Ukraine-Dossier

Krieg und Ökonomie. Eine Analyse

Krieg und Ökonomie. Eine Analyse

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14 MIN

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Seit mehr als zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. Zehntausende Menschen haben ihr Leben verloren, Millionen sind auf der Flucht. Die wirtschaftlichen Auswirkungen, auch für nicht direkt beteiligte Staaten, sind enorm. Die ökonomischen Folgen machen deutlich: Freiheit hat einen Preis. Denn es geht in diesem Krieg nicht rein um konjunkturelle Entwicklungen, sondern vielmehr um die Verteidigung freiheitlicher Werte.

Frontansicht des zerstörten Stahlwerks in Mariupol

Umkämpfte Infrastruktur: Das Stahlwerk in Mariupol war eines der größten Stahlwerke Europas und ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Ukraine. Während der mehrmonatigen russischen Belagerung zu Beginn des Krieges wurde es fast vollständig zerstört.

picture alliance/Zoonar

Der Krieg in der Ukraine dauert bereits seit über zwei Jahren an. Er hat weite Teile der ukrainischen Infrastruktur erheblich geschädigt oder völlig zerstört. Um die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen abzumildern, laufen bereits jetzt Initiativen, die den Wiederaufbau der Ukraine unterstützen, wie etwa die von der Bundesregierung initiierte „Plattform Wiederaufbau“. Hintergrund ist auch, dass nicht adressierte wirtschaftliche Folgen eines Krieges zu weiteren Problemen oder sogar einem erneuten Krieg beitragen können. Dieser Zusammenhang wurde bereits vor über hundert Jahren von bekannten Wirtschaftswissenschaftlern thematisiert.

Im Jahr 1919 veröffentlichte etwa John Maynard Keynes eines seiner bekanntesten Werke, die Monografie „Economic Consequences of the Peace“ über die Folgen der Pariser Vorortverträge nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Bekannt wurde dieser Beitrag vor allem durch Keynes’ Prognose, nach etwa zwei Jahrzehnten werde es aufgrund der Folgen der hohen Reparationslasten wieder Krieg geben. Der vorliegende Beitrag soll hingegen keine prophetischen Aussage treffen. Sein Ziel ist es, beispielhaft und auf einer übergeordneten Ebene die wirtschaftlichen Konsequenzen am Beispiel des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine für einen nicht direkt beteiligten Staat, hier die Bundesrepublik Deutschland, dazustellen.  Mit allgemeinen Überlegungen werden dabei die grundlegenden Zusammenhänge dargestellt, ohne dass die zur Erläuterung genannten Zahlen eine präzise ökonometrische Analyse ergeben sollen.

In einem ersten Schritt gilt es, die verschiedenen Rollen und Bereiche zu unterscheiden, in denen die Wirtschaftswissenschaften zur Analyse von Konflikten und Kriegen beitragen. Es folgt sodann eine Beschränkung auf die Untersuchung der wirtschaftlichen Kriegsfolgen. Schließlich soll ein möglicher bewusster, strategischer Einsatz dieser wirtschaftlichen Kriegsfolgen betrachtet werden, nämlich deren Verwendung zum Zweck der Drohung, Abschreckung und Sanktionierung in der Außenpolitik.

Ökonomische Perspektiven auf einen Krieg

Wenn es im weiteren Sinne um „ökonomische“ Aspekte des Krieges geht, dann müssen wir zunächst zwischen der Wirtschaft („Ökonomie“) als einem Gegenstand und der wirtschaftswissenschaftlichen Methode („Ökonomik“) unterscheiden. Letztere hat militärischen Entscheidungsträgern einiges zu bieten. Denn sie dient als Sozialwissenschaft von rationalen Individualentscheidungen und ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken als – meist formalisierte und quantitative – Perspektive für die Betrachtung von Strategie und Konflikt. Letztlich bietet sie damit eine zentrale methodische Grundlage der Militärwissenschaft. Wenden wir uns wirtschaftlichen Fragen im Zusammenhang mit Kriegen als Gegenstand zu, dann lassen sich vier Bereiche trennen:

  1. Wirtschaftliche Kriegsfolgen. Gemeint sind hier die kurz-, mittel- und langfristigen Einflüsse des Krieges auf Wirtschaftsstrukturen und makroökonomische Variablen in den kriegführenden Staaten und im Rest der Welt. Diese werden im dritten Abschnitt betrachtet.

  2. Wirtschaftliche Kriegs- und Operationsziele. Hier geht es im Wesentlichen um das Gewinnen ökonomischer Ressourcen durch den Einsatz militärischer Mittel, also um Appropriation, einfacher gesagt: um Raub. Ein gutes Beispiel bietet die Entscheidung Hitlers, die Offensive gegen die Sowjetunion im Jahre 1942 auch in Richtung auf die Ölfelder von Baku zu führen.

  3. Wirtschaftliche Grundlagen der Kriegführung. Im Mittelpunkt steht die Verfügbarkeit von Ressourcen für die Kriegführung, von der Ausstattung mit Rohstoffen und Technologie bis hin zur Umstellung auf eine Kriegswirtschaft.

  4. Wirtschaftliche Instrumente einer gesamtstaatlichen Strategie. Hier geht es um die Nutzung von Wirtschaftsmacht zur Ergänzung militärischer und diplomatischer Instrumente zum Erreichen eines politisch erwünschten Ziels. Beispiele dafür sind die aktuellen Wirtschaftssanktionen gegen Russland und gegen den Iran, aber auch die USUnited States-amerikanische Politik gegenüber Japan vor dem Zweiten Weltkrieg.

Im Folgenden werden von diesen Aspekten die wirtschaftlichen Kriegsfolgen mithilfe der Ökonomik als Methode betrachtet

Wirtschaftliche Kriegsfolgen

Die wirtschaftlichen Kriegsfolgen stellen, wie gesagt, einen kleinen Ausschnitt des im vorangegangenen Abschnitt aufgespannten Raums dar. Hier rücken drei hauptsächliche Kategorien in den Mittelpunkt:

  1. Zerstörung von Human- oder Realkapital durch Kriegshandlungen, oder ohne Euphemismen gesagt: das Töten von Menschen und die Zerstörung ihrer materiellen Lebensgrundlage. Freilich betrifft dies in erster Linie direkt engagierte Kriegsparteien, es kann aber – vor allem bei „hybriden“ Kriegsformen, in denen die Grenze zwischen direkter und indirekter Beteiligung verwischt – auch für andere Staaten relevant werden.

  2. Minderung des wirtschaftlichen Wohlstands und Änderung seiner Verteilung. Dies wird insbesondere durch die Veränderung zentraler makroökonomischer Variablen wie des Bruttoinlandsprodukts (BIPBruttoinlandsprodukt), dessen Wachstumsrate oder der Inflationsrate sichtbar.

  3. Verdrängung von Konsum und Investitionen durch zusätzliche Ausgaben für Sicherheit, welche – wie auch die Ausgaben für Justiz und Polizei – gemessen an einem marktwirtschaftlichen Ideal „Direkt Unproduktive Ausgaben“ darstellen.

Selbstverständlich hängen diese Kategorien zusammen. Gleichwohl ist es sinnvoll, sie zunächst separat zu betrachten.

Krieg macht arm, Bastiat!

Gelegentlich hört man das Argument, die Zerstörungen im Krieg hätten insofern eine positive Wirkung, als die Ersatzinvestitionen die aggregierte Nachfrage steigerten und das durchschnittliche Alter des Kapitalstocks senkten. Dieses Argument wurde bereits 1850 von Claude Frédéric Bastiat, einem französischen Ökonomen, kritisiert. Es ist auch als „broken window fallacy“ bekannt. Das hauptsächliche Gegenargument lautet wie folgt: Die Ersatzinvestitionen müssen aus dem laufenden Sozialprodukt bestritten werden, sie verdrängen also andere Ausgaben, die ansonsten getätigt worden wären. So entfällt die Produktion und das damit entstehende Einkommen derjenigen, die ihre Güter und Dienste aufgrund der Ersatzinvestitionen nicht mehr erfolgreich anbieten können. Und was, wenn die Inhaber des Kapitals ihr Einkommen gespart hätten, wären die Ersatzinvestitionen nicht erforderlich gewesen? Dann hätten die Banken die Einlagen an andere Nachfrager verleihen können. Was, wenn die Inhaber Bargeld gehortet hätten? Dann wäre das Preisniveau gefallen, was die Realeinkommen anderer Nachfrager erhöht hätte.

Viel keynesianisches Gedankengut ist in die Aufgabe geflossen, diese Mechanismen zu unterbrechen. Solche Unterbrechungen mögen tatsächlich in der kurzen Frist theoretisch denkbar sein, setzen jedoch eine Depression mit völligem Brachliegen von Ressourcen voraus – dieses Szenario hatte Keynes ja auch im Sinn. Eine solche Konstellation kann in der aktuellen Lage jedoch schlicht nicht relevant sein. 

Übertragung wirtschaftlicher Kriegsfolgen auf Nichtkombattanten

Wie kommt es dazu, dass ein Krieg zwischen zwei Ländern sich nachteilig auf andere Länder auswirkt? Zunächst führen die Zerstörungen von Produktivkapital und die Bindung von Humankapital durch den Krieg dazu, dass das Volkseinkommen in den kriegführenden Ländern fällt. Weil die Nachfrage nach Importen in diese Länder – also nach den Exporten des Auslands – einkommensabhängig ist, schrumpft dadurch der Absatz im Ausland. Ein zweiter Effekt besteht darin, dass der Übergang zur Kriegswirtschaft und die Zerstörungen in den kriegführenden Ländern deren Produktivität verringern. Dies erhöht die Kosten der Importe aus Sicht des Auslands und verknappt die importierten Güter, Vorprodukte und Rohstoffe. Dazu werden in der Regel politische Handelshemmnisse – sprich: Sanktionen – mit analoger Wirkung treten. 

Aufgestelltes Cover des Berichts der Wirtschaftsweisen, die im Hintergrund bei einer Pressekonferenz zu sehen sind

Der Faktor Krieg: Der Krieg in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, wie der Jahresbericht des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (sog. Wirtschaftsweise) zeigt.

picture alliance/Flashpic

Sämtliche Mechanismen lassen eine Verringerung der Wachstumsrate des Sozialprodukts und damit eine Wohlstandseinbuße erwarten. Die zweite Gruppe von Mechanismen führt zu zusätzlichem inflationärem Druck, wogegen die Reduktion der ausländischen Nachfrage für sich genommen den Preisauftrieb dämpft. Will man diese Effekte messen, so wird man unmittelbar mit dem Umstand konfrontiert, dass sich die kriegsbedingten Effekte mit anderen makroökonomischen Entwicklungen überlagern. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine ist die über ein Jahrzehnt dauernde expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank zu nennen, die zunächst zu einer erheblichen Vermögenspreisinflation (Aktien, Immobilien, Uhren, Kunstwerke, Oldtimer, …) führte und nun auch im Konsumentenpreisindex angekommen ist. Dazu kommen die wirtschaftlichen Folgen der Covid-Pandemie, also die Kostensteigerungen und Wohlstandseinbußen durch die Corona-Maßnahmen und die Unterbrechung von Lieferketten, denen freilich eine sehr stark expansive, schuldenfinanzierte Fiskalpolitik gegenüberstand. Schließlich sind die fundamentalen Anpassungen des Wirtschaftens und gravierenden Wohlstandsverluste durch die Reaktion auf den Klimawandel zu nennen, die im Augenblick noch Schwung gewinnen, sich aber mindestens durch Erwartungsbildung bereits auswirken. Gerade im Bereich der Energieversorgung und besonders für Deutschland sind bereits jetzt Wechselwirkungen zwischen Kriegsfolgen und Umweltpolitik zu konstatieren.

Eine einfache Abschätzung der Wohlstandseinbußen

Der Argumentation liegt folgende Idee zugrunde: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine kam für die wirtschaftswissenschaftliche Community überraschend. Das legt nahe, dass die Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute vor Kriegsbeginn bereits die Störfaktoren abbildeten, die schon aufgezählt wurden, aber noch nicht die Kriegsfolgen. Die Prognosen der Institute seit Kriegsbeginn müssen dagegen die unerwarteten Kriegsfolgen berücksichtigen. Den Nettoeffekt können wir unter der plausiblen Annahme, dass sich die sonstigen Rahmenbedingungen innerhalb eines Quartals nicht grundlegend geändert haben, dem Krieg in der Ukraine zuschreiben. Also bietet es sich an, die Prognosen aus dem Herbst 2021 mit denen aus dem Herbst 2022 zu vergleichen und die Differenz grob als kurz- und mittelfristige wirtschaftliche Kriegsfolgen zu interpretieren. 

Die nachfolgende Tabelle greift die jeweiligen Prognosen der Bundesregierung, die Gemeinschaftsprognose der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute und die Prognose des Sachverständigenrats für Wirtschaft (SVR), umgangssprachlich als „Wirtschaftsweise“ bekannt, auf:

Makroökonomische Prognosen für Deutschland

Prognose

Wachstum 2022

Inflation 2022

Wachstum 2023

Inflation 2023

Herbstgutachten BReg 2021

4,1 %

2,2 %

1,6 %

1,7 %

SVR Herbst 2021

4,6 %

2,6 %

 

 

Gemeinschaftsprognose Herbst 2021

4,8 %

2,5 %

1,9 %

1,7 %

Herbstgutachten BReg 2022

1,4 %

8 %

-0,4 %

7 %

SVR Herbst 2022

1,7 %

8 %

-0,2 %

7,4 %

Gemeinschaftsprognose Herbst 2022

1,4 %

8,4 %

-0,4 %

8,8 %

Bei einem deutschen BIPBruttoinlandsprodukt von rund 3600 Milliarden Euro entsprechen die 3 Prozentpunkte Differenz für das Jahr 2022 einem Schaden (auf Jahresbasis) von 108 Milliarden Euro und die 2,3 Prozentpunkte des Jahres 2023 einem Schaden von 83 Milliarden Euro. Das stellt indes eine Unterschätzung dar, weil sich der gesamte Wachstumspfad ceteris paribus nach unten verschiebt und sich so die Bezugsgröße für künftiges Wachstum verringert. Der gesamte Wohlstandsverlust wäre als Barwert der Differenzen zwischen den Wachstumspfaden zu errechnen. 

Erfordernis zusätzlicher Verteidigungsausgaben

Neben den direkten Schäden des Krieges tritt der Umstand, dass die wachsende Unsicherheit zusätzliche Aufwendungen aller Nationen erforderlich macht, die den Charakter von „Direkt Unproduktiven Ausgaben“ (DUP) haben. Damit sind die erhöhten Militärausgaben gemeint, denn zu den DUP zählen allgemein alle Aufwendungen, welche die Förderung oder die Abwehr von Umverteilung gegebener Ressourcen und nicht die Produktion zusätzlicher Güter oder die Erleichterung einvernehmlicher Tauschvorgänge bezwecken. Weitere Beispiele dafür sind Wahlkampfkosten, Aufwendungen für Rechtsbeistände und ein guter Teil der Werbung. Solche Aufwendungen sind individuell sinnvoll, stellen vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Optimums allerdings Verschwendung dar.

Wirtschaftlicher Schaden als strategisches Instrument

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Handelshemmnisse und die damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten auch als strategisches Instrument im Rahmen eines ressortgemeinsamen Ansatzes zur Intervention betrachtet werden können. Einfach gesagt: Ein Teil der oben genannten Kosten entsteht durch die Sanktionen gegen Russland. Es stellt sich also die Frage, ob diese Kosten als sinnvolle Aufwendungen im Rahmen nationalen strategischen Handelns betrachtet werden können. 

Die Mär vom „Wandel durch Handel“

Ein sehr beliebtes Argument rückt den „Wandel durch Handel” in den Mittelpunkt: Internationale Handelsbeziehungen führen zu Tausch- und Spezialisierungsvorteilen. Führt man Krieg, so bedeutet dies eine zumindest teilweise Rückkehr zur Autarkie und eine Unterbrechung der Lieferketten – ein Umstand, den wir gerade beobachten – und damit einen Verlust dieser Vorteile. Aus diesem Grunde ist ein Krieg mit Kosten verbunden, und was teurer ist, wird weniger gerne betrieben. Fürwahr ein bestechendes Argument mit einer ökonomischen Intuition. Leider weist es einen zentralen Mangel auf, weil beide Seiten diesen zusätzlichen Kosten unterworfen werden und damit auch die Drohung des Aggressors wirkmächtiger wird. 

Das Gegenargument lässt sich mit einem einfachen dynamischen Spiel illustrieren: Ein Aggressor (A) und ein Verteidiger (V) streiten um eine gegebene Ressource, deren Wert wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit auf Eins normieren. Zuerst ist A am Zug und legt einen Anteil d der Ressource fest, den er von V fordert. Sodann entscheidet sich V dafür, ob er klein bei und sich mit dem Anteil 1 - zufrieden gibt, oder ob er kämpft. Kommt es zum Krieg, fallen für beide Seiten Kriegskosten c an (die verlorenen Handelsgewinne), und A gewinnt mit der Wahrscheinlichkeit p. Im Falle eines Krieges erhält der Sieger die gesamte Ressource, und beide Akteure seien risikoneutral.

Wie üblich “löst” man ein solches spieltheoretisches Modell von hinten nach vorn und beginnt also mit der Entscheidung des Verteidigers. Gibt dieser nach, erhält er 1 - d, leistet er Widerstand, kann er 1 - p - c erwarten. Zum Kampf kommt es daher unter der Bedingung 1-p-c > 1-d oder > p + c, also wenn entweder die nach dem Krieg erwartbar gewonnenen Ressourcenanteile größer sind als das, was nach Zahlung an den Aggressor übrigbleiben würde, oder wenn die Forderungen des Aggressors größer sind als die erwarteten Kriegskosten. 

Nun zum Aggressor: Bleibt dieser mit seiner Forderung unter dieser Schwelle, so herrscht Friede, bei einer höheren Forderung tobt der Krieg. Offensichtlich macht es für den Aggressor keinen Sinn, weniger als den Grenzwert zu fordern, der gerade noch den Krieg vermeidet; will er mehr fordern, so kann er gleich = 1 setzen und die Waffen entscheiden lassen. Tut er dies, so erhält er im Erwartungswert p - c. Das ist weniger als das kritische d* = p + c.

Daher wird der Schwellenwert d* gefordert, V beugt sich, und die Waffen schweigen. Und was passiert, wenn die Kosten des Krieges c unter sonst gleichen Umständen steigen? Ganz einfach: Die Grenze verlagert sich nach oben, und A wird mehr fordern können. Aber immer kommt es noch nicht zum Krieg.

Es ist also nicht (jedenfalls nicht allein) der Preis des Krieges, der den Frieden bringt. Will man den Beginn eines Krieges erklären, muss man eher an der Annahme völliger Sicherheit und vollständiger Information rütteln – derjenigen Annahme also, welche das feine Kalkül des A erst ermöglicht. Leider hat auch dies seinen Preis, denn die resultierenden Modelle sind schwer zu lösen und nicht leicht zu skalieren.

Zur Rationalität von Wirtschaftssanktionen

Die westliche Welt reagierte auf den russischen Angriff mit Lieferungen an die Ukraine – Informationen, Ausrüstung, Waffen und Munition – sowie mit Sanktionen gegen Russland und den Iran als Reaktion auf dessen Lieferung von Drohnen an Russland. Was ist davon zu halten? 

Zunächst gilt es festzustellen, dass die Androhung von Sanktionen in zahlreichen Fällen unglaubwürdig und damit nicht rational ist. Denn es genügt nicht, dass die Sanktionen einen Nachteil für den Aggressor darstellen, der den Vorteil aus der Aggression übersteigt. Zusätzlich muss nämlich gelten, dass es nach erfolgter Aggression von Vorteil bleibt, die Drohung wahr zu machen. Das trifft bei den meisten Sanktionen gerade nicht zu. Wenn der Aggressor entgegen allen Drohungen doch angegriffen hat, schadet sich die Gegenseite selbst, wenn sie die Drohung wahr macht, und wird dies unterlassen. Gerade dies bekräftigt aber einen vorausschauenden Aggressor in seiner Einschätzung, dass die aggressive Handlung ohne gravierende Folgen bleiben wird.

US-Zerstörer fährt neben einem russischen Frachtschiff, ein US-amerikanisches Flugzeug überwacht die Szene aus der Luft

Brinkmanship: Während der Kuba-Krise errichtete die USUnited States Navy eine Blockade rund um Kuba, um die Sowjetunion zum Rückzug zu bewegen.

picture alliance/AP

Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu umgehen, besteht in der Einrichtung von Automatismen. Man droht nicht, nach der Aggression über Sanktionen zu entscheiden, sondern installiert im Vorhinein einen Mechanismus, der auf eine Aggression ohne eigenes Zutun mit Sanktionen reagiert. Ein Beispiel ist die Doomsday Machine in Stanley Kubricks Dr. Seltsam, welche zugleich die Risiken dieser Technik verdeutlicht. Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Situation auf anderem Wege so zu gestalten, dass dem Gegner die letzte Chance zum Abbruch verbleibt. So wird seine Absicht durchzuhalten zu einer leeren Drohung verkehrt. Das klassische Beispiel für eine derartige Strategie sind Blockaden, etwa die Blockade Kubas durch die USUnited States Navy in der Kubakrise. Beide Möglichkeiten sind Formen der Präemption, also der Vorbeugung.

Eine dritte, systematisch verschiedene Option besteht darin, die Drohung zu partitionieren. Man droht nicht damit, die Katastrophe auszulösen – was man, wie beschrieben, ex post nicht einhalten wollen würde –, sondern mit einer kleinen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Katastrophe. So beschwört man die Katastrophe peu à peu herauf, ohne den letzten Schritt tun zu müssen, und umschlingt den Gegner auf dem Weg an den Abgrund in der Hoffnung, dass dieser zuerst „erschaudern“ möge. Die Fähigkeit, diesen gefährlichen Weg zu gehen, wird traditionell als “Brinkmanship” bezeichnet.

Schließlich ist bei der Analyse von Sanktionen auch zu beachten, dass diese als Signale an die verbündeten Staaten dienen können. So wird die bloße Androhung von Sanktionen mit Blick auf den Gegner fragwürdig erscheinen. Dennoch kann es rational sein, sich Sanktionen anzuschließen, weil man damit Signale aussendet: nämlich erstens bezüglich der eigenen Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, und zweitens bezüglich des eigenen Willens, im Rahmen einer Allianz zu kooperieren (was wiederum eine spieltheoretische Herausforderung in sich birgt, nämlich das Gefangenendilemma). Solche Signale gewinnen insbesondere dann an Bedeutung, wenn es um wiederholte Interaktionen geht, in denen man ein Interesse daran haben kann, Informationen über sich zu gestalten und Reputation zu gewinnen.

Zusammenfassung

Im Beitrag wurden die wirtschaftlichen Folgen eines modernen Krieges für einen nicht direkt beteiligten Staat am Beispiel der Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Bundesrepublik Deutschland betrachtet. Das Hauptaugenmerk lag auf der Systematik der einschlägigen Argumente.

Vor dem Hintergrund der angestellten Überlegungen erscheint es plausibel, dass der Krieg in der Ukraine zu einer Minderung des deutschen Sozialprodukts im Umfang von etwa 100 Milliarden Euro für das Jahr 2022 geführt hat. Für die Folgejahre sind ebenfalls erhebliche Wohlstandsminderungen zu erwarten, unter sonst gleichen Umständen aber mit abnehmender Tendenz. Dazu kommen die erforderlichen Ressourcen für eine glaubwürdige Abschreckung durch die Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung, die nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung stehen.

Literaturtipps

Beckmann, Klaus (2021): „Konzept für eine Militärökonomik“, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 5/21, 573-581.

Beckmann, Klaus und Lennart Reimer (2014): „Dynamics of military conflict: an ex economics perspective“, in: Review of Economics 65, 265-285.

Hirshleifer, Jack (2001): The Dark Side of the Force: Economic Foundations of Conflict Theory. Cambridge: Cambridge UP.

Keynes, John Maynard (1919): The Economic Consequences of the Peace. London: MacMillan.

von Klaus Beckmann

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.

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