Die Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa
Die Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa
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Am 20. August 1987 gab der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Hans Henning von Sandrart, die Leitlinie für die operative Führung von Landstreitkräften in Mitteleuropa heraus. Damit verfolgte er die Absicht, dem operativen Denken in der Bundeswehr wieder einen höheren Stellenwert zu verschaffen.
Im Mittelpunkt allen operativen Denkens hatte immer das Ziel gestanden, durch überlegenes Führungskönnen einen an Truppenstärke überlegenen Gegner zügig auszumanövrieren, um einen langen Abnutzungskrieg zu vermeiden. Es hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die prominente Rolle, die es seit dem 19. Jahrhundert im preußischen und deutschen Militär gespielt hatte, eingebüßt. Mit dem Aufkommen von Atomwaffen, deren sofortigen umfangreichen Einsatz im Verteidigungsfall die NATO in ihrer Strategie der „massive retaliation“ („massive Vergeltung“) lange einkalkulierte, schien sich operatives Denken erledigt zu haben.
Kernwaffen sind nicht mehr erste Wahl
Seit den 1970er Jahren hatte sich in den USAUnited States of America mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, Kernwaffen seien in erster Linie Bestandteil des politisch-strategischen Instrumentenkastens. Man sah ihren Wert im Beitrag zur Vermeidung der Eskalation etwaiger Konflikte. Als erste Wahl zum Einsatz auf dem Gefechtsfeld betrachtete man sie nicht mehr, nachdem die „flexible response“ („flexible Erwiderung“) die „massive retaliation“ als Bündnisstrategie abgelöst hatte. Diesen Vorgang hatte von Sandrart als Oberst und Referent für nukleare Grundsatzfragen im Brüsseler NATO-Hauptquartier eng begleitet.
Im weiteren Verlauf wirkte sich dies in einer Bestandsreduktion der Kernwaffenarsenale aus. Auf Seite 31 der Leitlinie lesen wir: „Die sich abzeichnende Verminderung der Bedeutung von nuklearen und chemischen Waffen für die Kriegführung weist in Zukunft den konventionellen Kräften eine noch wichtigere Rolle zu. Mit ihr erhöht sich die Notwendigkeit erfolgreicher operativer Führung“. Dieser Passus nimmt auf die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen Bezug, die noch im selben Jahr zum Abschluss des INFIntermediate Range Nuclear Forces-Vertrags über die Beseitigung von bodengestützten Nuklearraketen mit mittlerer Reichweite führten.
Dieser Vertrag ist zwar mittlerweile obsolet, und die großen Unterschiede zwischen der militärischen Lage im europäischen Teil der NATO 1987 und 2024 springen ins Auge. General von Sandrart konnte noch mit Korps als operativen Führungseinheiten kalkulieren. Ob derzeit die auf Seite 8 der Leitlinie als Voraussetzung für strategischen Erfolg der NATO bezeichnete Präsenz von „bedrohungsgerecht ausgerüstete[n] […] Streitkräfte[n] in ausreichender Zahl“ gegeben ist, scheint fraglich.
Schöpferisches Denken und geistige Beweglichkeit
Umso mehr erscheint das auf zahlenmäßig überlegene potentielle Gegner ausgerichtete operative Denken wieder an Interesse zu gewinnen, zeigt doch die Gegenwart, dass jahrelanger rein konventionell geführter Krieg zwischen großen europäischen Staaten – leider – wieder möglich ist. General von Sandrarts Leitlinie betont mit „schöpferische[m] Denken und geistige[r] Beweglichkeit“ (S. 13) sowie insbesondere mit dem „Führen mit Auftrag“ (S. 10 f.) Aspekte des operativen Denkens, die auch heute noch relevant sind. Insofern läge es nahe, die Leitlinie fruchtbar zu machen für vergleichbare Dokumente zur heutigen Bedrohungslage.
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Historisches Dokument - Originale aus dem Archiv
Die abgebildeten historischen Dokumente sind Kopien von Originalen aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv.