-016, o.Ang.

Es war Wahlkampf in Niedersachsen im Frühjahr 1951. Otto Ernst Remer, zweiter Vorsitzender der sich als Nachfolgeorganisation der NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei verstehenden Sozialistischen Reichspartei (SRP) und Generalmajor a.D., hielt im Braunschweiger Schützenhaus eine Wahlkampfrede vor mehr als 1000 Menschen. 

Während der Veranstaltung kritisierte ein Teilnehmer Remer wegen der Rolle, die er als Kommandeur des Wachbataillons „Großdeutschland“ bei der Niederschlagung des Umsturzes vom 20. Juli 1944 in Berlin gespielt hatte. Remer reagierte in der erregten Stimmung in der Halle prompt und unverblümt. Er rechtfertigte unter großem Zuspruch seine Handlungen am 20. Juli 1944 unter anderem mit der Behauptung, Bürgerkrieg und Zusammenbruch des Deutschen Reiches und somit das weitere Vorrücken der Roten Armee verhindert zu haben. Dabei unterstellte er den Verschwörern und Verschwörerinnen des „20. Juli“, Landesverrat begangen zu haben und vom Ausland bezahlt gewesen zu sein. Auch drohte er, dass sich die Überlebenden des Umsturzversuches für ihr Tun eines Tages noch vor Gericht zu verantworten hätten.

In gewisser Weise behielt Remer hierbei recht, wenn auch nicht so, wie er glaubte. Denn Remer wurde für seine Äußerungen zwar vor Gericht gestellt. Doch tatsächlich instrumentalisierte der Braunschweiger Generalstaatsanwalt diesen Gerichtsprozess als eine Art Revisionsverfahren zur Rehabilitation des Widerstandes im Umfeld des „20. Juli“.

Die frühe Bundesrepublik und der „20. Juli“

Die hier von Remer in einer Wahlkampfhalle geäußerte und auch von ihm und der SRP maßgeblich mit geprägte Sicht auf den (militärischen) Widerstand gegen den Nationalsozialismus war sechs Jahre nach Kriegsende nicht ungewöhnlich.

Positionen wie diese fanden sich nicht nur am politisch rechten Rand. Die Ablehnung des „20. Juli“ reichte bis tief in die Gesellschaft hinein. Kritik, Zustimmung und Indifferenz hielten sich demgegenüber in etwa die Waage. Noch Ende der 1950er Jahre stand fast die Hälfte (49 %) der Bevölkerung der Benennung einer Schule nach einer Person aus dem Widerstand prinzipiell ablehnend gegenüber.

Auch waren in der jungen Bundesrepublik die Strafverfolgungsbehörden nicht nur durch starke personelle Kontinuitäten, sondern auch durch Wertvorstellungen der NSNationalsozialismus-Justiz geprägt. Zudem werteten viele ehemalige Wehrmachtrichter, die nun in den Gerichten der Bundesrepublik Recht sprachen, die Pflicht zum bedingungslosen Gehorsam höher als ethisch-moralisch begründete Resistenz. In einigen Fällen, bis hinauf zum Bundesgerichtshof, urteilten Richter lange noch, dass der Widerstand gegen das NSNationalsozialismus-Regime unrechtmäßig gewesen und damit der Tatbestand des Hoch- und Landesverrats gegeben sei. Urteile der NSNationalsozialismus-Zeit gegen Widerständlerinnen und Widerständler, selbst diejenigen von rechtlich mehr als fraglichen SSSchutzstaffel-Standgerichten in den letzten Wochen des Krieges, blieben daher noch bis zu ihrer Aufhebung 1998 rechtskräftig.

Fritz Bauer – Staatsanwalt und Geschichtspolitiker

Fritz Bauer war hier eine der wenigen – aber umso wirkungsvolleren – Ausnahmen im Justizapparat der jungen Bundesrepublik. Als Sozialdemokrat, Republikaner und Mensch jüdischen Glaubens war Bauer nach der Machtübernahme der Nationalsozilisten 1933 in „Schutzhaft“ geraten und mit Berufsverbot belegt worden. Er emigrierte nach Schweden und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück. Bekannt geworden ist er vor allem durch seine Rolle als Ankläger in den Frankfurter Auschwitzprozessen, die in der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung und Ahndung von NSNationalsozialismus-Verbrechen dem Jerusalemer Eichmann-Prozess vergleichbar sind. 

Porträt Fritz Bauer (1903-1968) Jurist und Generalstaatsanwalt.

Aufarbeiter: Fritz Bauer (1903-1968) Jurist und Generalstaatsanwalt. Maßgeblich betrieb Bauer die juristische Auseinandersetzung mit dem NSNationalsozialismus-Unrechtstaat und den NSNationalsozialismus-Menschheitsverbrechen in der Bundesrepublik.

picture alliance/dpa

Zuvor sorgte Bauer allerdings mit einem anderen Prozess für mediales Aufsehen. Als Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Braunschweig nutzte er den Vorfall im Schützenhaus, um Otto Ernst Remer wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener anzuklagen. Für Bauer ging es in dem Prozess weder um die Vorfälle auf einer Wahlkampfveranstaltung, die Beleidigungen oder die Person Remers noch um das im Laufe des Jahres 1952 erfolgte Verbot der SRP. Bauer instrumentalisierte schlichtweg den Prozess. Mit der Anklage Remers strebte er die öffentlichkeitswirksame Revision der Prozesse gegen den Widerstand des „20. Juli“ an. Insofern wurde in Brauschweig nicht weniger als die juristische Rechtmäßigkeit und geschichtspolitische Anerkennung des Widerstandes gegen das NSNationalsozialismus-Regime verhandelt.

Fritz Bauers Abschlussplädoyer macht dies besonders deutlich. Dieses war für deutsche Gerichte eher ungewöhnlich. Bauers Argumentation war mehr ein geschichtspolitisches Lehrstück als eine juristische Beweisführung. Ziel seiner Ausführungen war die (Neu-) Bewertung des Handelns der Widerständler und Widerständlerinnen im Umfeld des „20. Juli“ und des Attentats- und Umsturzversuchs. Nicht zuletzt ging es Bauer dabei auch um das Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis der Bundesrepublik sowie um den Umgang mit der NSNationalsozialismus-Vergangenheit insgesamt.

Ziel: Rehabilitierung des militärischen Widerstandes

Die in Kinos gezeigte Wochenschau berichtet über den "Remer-Prozess". In ihr wird deutlich, wie der Staatsanwalt Fritz Bauer den Prozess gegen Remer zu einer Verhandlung über die Neuberurteilung des "20. Julis" und des Widerstandes nutzte.

Kernstück des Plädoyers war die Zurückweisung der Vorwürfe des Landes- und Hochverrates gegenüber dem militärischen Widerstand. Bauer inszenierte den Remer-Prozess als „Wiederaufnahme“ der Volksgerichtshofprozesse von 1944 und als Rehabilitierung der Verschwörung – „auf Grund des damals und heute, des ewig geltenden Rechts“. Mit der Konstruktion der Zeitlinie „damals–heute–immer“ argumentierte Bauer nicht nur gegen mögliche Vorwürfe einer erst im Nachhinein oktroyierten „Siegerjustiz“: Seiner Logik folgend, waren die Handlungen der Verschwörer nämlich bereits zu Zeiten des Attentates und des Putsches rechtmäßig. Gleichzeitig entwickelte Bauer damit eine allgemeine Theorie des individuellen Widerstandsrechtes.

Zunächst nahm Bauer zum Vorwurf des Landesverrats Stellung. Landesverrat betraf und betrifft den Tatbestand, das „Wohl“ eines Staates durch Geheimnisverrat oder Unterstützung einer feindlichen Macht zu „gefährden“. Den Aspekt des Wohles des Staates bzw. dessen Gefährdung griff Bauer auf, indem er das Feld von Moral und Ethik mit dem Feld des Rechts verknüpfte. Unter Bezug auf die Autorität des Philosophen Immanuel Kant, der im Recht ein „ethisches Minium“ sah, unterstellte er den Verschwörern um Stauffenberg einen Überschuss an moralischer Motivation und damit rechtlich nicht zu beanstandenden Handeln.  

Denn gibt der auf Menschlichkeit ausgerichtete persönliche ethisch-moralische Kompass eine andere Richtung vor als Anweisungen und Befehle, so sind Widerspruch und Widerstand legitim. Hierin spiegelt sich der Zeitgeist der frühen 1950er Jahre wider, der auch beim Aufbau der Bundeswehr im Konzept der „Inneren Führung“ und des „Staatsbürgers in Uniform“ Niederschlag gefunden hat.

Argumentativ abgesichert durch die von der Staatsanwaltschaft in den Prozessverlauf eingebrachten moraltheologischen und geschichtswissenschaftlichen Gutachten, legte Bauer dar, dass der militärische Widerstand nicht beabsichtigt hatte, Deutschland zu verraten, sondern – ganz im Gegenteil – Deutschland zu retten. Klar zwischen Volk und Regierung und damit auch zwischen Verantwortung und Schuld trennend, argumentierte Bauer: „Am 20. Juli war das deutsche Volk verraten, verraten von seiner Regierung, und ein verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand von Landesverrat sein.“

Die Pflicht zur Tat als Rettung

Attentat und Putsch wurden bei Bauer zu einer moralischen Notwendigkeit. Doch bereits die Planung eines Angriffskrieges, der offenkundig ein Vabanquespiel gewesen war, bot Bauer zufolge ein rechtmäßiges Motiv zum Widerstand. Bauer verankerte damit den militärischen Widerstand in einer zeitlichen Linie, die vom 20. Juli 1944 bis in die späten 1930er Jahre zurückreichte. Indem er die Aussage Remers umkehrte, erklärte Bauer, die Verschwörer hätten am 20. Juli 1944 gerade zum Wohl des deutschen Volkes gehandelt. Er benutzte in diesem Kontext das emotional wohl am stärksten aufgeladene Argument der Zeit – die deutsche Teilung: Bauer zeigte kontrafaktisch die Ergebnisse eines geglückten Umsturzes auf, durch den nicht nur erhebliche Verluste an Menschenleben vermieden worden wären, sondern auch Deutschlands nationalstaatliche Integrität fortbestanden hätte. 

Der „Samen der neuen Demokratie“ 

Weiter setzte sich Bauer mit dem Vorwurf des Hochverrates auseinander. Als (gewaltsamen) Umsturz der politischen Ordnung eines Staates ist dieser – so Bauer – natürlich nur strafbar, wenn der Staatsstreich keinen Erfolg hat. Am Topos des Erfolges entfaltete Bauer seine weitere Argumentation. War der „20. Juli“ in seiner mittel- und langfristigen Wirkung nicht doch erfolgreich? War nicht Resultat des Umsturzes die freiheitlich-demokratische Ordnung? Bauer verortete die Wurzeln der Bundesrepublik im (gesamten) bereits seit 1933 erfolgten Widerstand gegen den Nationalsozialismus: „Die Menschen in den Konzentrationslagern und Menschen außerhalb der Konzentrationslager haben den Samen der neuen Demokratie gesät.“ Die Alliierten hätten nur noch „den Stein entfernt“, damit der Samen aufgehen konnte. Auf diese Weise attestierte Bauer der deutschen Opposition gegen das NSNationalsozialismus-Regime, die wiederum in der Tat vom 20. Juli sichtbaren Ausdruck fand, nicht nur Handlungsmacht, sondern leitete von ihr Legitimität und Souveränität für das neue Staatswesen ab.

Geschickt nutzt Bauer an dieser Stelle ein weites, integratives Verständnis des Widerstandes.  Der „20. Juli“ reicht hier nicht aus. Denn die meisten Mitglieder des militärischen Widerstandes fanden erst spät und angesichts der Kriegsplanungen oder der Verbrechen des Regimes den Weg in die Opposition. Zudem haben sie den politischen Vorstellungen der parlamentarischen Demokratie eher ablehnend gegenübergestanden. Ungeachtet dessen bezieht Bauer mit der Theorie vom „deutschen Samen“ der Demokratie Stellung gegen zwei Positionen. Erstens gegen die in Deutschland sehr unpopuläre Kollektivschuldthese der Alliierten, die spiegelverkehrt die Deutung des NSNationalsozialismus-Propaganda von einer bis zum bitteren Ende der totalen Niederlage intakten Volksgemeinschaft reproduzierte. Zweitens gegen die Sichtweise, das politische System der parlamentarischen Demokratie sei dem westlichen Teil Deutschlands nach der Niederlage von den Westalliierten aufgezwungen worden.

Brückenbau und Integrationsangebot in den neuen Staat

Nicht Zwietracht zu sähen, sondern „Brücken zu schlagen und zu versöhnen“ war das von Bauer klar formulierte Ziel. In seinem Plädoyer bot Bauer dazu auch eine Integrationsformel an. Diese präsentierte er gleich zu Anfang: „Was am 20. Juli 1944 vielen noch dunkel vorgekommen sein mag, ist heute durchschaubar, was damals verständlicher Irrtum gewesen sein mag, ist heute unbelehrbarer Trotz, böser Wille und bewusste Sabotage unserer Demokratie.“ Weiter verknüpfte Bauer die oft verschlungenen Wege in die Demokratie der Deutschen mit dem „edlen Motiv“. Denn sowohl der Widerstandskampf als auch die Treue und das Gefühl der Pflichterfüllung konnten, bezogen auf den Einzelnen und auf spezifische Umstände, durchaus ein Dienst am Volk gewesen sein. Und politische Irrtümer, die Akteure in der Vergangenheit aufgrund mangelnder Einblicke in die großen Zusammenhänge begangen hätten, seien entschuldbar. Aber für „Unverbesserliche“ und „ewig Gestrige“ in der Gegenwart – wie Remer, der noch in seinem Schlusswort erklärte, er habe nichts zurückzunehmen – gälte jedoch Unnachgiebigkeit. Damit lieferte Bauer der großen Gruppe der Mitläuferinnen und Mitläufer und sogar den Mittätern und Mittäterinnen ein Integrationsangebot in den neuen Staat. Ein Angebot allerdings, das mit der Aufforderung zum Umdenken verknüpft war.

In der Argumentation Bauers deutet sich ein Anknüpfungspunkt an die Militärgeschichte der Bundesrepublik an. Die beiden entgegengesetzten Wege des „richtigen“ Handelns – Widerstand und Pflichterfüllung - konnten zumindest eine Argumentationshilfe in der Entstehung der Bundeswehr sein, um die Zusammenarbeit von ehemaligen Widerständlern und regimetreuen Wehrmachtsangehörigen, von „Eidbrechern“ und „Eidbewahrern“, zu ermöglichen. Schließlich bestand so die Möglichkeit, dass beide Gruppen auf ihre Arte richtig gehandelt haben. Sie mussten allerdings – und hier war die Hürde oft sehr hoch – das jeweilige „Richtig“ der Anderen akzeptieren.

„… eine Grenze hat Tyrannenmacht!“ – Rechtsgeschichtliche Verortung der Selbstermächtigung

Buchseite, Fierdrich Schiller Wilhelm Tell, Rütliszene, Stauffacher

Widerstandsrecht: Spruch des Stauffacher bei der Verschwörung der Urkantone am Rütli in Friedrich Schillers Wilhelm Tell (Cotta, Tübingen 1804, S. 90).

Cotta, Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, Dgitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource

Seine Argumentation sicherte Bauer auch rechtsgeschichtlich ab. Dazu griff er die Argumente des Verteidigers Remers auf, der „deutsches Recht“ für den Angeklagten in Anspruch nahm.  Die Schlagworte „deutsches“ oder „germanische“ Recht, die die Verteidigung anführte waren Schlagworte, die insbesondere das Rechtsverständnis im Nationalsozialismus geprägt haben. Indem Bauer diese Traditionslinie des Rechts aufgriff und die Tat des „20. Juli“ explizit in einem vermeintlich „deutschem Recht“ in einordneten, unterstrich er die Legitimität von Widerstand im Allgemeinen. Von mittelalterlichen Rechtsquellen wie dem „Sachsenspiegel“ über Rechtsgutachten des 19. Jahrhunderts sogar bis hin zu einer Stelle aus Hitlers „Mein Kampf“ – überall erblickte Bauer das Recht zum Widerstand, das es erlaubte, wechselseitige Verpflichtungen aufzukündigen.

Bauer endete mit bildungsbürgerlichem Pathos, als er das Widerstandsrecht mit Worten aus Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ obendrein naturrechtlich unterfütterte und die Figur des Stauffacher sprechen ließ: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, / Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last – greift er / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, / Und holt herunter seine ew'gen Rechte, / Die droben hangen unveräußerlich / Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst / Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, / Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht / Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr / Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben / Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen / Gegen Gewalt.“

Wirkungen und Nachwirkungen

Verglichen mit dem Plädoyer war das Urteil weit weniger emphatisch. Der vorsitzende Richter Joachim Heppe war von der geschichtspolitischen Instrumentalisierung des Verfahrens durch Bauer nicht unbedingt begeistert. Heppe interessierte nicht die juristische und geschichtspolitische Beurteilung des Widerstandes, sondern das, was Remer über wen wie gesagt habe. Dass es sich das Gericht dann auch mit seinem Urteil nicht leicht machte, zeigte die relativ lange Beratungsphase, nach der der Angeklagte zu einer vergleichsweise milden dreimonatigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Remer entzog sich der Strafe durch Flucht ins Ausland. Die Deutschen aber wurden „auf Bewährung“ freigesprochen, die Frage des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und die politische Einordnung des „20. Juli“ wurde erstmals ernsthaft in der Öffentlichkeit diskutiert. Diesbezüglich war die von Bauer initiierte mediale Begleitung des Remer-Prozesses ein Erfolg – dieser stellte allerdings nur einen ersten Schritt dar. Denn das eigentliche Ziel, die Rehabilitierung der Widerstandsbewegung um Stauffenberg, konnte Bauer im gesellschaftspolitischen Umfeld der frühen 1950er lediglich anstoßen. Bis zur vollständigen Anerkennung des „20. Juli“ und des Widerstandes im Allgemeinen sollte es noch Jahrzehnte dauern.

Auch juristisch setzte das Urteil keine Maßstäbe. Das Gericht folgte der Argumentation Bauers nur stellenweise und zog sich in seiner Urteilsbegründung auf das Delikt der Ehrverletzung zurück – wegen der pauschalen Behauptung Remers, dass alle Mitglieder des „20. Juli“ vom Ausland bezahlte Landesverräter gewesen seien. Und obwohl das Gericht zu dem Schluss kam, die Volksgerichtshofprozesse gegen den „20. Juli’„ hätten „den Charakter nationalsozialistischer Schau- und Propagandaprozesse“ getragen, dauerte die Aufarbeitung von NSNationalsozialismus-Unrecht ebenfalls – wie bereits beschrieben – sehr lange.

Aufnahme Remer-Prozess, Ernst Otto Remer im gespräch mit seinen Anwälten

Angeklagt: Otto Ernst Remer mit seinen Anwälten vor dem Landgericht Braunschweig.

picture alliance / dpa

Wie kontrovers und emotional aufgeladen das Thema „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ war, zeigte sich nach dem Remer-Prozess: Richter Heppe erhielt nach dem Urteil Morddrohungen und Bauer bekam Drohbriefe, wie die Hannoversche Presse vom 19. März 1952 berichtete. Nichtdestotrotz gelang es Bauer, dem vom NSNationalsozialismus-Regime propagierten Topos vom Landesverrat eine Gegenerzählung von Mut, Moral und ehrenvollem Verhalten entgegenzustellen. Im Umgang mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigte sich also in der Bundesrepublik, zum Teil bis heute, viel Licht und auch viel Schatten. Zu den lichten Erscheinungen dürfte die Lernfähigkeit unseres Gemeinwesens zählen.

Coda: Fritz Bauer und das Widerstandsrecht heute

Lange war es dann still um den Remer-Prozess, er tauchte gelegentlich in der Fachliteratur auf, um den Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Bunderepublik zu dokumentieren. In jüngere Zeit haben der Prozess und die Argumentation Bauers zum Widerstand und zum Widerstandsrecht eine eigenartige Renaissance erfahren. Neurechte Bewegungen, die „Reichsbürger“-Szene, aber auch Gegnerinnen und Gegner von Corona-Pandemie-Maßnahmen und Migrationspolitik sehen in der Bundesrepublik Deutschland einen „Unrechtsstaat“ und leiten hieraus ein wie auch immer geartetes Widerstandsrecht ab. Dabei berufen sich diese Gruppierungen auch auf Fritz Bauer und seine Argumentation. Doch: Eine funktionierende Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung und funktionierenden Gerichten kann kein Unrechtsstaat sein. Bauer selbst argumentierte in seinem Plädoyer: „Es gibt kein Widerstandsrecht im Rechtsstaat, solange die Menschenrechte gewahrt werden, solange eine Möglichkeit zur Opposition besteht und einem Parlament Gelegenheit zur Gesetzgebung gegeben ist; solange unabhängige Gerichte walten und die Gewalten geteilt sind.“ Widerstand und Wehrhaftigkeit ist vielmehr gerade dort angebracht, wo Kräfte die freiheitlich demokratische Ordnung angreifen. Die letzten, mahnenden Worte gehören daher auch Fritz Bauer, die er an anderer Stelle äußerte: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“

Weiterführende Hinweise

Fritz Bauers Plädoyer „Eine Grenze hat Tyrannenmacht…“. Abgedruckt in: Fitz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung.  Ausgewählt Schriften. Hrsg. von Joachim Perels u. Irmtrud Wojak, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 169-180. Online auf der Seite der Internetzeitung Braunschweig-Spiegel.
Urteil vom 15.03.1952  1 K Ms 13/51 – Remer Prozess = openJur 2019, 2812.
Claudia Fröhlich, Der Prozess gegen Otto Ernst Remer, Deutschland 1951–1952. In: Lexikon der Politischen Strafprozesse. Hrsg. von Kurt Groenewold, Alexander Ignor u. Arnd Koch.
Ronen Steinke, Fritz Bauer: oder Auschwitz vor Gericht, München 2013.
Boris Burghardt, Vor 60 Jahren: Fritz Bauer und der Braunschweiger Remer-Prozess. Ein Strafverfahren als Vehikel der Geschichtspolitik. In: Journal der Juristischen Zeitgeschichte, 6 (2012), H. 2, S. 47–59. 

von Frank Reichherzer

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.

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