ZMG 2/24

1849 – 1919 – 1949. Der lange Weg zu einer stabilen demokratischen Ordnung

1849 – 1919 – 1949. Der lange Weg zu einer stabilen demokratischen Ordnung

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Zweimal scheiterte in der deutschen Geschichte der Versuch, eine demokratische Verfassung zu etablieren. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelang ein Neuanfang. Als Lehre aus den NSNationalsozialismus-Verbrechen war der Grundsatz „die Würde des Menschen ist unantastbar“ nun Prämisse jeglicher Staatsgewalt.

Der spätere erste Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 das Grundgesetz

Wegweisender Moment: Der Präsident des Parlamentarischen Rates und spätere erste Bundeskanzler, Dr. Konrad Adenauer, unterzeichnet das Grundgesetz, 23. Mai 1949.

ap/dpa/picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo

Am 31. Juli 1849 starb der 26-jährige Potsdamer Maximilian Dortu im Kugelhagel eines Erschießungspeletons preußischer Soldaten auf einem Freiburger Friedhof. Obwohl ein Trommelwirbel seine letzten Worte übertönen sollte, waren diese doch noch zu hören: „Ich sterbe für die Freiheit. Brüder, zielt gut.“ Dortu, Rechtsreferendar und Unteroffizier der Landwehr, war einer der Letzten, die nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 sterben mussten. Im Frühjahr 1849 hatte er sich jenen angeschlossen, die nach der Auflösung der Nationalversammlung bereit waren, für die Ziele der Revolution und die in deren Verlauf verabschiedete Reichsverfassung zu kämpfen. Vergeblich: Unter Führung von Prinz Wilhelm, dem „Kartätschenprinz“ – so Dortu –, verfolgten preußische Soldaten die letzten Kämpfer für Freiheit und Einheit. Viele fielen Standgerichten zum Opfer. Wer konnte, floh ins Ausland, um der Hinrichtung oder langer Haft zu entgehen. Zehntausende folgten ihnen innerhalb weniger Monaten aus politischen, aber auch aus sozialen Gründen.

Demokratie als Grundlage

„Die Verfassung, die wir haben [...] heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ Mit diesen wenigen Worten, die sich an die berühmte „Gefallenenrede“ von Perikles im Winter 431/430 v.Chr. anlehnten, begründete der Europäische Verfassungskonvent 2003/2004 in der Präambel der vorgeschlagenen „Europäischen Verfassung“ ein Ordnungsmodell, das sich in Europa nach vielen Revolutionen erfolgreich durchgesetzt hatte und das viele Menschen in bisher von diktatorischen Regimen regierten Teilen der Welt – in Moskau und in Beijing, in Lima, Pretoria und Kinshasa – nach dem Ende des Kalten Krieges (zunächst) als vorbildlich ansahen. Diese Verfassung kam zwar nicht zustande, sondern wurde durch den Vertrag von Lissabon ersetzt. Die Idee der Demokratie als Grundlage staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen und Normen verlor dadurch aber keineswegs an Überzeugungskraft. Das Gegenmodell von Demokratie ist die Tyrannis, die einst die Athener im antiken Griechenland mühsam abgeschüttelt hatten, oder, als neuzeitlicher Typus, die Herrschaft absoluter Monarchen, die sich nach Überwindung ständischer Ordnungsmodelle keinen weltlichen Gesetzen unterworfen fühlten: „L’État, c’est moi“ – „Der Staat bin ich“, soll der französische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. gesagt haben. 

Lithographische Darstellung der Paulskirchenversammlung, zahlreiche Abgeordnete sitzen im Rund.

Revolution 1848/49: Lithographie der Eröffnung der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 18. Mai 1848 mit Heinrich von Gagern als Präsident.

akg-images

Die Vertreter der Aufklärung von John Locke und Jean-Jacques Rousseau über Charles de Montesquieu bis hin zu Immanuel Kant stellten diese sakral legitimierte Form von Herrschaft wie auch noch vorhandene ständische Ordnungen unter Berufung auf das Naturrecht radikal infrage. Jeder Mensch und jede Gemeinschaft sei nur den Gesetzen unterworfen, die sie sich selbst auferlegt habe. Jeder Mensch habe zudem angeborene, unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte, die, in einem Grundrechtskatalog festgehalten, „Maßstab und Richtschnur für politisches Handeln und gesellschaftliches Zusammenleben zu sein hätten“ (Manfred Botzenhart). Dementsprechend konnte nur das Prinzip der Volkssouveränität Quelle jeglicher Staatsgewalt sein. Die USUnited States-amerikanische Verfassung von 1787/89 orientierte sich an diesen Grundgedanken und wurde so mit ihrer Begründung – „We, the people“ – und der sorgsamen Errichtung eines Systems von „Checks and Balances“ zum Vorbild vieler nachfolgender Konstitutionen.

Die Paulskirchenverfassung

Schwarz-Weiß-Lithographie der Abgeordneten während der Paulskirchenversammlung 1848.

Versammelt um zu demokratisieren: Die 585 Abgeordneten der Nationalversammlung fanden sich in der Frankfurter Paulskirche zusammen, um eine neue Verfassung zu verabschieden.

bpk/Deutsches Historisches Museum/Sebastian Ahlers

Erst die Revolution vom März 1848 bahnte nach mehreren vergeblichen Versuchen und Jahrzehnten der Unterdrückung im Zeichen der „Restauration“ nach 1815 auch in Deutschland den Weg zu Freiheit und Einheit – so schien es zumindest: Am 18. Mai 1848 zogen 585 frei gewählte Abgeordnete feierlich in die Paulskirche in Frankfurt am Main ein. Bereits am 24. Mai setzten sie einen Verfassungsausschuss ein. Die Euphorie, mit der die Abgeordneten bereits in den ersten Tagen über die Grundrechte berieten, zeigt den Willen, der neuen Ordnung einen demokratischen Grundzug zu geben. Am 21. Dezember 1848, im Vorfeld der abschließenden Beratungen über die Reichsverfassung, verabschiedeten sie ein Reichsgesetz über „die Grundrechte des Deutschen Volkes“. Dieses garantierte, erstmals in der deutschen Geschichte, allen Deutschen Menschen- und Bürgerrechte: die Gleichheit vor dem Gesetz, klassische liberale Freiheitsrechte wie Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Freiheit von Forschung, Lehre sowie des Gewissens und der Religion, Gewerbefreiheit und Freizügigkeit. Die Aufsicht über die Schulen hatte fortan allein der Staat, zu dessen Pflichten deren Errichtung, Aufsicht und die Bezahlung von Lehrern gehörte. Bemerkenswert war auch die Abschaffung entehrender Strafen, vor allem aber der Todesstrafe.

Grundrechtskatalog

Der Grundrechtskatalog garantierte nach den vielen Jahren der Unterdrückung und richterlicher Willkür ausdrücklich auch die Unabhängigkeit der Justiz und die Abschaffung feudaler Rechte wie die Erbuntertänigkeit oder die gutsherrliche Gerichtsbarkeit. Die am 28. März 1849 verkündete Reichsverfassung enthielt weitere wegweisende demokratische Bestimmungen. So war das Wahlrecht für damalige Verhältnisse vorbildlich: Obwohl viele Liberale dieses, zeitgenössischen Vorstellungen folgend, an Besitz knüpfen wollten, gewährte die Verfassung allen Männern über 25 Jahren das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht. Vertreterinnen von Frauenverbänden hatten sich mit ihren Forderungen nach Gleichberechtigung jedoch kein Gehör verschaffen können. 

Allegorische Darstellung der von der Paulskirchenversammlung verkündeten Gesetze

"Die Grundrechte des deutschen Volkes", 27. Dezember 1848: Gesetzestext in allegorischer Rahmung mit der Personifikation der Germania zwischen der Freiheit und der Gleichheit

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Fortschrittlich waren auch die Rechte der Abgeordneten: Sie hatten ein freies Mandat, erhielten Diäten und waren durch Immunität vor Verhaftung, Verfolgung oder Disziplinierung geschützt. Dass die Verfassung „nur“ einen kleindeutschen Nationalstaat in der Form eines Bundesstaats mit einer Erbmonarchie unter preußischer Führung schuf, entsprach nicht nur dem Zeitgeist, sondern war auch das Ergebnis der realen Lage. Eine Republik hatten in einer Zeit, in der die monarchische Staatsform die Regel und ein überlieferter Teil der Lebenswelt der Menschen war, nur wenige gefordert. Die Reichsverfassung entsprach dem Modell der konstitutionellen Monarchie: Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit waren voneinander getrennt. An der Spitze stand der „Kaiser der Deutschen“, so der offizielle Titel. Revolutionär war, dass dieser, dem Prinzip der Volkssouveränität folgend, einen Eid auf die Verfassung zu leisten hatte. Das Zeitalter der überlieferten, sakralen Form der Begründung von Herrschaft, das Gottesgnadentum, das Monarchen eine unanfechtbare Stellung verliehen hatte, war damit vorbei. Soldaten legten künftig einen Eid auf den an die Verfassung gebundenen Kaiser und die Verfassung, Beamte nur auf diese ab. Dies sollte Gewissens- und Loyalitätskonflikte bereits im Ansatz verhindern.

Gewaltenteilung

Der Reichsgewalt, so die offizielle Bezeichnung, mit klassischen Befugnissen im Innern und nach Außen, in Wirtschafts- und Finanzfragen sowie der Verfügungsgewalt über das Militär, stand ein aus zwei Häusern – Staatenhaus und Volkshaus – bestehender Reichstag gegenüber. Das Staatenhaus, in dem nicht nur Vertreter der Regierungen, sondern auch gewählte Abgeordnete aus den Ländern saßen, spiegelte die föderativen Traditionen des Reiches, das Volkshaus den Willen zu einer umfassenden Repräsentation des Volkes wider. Mit seinen Befugnissen bei der Gesetzgebung, insbesondere einem umfassenden Budgetrecht, sowie bei der Kontrolle der Regierung war der Reichstag ein starkes Gegengewicht zur Regierung. Die bereits vorhandenen beziehungsweise noch geplanten Bestimmungen zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, Beschwerden gegen und Anklage von Ministern machten den Übergang vom konstitutionellen zum parlamentarischen System nach englischem Vorbild zu einer Frage der Zeit. 

Hans Hattenhauer, Rechtshistoriker
Aus philosophischen Forderungen waren Rechtssätze geworden, auf deren Verbindlichkeit sich jeder Bürger berufen konnte

Der Kaiser und seine Regierung verfügten zwar über ein suspensives Veto. Ein Notverordnungsrecht, das der Regierung in außerordentlichen Fällen erlaubt hätte, Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, gewährten die Abgeordneten dem „Kaiser“ nicht. Damit wollten sie allen Staatsstreichüberlegungen von vornherein den Boden entziehen. Das Reichsgericht schließlich, die dritte Gewalt, entschied bei Verfassungsstreitigkeiten; es war zuständig im Falle von Ministeranklagen, Hoch- und Landesverrat sowie Klagen gegen den Reichsfikus. Das Bestreben der Parlamentarier, monarchischen Staat auf der einen, Volkssouveränität, Liberalismus und Demokratie auf der anderen Seite in Einklang zu bringen, scheiterte jedoch bereits wenige Tage nach Verkündung der Verfassung. Am 3. April 1849 empfing der preußische König Friedrich Wilhelm IV. zwar die Deputation der Nationalversammlung, die ihm die Kaiserkrone anbot. Der Empfang war höflich, intern machte er aber klar, dass er als „legitimer König von Gottes Gnaden“ gar nicht die Absicht hatte, den mit dem „Ludergeruch der Revolution von 1848“ behafteten „imaginären Reif, aus Dreck und Letten gebacken“, anzunehmen. Gestützt auf die monarchischen Armeen nahm die Gegenrevolution ihren Lauf. Die Reichseinigung von oben in den drei Einigungskriegen zwischen 1864-1871 verwirklichte den Traum der Liberalen nach der Einheit. Obwohl das Bismarck’sche Reich ein Verfassungs- und Rechtsstaat war, war dieses bis zuletzt trotz mancher Fortschritte ein Obrigkeitsstaat. Im Zeichen von Niederlage und Revolution 1918 brach dieser zusammen. Die Reichsleitung und die sie tragenden Eliten hatten sich als nicht reformfähig und reformwillig erwiesen.

1919 – Ein Neuanfang

Die Revolutionäre, die 1918 die Kronen hinwegfegten, hatten nun die Aufgabe, der neuen Ordnung eine Verfassung zu geben. So wie 1848 sollte auch 1919 eine gewählte Nationalversammlung über diese beraten. Grundlage der Beratungen war ein von dem liberalen Staatsrechtler Hugo Preuß vorgelegter Entwurf. Der Verfassungsentwurf lehnte sich an die Paulskirchenverfassung an. Preuß hielt sie für eine „ideale“ Verfassung. Da er überzeugter Anhänger eines „echten“ Parlamentarismus war, sollte nach ihm der Reichstag daher auch das wichtigste Organ sein. Allerdings fürchtete er die „Tyrannei“ der Majorität. Ein starker, plebiszitär legitimierter Reichspräsident erschien ihm in einem ausgewogenen System der „Checks and Balances“ als Gegengewicht unabdingbar. Provisorische Regierung und Nationalversammlung übernahmen diesen Entwurf bis auf eine Ausnahme ohne Änderungen: Preuß’ Vorschlag, die Länder, allen voran das dominierende Preußen, neu zu gliedern und damit die von „dynastischer Machtpolitik, Erbfolge und Zufälligkeiten bestimmten Strukturen der deutschen Staatenwelt“ (Manfred Botzenhart) grundlegend zu ändern, fand selbst bei überzeugten Revolutionären keine Zustimmung. Sie fühlten sich zwar als Deutsche, aber zugleich auch als Preußen, Bayern oder Sachsen. Reichstag und Reichspräsident wurden die wichtigsten Organe. 

Reichspräsident Friedrich Ebert grüßt eine Menschenmenge von einem Balkon auf dem weitere Personen stehen

Chance für die Demokratie: Reichspräsident Friedrich Ebert verkündet die neue Verfassung des Deutschen Reiches in Weimar, August 1919.

Bundesarchiv Bild Y 1-542-17402 (Robert Sennecke)

Der Reichspräsident, vom Volk auf sieben Jahre direkt gewählt, ernannte und entließ die Reichsregierung, die ihrerseits eine Mehrheit im Reichstag benötigte. Mit einer Zweidrittelmehrheit konnte dieser auch den Reichspräsidenten vor dem Staatsgerichtshof anklagen oder mithilfe eines Volksentscheides absetzen. Diese Sicherungen sollten verhindern, dass der Reichspräsident seine sehr weitgehenden Rechte – Oberbefehl über die Streitkräfte, Auflösung des Reichstags oder Erklärung des Notstands bei gleichzeitiger Einschränkung von Grundrechten – missbrauchte.

Der Reichspräsident als Risiko

Preuß’ Hoffnung, so ein ausbalanciertes System zu schaffen, drohte jedoch dann zu scheitern, wenn der Reichspräsident seine Machtfülle missbrauchte, um die Verfassung zu untergraben und es im Reichstag keine Mehrheit gab, die ihm widersprach. Der Notverordnungsartikel erwies sich als Hebel zur Zerstörung der Republik. Diejenigen, die bereits 1919 davon abrieten, einem „Ersatzmonarchen“ dieses für die Republik im Zweifel tödliche Schwert in die Hand zu geben, fanden kein Gehör. Dass sich diese Warnungen ein Jahrzehnt später als zutreffend erweisen sollten, gehört zu den bitteren Ironien der deutschen Geschichte. Über den Reichsrat wirkten die Länder an der Gesetzgebung mit. Ihre Stellung war jedoch schwächer als in der Bismarck’schen Verfassung, als der Bundesrat nicht nur föderatives Organ, sondern auch Teil der Exekutive war. Jenseits dieser „klassischen“ Konstruktionselemente enthielt die Verfassung viele Bestimmungen, die Lehren aus der Geschichte waren und zugleich Grundlagen für den Auf- und Ausbau eines demokratischen Staatswesens sein sollten: Neu und im europäischen Maßstab revolutionär war die Verankerung des bereits während der Revolution eingeführten Frauenwahlrechts. 

Lange Schlange von Wartenden, unter ihnen erstmals auch Frauen, stehen vor einem Wahllokal in Berlin im Januar 1919.

Revolutionär: Am 19. Januar 1919 durften bei den Wahlen zur Nationalversammlung erstmals auch Frauen wählen und gewählt werden. Dies führte zu einem hohen Andrang wie hier vor einem Berliner Wahllokal.

ullstein bild/Gircke

Ebenfalls neu war das Verhältniswahlrecht. Dieses sollte, anders als das bisherige Mehrheitswahlrecht dies getan hatte, den wirklichen Willen der Wählerinnen und Wähler widerspiegeln. Die gleichzeitige Absenkung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre war ebenfalls Ausdruck des Willens, den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess durch die größtmögliche Beteiligung von Wählerinnen und Wählern zu verbreitern und zu vertiefen. Konsequent und ebenfalls neu war, dass die Verfassung alle Länder verpflichtete, „freistaatliche“ Verfassungen mit parlamentarischem System und einer Volksvertretung einzuführen, die nach den Bestimmungen des Reichstagswahlrecht gewählt wurde. Dies sollte unterschiedliche, teils völlig rückständige Verfassungen und Wahlrechte verhindern, die, wie die preußische Verfassung mit ihrem Dreiklassenwahlrecht, Bollwerke gegen die Demokratie gewesen waren. Damit verschwanden auch alle ständischen oder großbürgerlich geprägten Ersten Kammern, die die gewählten Abgeordneten hatten in Schach halten sollen.

Sozialistische Erweiterung

So wie bereits die Paulskirchenverfassung, nicht aber die Bismarck’sche Reichsverfassung, enthielt die Weimarer Verfassung auch einen Grundrechtskatalog. Dieser ging über die Gewährung liberaler Freiheitsrechte jedoch weit hinaus. Auch Ehe und Familie, das Bildungswesen und die Religionsgemeinschaften standen nun unter dem Schutz des Staates. Ein Zugeständnis an die überlieferten Programme der sozialistischen Parteien und deren Forderungen während der Revolution waren die Artikel über das „,Wirtschaftsleben“. Sie versprachen die „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“. Enteignungen auch ohne Entschädigung sowie die Vergesellschaftung von Unternehmen waren möglich. Die Verfassung gewährleistete ebenfalls die Rechte von Arbeitenden und Gewerkschaften sowie den Schutz des Mittelstandes in Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe. Der Rätegedanke spiegelte sich in Artikel 165. Arbeiter und Angestellte sollten gleichberechtigt bei der Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen und der Entwicklung der produktiven Kräfte mitwirken und ihre Interessen in Betriebs-, Bezirks- und Reichsarbeiterräte vertreten können. Ein „Reichswirtschaftsrat“ war bei der Vorbereitung von sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetzentwürfen zu beteiligen. Mit diesem Artikel wollte die Reichsverfassung den Aufbau eines sozialistischen Staates ermöglichen, vorausgesetzt es gab dafür eine Mehrheit. Ein Staatsgerichtshof entschied über Verfassungskonflikte in den Ländern. Vor ihm konnten aber auch Reichspräsident und Reichskanzler sowie einzelne Minister wegen Verletzung der Verfassung angeklagt werden. Diese Sicherung funktionierte 1933 jedoch nicht.

Zerstörung der Demokratie

Portrait von Paul von Hindenburg

Reichspräsident als Risiko: Reichspräsident Paul von Hindenburg trug maßgeblich zur Zerstörung der Weimarer Republik bei, indem er die Verfassung aushöhlte und schließlich Adolf Hitler an die Macht half.

Bundesarchiv Bild 183-U0618-0500

Nach Jahren der Präsidialkabinette, in denen Reichspräsident Paul von Hindenburg die ihm zustehenden Notstandsbefugnisse nicht zum Schutz, sondern zur Aushöhlung der Verfassung missbraucht hatte, übertrug dieser am 30. Januar dem endgültigen Zerstörer der Republik die Macht: Adolf Hitler. Hindenburg und die hinter ihm stehenden Kräfte, die eine andere Republik wollten, und nicht, wie früher und manchmal auch heute noch behauptet, die untereinander zerstrittenen Parteien, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise oder die unbestrittenen Auswirkungen des Versailler Vertrages waren maßgeblich für die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie verantwortlich. Erst der dritte Anlauf nach 1849 und 1919, der Demokratie und deren Werten in Deutschland dauerhaft zum Durchbruch zu verhelfen, war erfolgreich, wenngleich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Was für den westlichen Teil, die Bundesrepublik Deutschland, galt, blieb im östlichen, trotz des programmatischen Namens „Deutsche Demokratische Republik“, eine leere Hülse.

Das Grundgesetz von 1949

Im Gegensatz zu 1848/49 und 1919 war die neue demokratische Ordnung jedoch nicht das Ergebnis einer revolutionären Massenbewegung, sondern das Resultat von Entwicklungen am Ende eines verbrecherischen Krieges und des Willens der Alliierten, wenigstens den westlichen Teil Deutschlands zu einem Teil der europäischen und transatlantischen Wertegemeinschaft zu machen. Zwischen September 1948 und dem symbolträchtigen 8. Mai 1949, dem vierten Jahrestag der Kapitulation, berieten die Angehörigen des Parlamentarischen Rates über das „Grundgesetz“. Dieser Begriff sollte die „deutsche Frage“ offenhalten und dadurch eine Wiedervereinigung mit einer dann gesamtdeutschen Verfassung möglich machen. 

Faksimile des Grundgesetzes der Budnesrepublik Deutschland. Die Signaturen der Unterzeichner sind herangezoomt.

Sieg der Demokratie: Faksimile des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949, unterzeichnet von Konrad Adenauer (CDUChristlich Demokratische Union), Präsident des Parlamentarischen Rates, und seinen Vizepräsidenten Adolph Schönfelder (SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands) und Hermann Schäfer (FDPFreie Demokratische Partei).

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Das Ergebnis war auch im internationalen Vergleich ein großer Wurf: Nur so ist zu erklären, dass das Grundgesetz trotz vielfacher Herausforderungen im Innern und von außen bis heute im Kern unverändert geblieben ist. Der von der Mehrheit der DDRDeutsche Demokratische Republik-Abgeordneten 1990 befürwortete Beitritt zum Grundgesetz verlief dann auch reibungslos. Verantwortlich für diese Erfolgsgeschichte ist vor allem der Wille, aus der Geschichte zu lernen. Dies zeigt bereits der knappe, aber programmatische Katalog der Grundrechte, der bewusst am Anfang steht. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1. Damit bekennt sich das Grundgesetz ausdrücklich zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“, als Voraussetzung jedweder Staatsgewalt. Die weiteren Artikel garantieren nicht nur die klassischen Freiheitsrechte, sondern verbieten auch jede Form der Diskriminierung auf Grund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft oder religiöser und politischer Anschauungen. Obwohl die Aufstellung neuer Streitkräfte noch in weiter Ferne lag, gewährte das Grundgesetz bereits jetzt aus den Erfahrungen eines verbrecherischen Krieges heraus allen das Recht, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. Neu war zudem das Recht auf Asyl und die Abschaffung der Todesstrafe. Der Grundrechtskatalog enthielt zwar eine Garantie des Eigentums, erlaubte aber zugleich auch die Überführung von „Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n] zum Zwecke der Vergesellschaftung [...] in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft“ ohne Entschädigung.

Lehren aus der Geschichte

Zu den Lehren aus der Weimarer Republik gehörte auch der Wille, bereits im Grundgesetz den Gedanken der „kämpferischen Demokratie“ zu verankern. Wer Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche Grundordnung“ missbrauche, verwirke diese. Damit einher ging die Möglichkeit des Verbots aller Vereinigungen gegen die verfassungsrechtliche Ordnung. Die Notstandsgesetzgebung von 1968 verankerte zusätzlich sogar ein Recht auf Widerstand gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen. In diesen Kontext gehört auch die Anerkennung von Parteien als wesentlicher Teil des politischen Willensbildungsprozesses, aber auch deren Verpflichtung auf Anerkennung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. „Weimarer Verhältnisse“, in denen Parteien aus dem Parlament heraus die bestehende Ordnung bekämpften, sollte es nie wieder geben (Artikel 21). Neu waren auch die Möglichkeit, durch Gesetz Rechte an supranationale Organisationen zu übertragen (Artikel 24), die Tatsache, dass die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ unmittelbar geltende Rechte und Pflichten für alle Bewohner des Bundesgebietes begründeten (Artikel 25) sowie das historisch beispiellose Verbot aller „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“ (Artikel 26). 

Demonstrierende Menschen, die Schilder hochhalten, die demokratische Werte, wie die Menschenwürde, betonen

"Die Würde des Menschen ist unantastbar". Demonstration gegen Rechtsextremismus, Koblenz, 20. Januar 2024.

picture alliance/dpa

Eine weitere Lehre aus dem Schicksal der Weimarer Republik war Artikel 79, Absatz 3: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig“, heißt es darin. Der Wille, aus Weimar zu lernen, hatte auch zur Folge, dass der Bundespräsident nur noch eine repräsentative Rolle hat. Das Zentrum der Macht ist der Bundestag, in dem die Mehrheit den Kanzler wählt. Dessen Sturz ist nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum möglich. Der Bundesrat ist stärker als der Reichsrat zu Weimarer Zeiten. Das Bundesverfassungsgericht achtet auf die Einhaltung der Verfassung. Und die Verfassung des anderen 1949 gegründeten Teilstaats, der Deutschen Demokratischen Republik? Anspruch und Realität der Verfassung gingen weit auseinander. Fehlende Gewaltenteilung, die nur mühsam bemäntelte Diktatur der „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands), ein bewusst nicht garantiertes „freies“ Wahlrecht sowie der Bau der Mauer mit einhergehendem Befehl, auf alle zu schießen, die ihr Menschenrecht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen wollten, sind Beispiele für einen weiteren Irrweg in der deutschen Geschichte. 1989, 140 Jahre nach dem gescheiterten ersten Versuch, Deutschland zu einem freiheitlichen Nationalstaat zu machen, erhoben sich die Bürgerinnen und Bürger der DDRDeutsche Demokratische Republik und machten dieser Republik, die ihren „Beinamen“ „Demokratisch“ zu Unrecht trug, in einer friedlichen Revolution ein Ende.

Demokratie wertschätzen und verteidigen

Der deutsche Weg zu einer lebendigen und wirklichen Demokratie in den vergangenen 175 Jahren war voller Um- und Irrwege. Er kostete Millionen Menschen im Zuge von Raub- und Vernichtungskrieg das Leben. Im Zeichen eines neuen Populismus, der skrupellos viele Errungenschaften und Grundwerte infrage stellt, gilt es mehr denn je, an das zu erinnern, was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 75. Jahrestag der ersten Beratungen über das Grundgesetz vor wenigen Monaten allen Deutschen ins Stammbuch geschrieben hat: „Politisch müssen wir uns immer im Klaren sein: Unsere Verfassung verliert ihre Gültigkeit an dem Tag, an dem sie uns gleichgültig wird. Wir Bürgerinnen und Bürger leben und schützen, verwirklichen und entfalten sie. Wenn wir das tun, bleibt unsere Verfassung spürbar und stark, und unsere Demokratie wird leben.“

von Michael Epkenhans

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