Militärische Operationen in Afghanistan. Zwischen Stabilisierung, Aufstands- und Terrorismusbekämpfung
Militärische Operationen in Afghanistan. Zwischen Stabilisierung, Aufstands- und Terrorismusbekämpfung
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- Afghanistan
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Was war der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr? Diente er in erster Linie einer Stabilisierung und zivilen Befriedung oder war er doch ein robuster militärischer Einsatz? Auch die politischen Handlungsträger waren sich darüber nicht immer einig, wie Philipp Münch in seinem Beitrag zeigt.
Beim Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan standen zumeist deren zivile Aktivitäten wie Aufbauprojekte im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Tatsächlich war der Auslandseinsatz aber im Kern darauf ausgerichtet, militärische Operationen auszuführen. Hierbei unterschieden die Verantwortlichen für das internationale militärische Engagement meist drei Operationsarten: solche zur counter-terrorism (CT, Terrorismusbekämpfung) auf der einen und Operationen zur „Stabilisierung“ des Landes beziehungsweise zur counterinsurgency (COIN, Aufstandsbekämpfung) auf der anderen Seite. In der Realität waren die Operationsarten schwierig zu unterscheiden, da es nie eine übergreifend geteilte Terrorismusdefinition gab. Die Ursache lag darin, dass Terrorismus eher eine Taktik ist und an sich keine Ideologie oder konkret abgrenzbare Gruppe bezeichnet. In der Unterscheidung zwischen CT, Stabilisierung und COIN spiegelte sich zudem die oftmals widersprüchliche bis konfuse und über die Zeit mehrfach veränderte strategische Ausrichtung des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan wider.
Terrorismusbekämpfung in Afghanistan
So bestand das ursprüngliche Ziel darin, die Verantwortlichen für die Terroranschläge in den USAUnited States of America vom 11. September 2001 zur Rechenschaft zu ziehen. Es handelte sich in erster Linie um die Angehörigen der Organisation al-Qaida, die sich mehrheitlich in Afghanistan versteckten. CT-Operationen der USUnited States-geführten Operation „Enduring Freedom“ (OEFOperation Enduring Freedom) sollten sie weltweit, zuerst aber in dem zentralasiatischen Land bekämpfen. Am 7. Oktober 2001 begann die Intervention. Die CT-Operationen zielten also darauf, Einzelpersonen, die in westlichen Ländern Anschläge verübt oder ermöglicht hatten und dies möglicherweise erneut tun konnten, gefangen zu nehmen oder zu töten. Hieran war auch die Bundeswehr in Afghanistan mit dem Kommando Spezialkräfte (KSKKommando Spezialkräfte) vor allem im Jahr 2002 beteiligt. Ein Untersuchungsausschuss zeigte allerdings, dass sich das KSKKommando Spezialkräfte in der Zeit nicht im Schwerpunkt der Operationen befand. Es führte eher Operationen zur Aufklärung, Sicherung von Objekten und sogar Bewachung von Gefangenen aus und hatte keine Feuergefechte.
Mit der Jagd auf die Urheber der „9/11“-Anschläge war aber von Anfang an auch der Kampf gegen die Taliban verknüpft, da diese zahlreichen verantwortlichen Akteuren Unterschlupf gewährt hatten. Hintergrund war die Politik der USUnited States-Regierung nach dem 11. September 2001, nicht nur die unmittelbar für Anschläge Verantwortlichen zu verfolgen, sondern ebenso ihre „Gaststaaten“ zur Rechenschaft zu ziehen. In Afghanistan brach die Taliban-Herrschaft allerdings schon Ende 2001 unter der Offensive der von OEFOperation Enduring Freedom- und CIA-Kräften unterstützten lokalen Opposition zusammen. Hiernach verbreitete sich gleichwohl unter den Intervenienten die Annahme, dass Afghanistan militärisch, politisch und ökonomisch „stabilisiert“ werden müsste. Andernfalls würde eine „Terrorgruppe“ dort möglicherweise erneut Zuflucht finden können.
Stabilisierung Afghanistans
Für die „Stabilisierung“ Afghanistans sollte zuvorderst die anfangs multilaterale, ab 2003 NATO-geführte International Security Assistance Force (ISAFInternational Security Assistance Force) zuständig sein. Sie sollte bis zur NATO-Übernahme nur in Kabul und Umgebung die mit dem Bonner Afghanistan-Abkommen eingesetzte Übergangsverwaltung absichern helfen. Operative Aufgaben bestanden insbesondere darin, Einrichtungen zu schützen, Sprengkörper zu entschärfen, Waffenlager auszuheben, den Entwaffnungsprozess zu unterstützen und meist gemeinsam mit der afghanischen Polizei zu patrouillieren.
Auch die Bundeswehr beteiligte sich ab Januar 2002 mit einem großen Kontingent von zunächst 1200 Soldatinnen und Soldaten an der ISAFInternational Security Assistance Force. Um politische Unterstützung für eine deutsche Teilnahme zu gewinnen, hatte die Bundesregierung zuvor den Charakter des ISAFInternational Security Assistance Force-Einsatzes als „Friedensmission“ betont und verneint, dass es sich bei Afghanistan um ein Kriegsgebiet handeln würde. Dennoch führte die Bundeswehr auch die allgemeinen militärischen ISAFInternational Security Assistance Force-Operationen aus. In der Außendarstellung betonte sie allerdings eher ihre vereinzelten Aufbauprojekte.
Für die kommenden Jahre bewegte sich die Bundeswehr in Afghanistan weiter in dem Spannungsfeld zwischen politisch gewollter friedlicher Lagebewertung und tatsächlichen militärischen Erfordernissen in einem Kriegsgebiet. Denn ab den Jahren 2002/2003 konnten sich die Taliban spürbar wieder sammeln und in ihren pakistanischen Rückzugsgebieten reorganisieren. Sie nahmen den Kampf gegen die neue afghanische Regierung auf. Dies tat auch die vom Bonner Abkommen ausgeschlossene Hezb-e Islami-ye Afghanistan. Folge hiervon war unter anderem ein besonders schwerer Anschlag, der am 6. Juni 2003 vier Soldaten der Bundeswehr in Kabul tötete und 31 verwundete.
Der strategische ISAFInternational Security Assistance Force-Operationsplan
Im Jahr 2003 beschlossen die NATO-Mitgliedsstaaten, die nun vom Bündnis geführte ISAFInternational Security Assistance Force auf das gesamte Land auszuweiten. Damit erhöhten sich die militärischen Herausforderungen für die Truppe. Sie sollte mittels Provincial Reconstruction Team (PRTProvincial Reconstruction Team) genannter Stützpunkte bis Ende 2006 das gesamte Land abdecken. Die multi-nationalen PRTProvincial Reconstruction Team hatten zivil-militärische Aufgaben. Dementsprechend umfassten sie überwiegend Militärangehörige, aber auch solche der diplomatischen Dienste und Entwicklungsorganisationen der ISAFInternational Security Assistance Force-Truppensteller. Der 2005 erlassene strategische ISAFInternational Security Assistance Force-Operationsplan sah nach der Ausdehnung der Mission ins gesamte Land eine Phase zur „Stabilisierung“ Afghanistans vor, für welche die Truppe verantwortlich sei. Nach ihrem Abschluss sollte sie in einer „Transitionsphase“ die Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben, bevor sie das Land verlässt. In der Stabilisierungsphase sah der Operationsplan sowohl „Stabilisierungs“- (stability operations) wie auch „Sicherheitsoperationen“ (security operations) vor.
Stabilisierungsoperationen sollten dem Operationsplan nach Präsenz und Engagement zeigen, um die Aktivitäten der PRTs zu ermöglichen, ohne dass dies näher bestimmt wurde. Eindeutig stand hierbei nicht die Gewaltanwendung im Vordergrund. Bei Sicherheitsoperationen war dies hingegen andersherum. Sie sollten „robust“ vorgehen und „pro-aktive Truppenbewegungen zu Land und in der Luft“ einschließen. Die deutsche politische Leitung zog eindeutig vor, dass die Bundeswehr als Teil der ISAFInternational Security Assistance Force zuvorderst Stabilisierungsoperationen durchführen sollte. Denn dies entsprach ihrer Außendarstellung, dass es sich in Afghanistan um eine „Friedensmission“ handele. Um die Bundeswehr von intensiven Kämpfen fern zu halten, erklärte die deutsche politische Leitung – wie die anderer Nationen auch –, welche Teile des strategischen ISAFInternational Security Assistance Force-Operationsplans für ihr Kontingent nicht galten („caveats“). Sie bestimmte daher, dass die Bundeswehr dauerhaft nur im Norden Afghanistans eingesetzt werden würde. Hintergrund war, dass im ehemaligen Kernland der Taliban, im Süden, die heftigsten Kämpfe zu erwarten waren und auch stattfanden. Zudem sollten jene ISAFInternational Security Assistance Force-Einsatzregeln (rules of engagement) für sie nicht gelten, die militärische Gewalt bereits deutlich vor einem gegnerischen Angriff zuließen. Schließlich sollte sich die Bundeswehr nicht aktiv an der Drogenbekämpfung beteiligen. Denn hier war Widerstand von den afghanischen Bevölkerungsteilen absehbar, die von Drogenproduktion und -handel lebten.
Militärische Operationen der deutschen PRTs
Deutschland übernahm ab Ende 2003 beziehungsweise Juli 2004 die Führung von zwei PRTs in den beiden nordöstlichen Provinzen Kunduz und Badakhshan. Anfangs befanden sie sich innerhalb der Hauptstädte der beiden Provinzen. Die PRTProvincial Reconstruction Team zogen im Fall von Badakhshan 2005 und Kunduz 2006 in nach deutschen Bauvorschriften am Rand der Städte neuerrichtete Feldlager. Der Großteil der militärischen PRTProvincial Reconstruction Team-Angehörigen sorgte dafür, die aufwändige Infrastruktur am Laufen zu halten. Nur bis zu rund 20 Prozent verließen regelmäßig das PRTProvincial Reconstruction Team und standen somit bereit, um militärische Operationen auszuführen.
Zur wichtigsten militärischen Operationsart zählten Patrouillen durch den Verantwortungsbereich der PRTProvincial Reconstruction Team. Sie sollten zuvorderst dazu dienen, Präsenz im Raum zu zeigen und dadurch Sicherheit erzeugen. Daneben dienten sie auch dazu, Informationen aus der Bevölkerung zu sammeln und Kontakt zu offiziellen und inoffiziellen Führern zu halten. Ebenso unterstützten die PRTProvincial Reconstruction Team-Kräfte die Entwaffnung nicht-staatlicher Gruppen. Aktiv, ohne Führung der afghanischen Sicherheitskräfte, gegen Verbrecher oder Aufständische vorzugehen, galt als nicht vereinbar mit dem Mandat und den Einsatzregeln.
Die Bundeswehr geriet allerdings immer stärker selbst in das Fadenkreuz der Aufständischen, die vereinzelt Raketen auf die PRTProvincial Reconstruction Team feuerten oder Sprengsätze neben beziehungsweise unter Fahrzeugen detonierten. Im Juni 2006 erfolgte der erste komplexe Angriff auf eine Patrouille des PRTProvincial Reconstruction Team Kunduz. Das heißt Aufständische versuchten nicht nur, eine Patrouille „anzusprengen“, sondern in einem längeren Hinterhalt zu vernichten. Im Folgejahr tötete ein Anschlag vier Bundeswehr-Angehörige in Kunduz-Stadt. Raketenangriffe auf beide PRTProvincial Reconstruction Team häuften sich.
Anwendung von Counterinsurgency auf Afghanistan
Bis zum Jahr 2006 hatten es die Taliban geschafft, sich in anderen Teilen Afghanistans bemerkbar zu machen. So begannen sie im Sommer erstmals eine Großoffensive, die darauf zielte, ganze Landstriche im Süden unter ihre Kontrolle zu bringen. Die dort eingesetzten ISAFInternational Security Assistance Force- und OEFOperation Enduring Freedom-Kräfte konnten die Aufständischen nur mit Mühe zurückschlagen. Mit Verweis auf ihre Vorbehalte gegen den ISAFInternational Security Assistance Force-Operationsplan und auf die Sicherheit des Nordens lehnte die Bundesregierung – wie auch andere außerhalb des Südens eingesetzte Nationen – es ab, die dortigen Kräfte zu verstärken.
Bereits im Jahr 2003 hatten die unter OEFOperation Enduring Freedom-Mandat operierenden USUnited States-Streitkräfte in Afghanistan begonnen, ihre Operationen unter der Bezeichnung Counterinsurgency (COIN) zu führen. Zur gleichen Zeit begannen Kreise in der USUnited States Army, dieses zuletzt während des Vietnam-Kriegs praktizierte Konzept wiederzubeleben. Anders als oft geschrieben, war COIN keine Strategie, sondern eine Ansammlung von Taktiken, um Aufständische zu besiegen.
Die Kernannahme von COIN bestand dabei darin, dass zuvorderst die Unterstützung der örtlichen Bevölkerung zu gewinnen war. Denn diese gäbe den Ausschlag in innerstaatlichen Kriegen. „Counterinsurgents“ sollten dazu militärische Maßnahmen gegen die Aufständischen mit zivilen zugunsten der Bevölkerung verknüpfen. Anders als selbst in westlichen Aufstandsbekämpfungen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel in Algerien, Kenia oder Britisch Malaya sollten nicht Repressalien, sondern positive Anreize das Verhalten der Nicht-Kombattanten beeinflussen.
Bereits 2006 beeinflussten COIN-Konzepte inoffiziell die operativen Planungen der ISAFInternational Security Assistance Force. Im Jahr 2008 fanden COIN-Begrifflichkeiten unter ISAFInternational Security Assistance Force-Kommandeur General David McKiernan formal Eingang in den Operationsplan der seit dem Vorjahr USUnited States-geführten Mission. Parallel ging die ISAFInternational Security Assistance Force öfter gezielt gegen einzelne Schlüsselpersonen der Aufständischen vor, die sie durch den Einsatz von Luftfahrzeugen, einschließlich Drohnen, tötete oder bei Zugriffen von Spezialkräften gefangen nahm (targeting, Zielwesen). ISAFInternational Security Assistance Force-Kommandeur General Stanley McChrystal rückte ab 2009 COIN öffentlichkeitswirksam in den Vordergrund, zugleich intensivierte er das Zielwesen.
Deutsche Offensivoperationen
Inhaltlich unterschieden sich die im Rahmen von COIN- und Stabilisierungskonzepten angewandten Taktiken kaum voneinander, da beide zivile und militärische Mittel miteinander kombinieren wollten. Da COIN jedoch eine aggressivere Rhetorik verwendete, lehnte die deutsche politische Führung den Begriff ab. Sie hielt bis 2010 weiterhin daran fest, dass es sich in Afghanistan nicht um einen Krieg handelte, sondern um eine Friedensmission.
Deutsche militärische Führer in Afghanistan bezogen sich dagegen immer häufiger auf COIN und die zugehörigen Offensivoperationen. Denn sie sahen keine andere Möglichkeit, um die immer stärkeren Angriffe von Aufständischen zu vermindern. Im Herbst 2007 führte Brigadegeneral Dieter Warnecke, Kommandeur des Regional Command North, die multi-nationale Operation „Harekate Yolo II“, um die Taliban am westlichen Rand seines Verantwortungsbereichs zurückzudrängen. Im gleichen Jahr stellte die Bundeswehr als Beitrag zum Zielwesen der ISAFInternational Security Assistance Force mit dem Bundesnachrichtendienst (BNDBundesnachrichtendienst) die „Task Force 47“ auf. Der politischen Linie entsprechend, empfahl Deutschland hierbei allerdings im Gegensatz etwa zu den USAUnited States of America, Personen nur gefangen zu nehmen, nicht sie zu töten.
Den immer intensiveren Angriffen der Aufständischen vor allem in Kunduz wichen die deutschen Kräfte ab 2009 zunehmend nicht mehr aus, wie es die Einsatzgrundsätze bisher vorgesehen hatten. Stattdessen nahmen sie ab dieser Zeit den Kampf immer häufiger an, um die Urheber der Hinterhalte zu schlagen. Als Instrument stand hierfür seit 2008 insbesondere die von der Bundeswehr für den Norden gestellte schnelle Eingreiftruppe (Quick Reaction Force, QRF) bereit. In Kunduz besetzte die Bundeswehr 2009 zudem mehrere kleinere Außenposten, um – dem COIN-Gedanken entsprechend – näher an der Bevölkerung zu sein. Nach „Harekate Yolo II“ führten deutsche Truppenführer immer häufiger Großoperationen – meist zusammen mit den afghanischen Sicherheitskräften – aus. Vorerst die größte Operation war „Oqab“ (Adler) in Kunduz im Sommer 2009. Höhepunkt dieser Entwicklung war Operation „Halmazag“ (Blitz) im November 2010. Hier nahmen deutsche, belgische, USUnited States-amerikanische und afghanische Kräfte in Bataillonsstärke mit USUnited States-Luftunterstützung eine Ortschaft in Kunduz. In der Zeit begannen ebenfalls KSKKommando Spezialkräfte und deutsche spezialisierte Kräfte, sich an in der Regel USUnited States-geführten ISAFInternational Security Assistance Force-Operationen gegen Einzelpersonen zu beteiligen.
Resultate deutscher militärischer Operationen
Hinter den deutschen Großoperationen stand die Annahme, mit schnellen, kurzfristig konzentrierten Kräften Aufständische örtlich begrenzt umfassen und im Sinne einer Entscheidungsschlacht schlagen zu können. Dem entsprachen zunehmend auch Ausrüstung und Gliederung der Truppe in Afghanistan. So gliederte sich im Jahr 2010 die QRF zu den Ausbildungs- und Schutzbataillonen (ASB) um. Wie teilweise bereits die QRF waren sie unter anderem mit Schützenpanzern „Marder“ – die sie aber eher als Infanteriepanzer einsetzten –, der Panzerhaubitze 2000 und den ebenfalls mechanisierten Pionierfahrzeugen ausgestattet.
All dies verweist auf die Wirkmächtigkeit der bis in das 19. Jahrhundert zurückreichenden historischen Wurzeln des operativen Denkens im deutschen Heer. So erschienen die ASB als Miniaturversion der zum „Gefecht der verbundenen Waffen“ befähigten mechanisierten deutschen Heeres-Brigaden. Operatives Denken und Ausrüstung waren somit eher auf die Bedingungen des hochintensiven zwischenstaatlichen Krieges ausgerichtet, auf den sich die Bundeswehr im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung jahrzehntelang vorbereitet hatte.
Damit blieb der abweichende Charakter des innerstaatlichen Kriegs in Afghanistan unberücksichtigt. Dementsprechend wenig erfolgreich waren die Großoperationen. Denn die Aufständischen waren in der Regel über die aufwändig geplanten Operationen informiert. Äußerlich meist nicht zu identifizieren, konnten sie sich diesen entziehen. Stattdessen bestimmten sie Zeitpunkt und Ort der Auseinandersetzung. Die intensivsten Kampfhandlungen entwickelten sich daher für die Bundeswehr aus eher unvorhergesehenen Lageentwicklungen. Hierzu zählte vor allem das Gefecht am Karfreitag 2010, das sich aus einer Minenräumung in Kunduz entspann und die Leben von vier deutschen Soldaten forderte. Ebenso ist das Gefecht von Shahabuddin in der benachbarten Provinz Baghlan im September 2010 zu nennen. Hier entschied die Führung eines ASB kurzfristig, einen von den Taliban genommenen Ort zurückzuerobern.
Das Ende militärischer Operationen in Afghanistan
Auf Initiative und Druck der USAUnited States of America vereinbarten die afghanische Regierung und die NATO im November 2010 eine schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung (Transition) von der ISAFInternational Security Assistance Force an die afghanischen Sicherheitskräfte. In dieser Zeit – Juli 2011 bis Ende 2014 – endeten die deutschen Operationen in Afghanistan größtenteils. Meilensteine waren hierbei die Übergabe der beiden PRTs im Oktober 2012 und Oktober 2013. Die ersten drei Jahre der Transitionszeit prägte eine vergleichsweise ruhige Sicherheitslage in Nordost-Afghanistan.
Dies dürfte zum einen auf die gezielten Operationen von ISAFInternational Security Assistance Force und OEFOperation Enduring Freedom zurückzuführen sein, die viele Kommandeure der Taliban töteten oder vorerst zur Flucht in ihre pakistanischen Rückzugsgebiete zwangen. Zum anderen hatten die von den USAUnited States of America initiierten staatlichen Milizprogramme zahlreiche Taliban-Kämpfer zum zeitweisen Seitenwechsel bewegt. Dennoch unterstützte die Bundeswehr in dieser Zeit die afghanischen Sicherheitskräfte mit einigen Operationen, von denen die größten im März 2013 in Badakhshan stattfanden. Es sollten allerdings stets die Afghanen die Hauptlast der Operationen tragen, um sich auf die vollständige Transition vorzubereiten. Bei einer dieser unterstützenden Operationen töteten Aufständische im Mai 2013 erstmals einen KSKKommando Spezialkräfte-Soldaten. Es sollte der letzte gefallene Angehörige der Bundeswehr in Afghanistan sein.
Mit dem Jahr 2015 übernahm die afghanische Regierung vollständig die Sicherheitsverantwortung. Die ISAFInternational Security Assistance Force-Nachfolgemission „Resolute Support“ (RS) konzentrierte sich ganz darauf, die Spitzen der afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden und anzuleiten. Auf die OEFOperation Enduring Freedom folgte die USUnited States-geführte Operation „Freedom’s Sentinel“ (OFS), die weiterhin militärische Operationen in Afghanistan ausführte. An ihr beteiligte sich die Bundeswehr, die bereits seit 2010 keinen Beitrag zur OEFOperation Enduring Freedom geleistet hatte, jedoch nicht.
Viele Zeitgenossen bewerteten einzelne militärische Operationen von ISAFInternational Security Assistance Force und OEFOperation Enduring Freedom als erfolgreich. Allerdings handelte es sich rückblickend um bestenfalls taktische Erfolge. Auch die gezielten Operationen gegen Führer der Aufständischen wirkten nur kurzfristig. Am effektivsten war es noch, gegnerische Gruppen mittels Milizprogrammen „herauszukaufen“. Dies war allerdings ethisch fragwürdig und nicht nachhaltig. Denn mit dem Versiegen der Mittel schlossen sich diese Kämpfer ab etwa 2013 wieder den Aufständischen an.
Der von den USAUnited States of America als Führungsnation verantwortete Aufbau der Afghanischen Nationalarmee (ANAAfghan National Army) orientierte sich an den westlichen Streitkräftestrukturen und Einsatzgrundsätzen, die in Afghanistan nicht erfolgreich waren. Bereits unmittelbar nach Ende der ISAFInternational Security Assistance Force zeigte sich die Schwäche der ANAAfghan National Army. Im ehemaligen deutschen Verantwortungsbereich fiel Kunduz-Stadt 2015 und 2016 als erstes Provinzzentrum kurzzeitig in die Hände der Taliban.
Verbunden mit dem geringen gesellschaftlichen Rückhalt der afghanischen Regierung ist es daher nicht überraschend, dass die ANAAfghan National Army unmittelbar nach dem Abzug der RS- und OFS-Kräfte im August 2021 zusammenbrach. Damit übernahmen die Taliban wieder die Macht im Land. Sie hatten den gegen sie gerichteten CT- und COIN-Operationen widerstanden. Seit ihrer Machtübernahme stehen allerdings nun sie vor der Herausforderung, eine bewaffnete Opposition bekämpfen zu müssen, die auf Taktiken von Kleinkrieg und Terrorismus zurückgreift.
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