KSKKommando Spezialkräfte im Einsatz. Der Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Sharif 2016
KSKKommando Spezialkräfte im Einsatz. Der Anschlag auf das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Sharif 2016
- Datum:
- Lesedauer:
- 14 MIN
Während eines der größten Terroranschläge in Masar-i-Sharif 2016 bewähren sich sowohl die Bundespolizei als auch das KSKKommando Spezialkräfte. Die Mission der Kommandosoldaten ist im Chaos der Ereignisse erfolgreich; am Ende steht die höchste Auszeichnung der Bundeswehr für einen Beteiligten.
Am 10. November 2016, um 23:05 Uhr Ortszeit, erhellte sich der Himmel über dem nordafghanischen Masar-i-Sharif. Eine dröhnende Detonation war bis in das mehrere Kilometer Luftlinie entfernt liegende Lager der multinationalen Streitkräfte der Mission „Resolute Support“ (RS) zu hören. Es war aber nicht nur der Lärm, der die Soldaten ahnen ließ, dass etwas Dramatisches passiert sein musste; vielmehr spürten sie die Wucht der Explosion am eigenen Leib, da die Druckwelle selbst die Wohn- und Arbeitscontainer erfasste und zum Schwanken brachte. Was war geschehen? Ein Selbstmordattentäter hatte einen mit circa fünf Tonnen Sprengstoff beladenen LKWLastkraftwagen, ein sogenanntes Vehicle Borne Improvised Explosive Device (VBIED), auf der Hauptstraße direkt vor dem deutschen Generalkonsulat (GK) gezündet. Diese Explosion riss nicht nur einen riesigen Krater in die Straße, sondern zerstörte darüber hinaus auch die Schutzmauer sowie den nördlichen Teil des Konsulatsgebäudes. Zwar waren in den Monaten vor dem Anschlag die Sicherheitsmaßnahmen für das Generalkonsulat durch die deutsche Bundespolizei verbessert worden: Die Zäune wurden erhöht und zusätzlich gegen den Einsatz von Sprengstoff verstärkt, wobei die Explosive Ordnance Disposal (EODExplosive Ordnance Disposal)-Kräfte des Kommandos Spezialkräfte (KSKKommando Spezialkräfte) den für die Sicherheit des GK zuständigen Bundespolizisten beratend zur Seite standen. Doch die am 10. November 2016 eingesetzte Masse an Explosionsmitteln sprengte im Wortsinn die Dimension von bisherigen Sprengstoffattentaten. Die Folgen waren verhängnisvoll. Das gesamte Gebäude war einsturzgefährdet, denn tragende Wände waren in sich zusammengebrochen. Die Kraft des Sprengstoffes erschütterte ferner die Wohn- und Wirtschaftsgebäude auf dem Konsulatsgelände; ebenso wurden durch den Explosionsdruck die im Umkreis stehenden Wohnhäuser teilweise zerstört. Selbst Bäume wurden entlaubt. Darüber hinaus lag eine unglaubliche Menge an sichtbehinderndem Staub in der Luft: „Man fühlte sich an die Bilder von 9/11 erinnert, nur, dass noch die tiefschwarze Nacht hinzukam“, erinnert sich Polizeihauptkommissarin Kerstin Fiedler*, die Sicherheitsberaterin des Generalkonsulats. Die Explosion schuf eine sogenannte Eindringstelle, durch die eine unbekannte Anzahl von Angreifern auf das Konsulatsgelände stürmte. Die Attentäter begannen unmittelbar den Feuerkampf mit den alarmierten Bundespolizisten und konnten innerhalb kurzer Zeit immer mehr Räume des Hauptgebäudes einnehmen.
Die Bundespolizei steht im Feuer
Die Verteidiger wurden von der Waffenkammer, teilweise von den Schutzräumen und – was am schwerwiegendsten war – von der zentralen Schließ- und Kontrollanlage und fast allen Kommunikationsmitteln abgeschnitten. Lediglich das Handy konnte bis zum völligen Zusammenbruch des Mobilfunknetzes genutzt werden. Allerdings verfügten die Polizisten zusätzlich über eigene Handfunkgeräte, die auf kurze Reichweite noch funktionierten. In den ersten Minuten herrschte eine völlig unübersichtliche Lage; Rauch und Staub erschwerten die Sicht. Die deutschen Bundespolizisten verteidigten sich in dieser Situation aus Leibeskräften und leisteten im Zusammenwirken mit dem vor Ort befindlichen Wachpersonal erheblichen Widerstand gegen einen sehr gut vorbereiteten und mit mehr als nur dem üblichen AK-47Automat Kalaschnikow 47-Gewehr ausgestatteten Gegner. Dieser verfügte zudem über Anti-Personengewehrgranaten vom Typ VOG 25P und eine beträchtliche Menge an Handgranaten. Es handelte sich um einen geplanten, wohlkoordinierten Angriff mit taktisch geübten Kämpfern. Nicht nur der Lärm alarmierte die RS-Streitkräfte. Auch in der Operationszentrale des Train Advise and Assist Command North (TAAC-NTrain Advise and Assist Command North) war man sich rasch bewusst, dass es sich um eine massive Explosion im Raum um das deutsche Generalkonsulat in Mazar-e Sharif handeln musste. Allerdings war eine Beurteilung der Lage aufgrund mangelnder Informationen kaum möglich. Beim deutschen Kommando Spezialkräfte (KSKKommando Spezialkräfte) ahnte man jedoch auch, dass hier etwas Gravierendes passiert war. Oberstleutnant Andreas Trautmann*, Chef der KSKKommando Spezialkräfte-Kräfte in Masar-i-Sharif, nahm sofort Verbindung mit Brigadegeneral André Bodemann, dem Kommandeur TAAC-NTrain Advise and Assist Command North, sowie mit der Abteilung Spezialoperationen des Einsatzführungskommandos in Potsdam auf. Relativ schnell kamen die ersten Meldungen in den Stab des TAAC-NTrain Advise and Assist Command North. Brigadegeneral Bodemann, der erst an diesem Tag das Kommando in Masar-i-Sharif übernommen hatte, war sich nun sicher, dass hier ein großangelegter Angriff stattgefunden hatte. Schnelles Handeln war gefordert.
„Sie führen die Operation vor Ort!“
Auch wenn dem Kommandeur TAAC‑N die deutschen Spezialkräfte nicht unmittelbar unterstanden, nahm er das Angebot zur Unterstützung durch das KSKKommando Spezialkräfte ohne Zögern an. Zugleich setzte er die aus georgischen Kräften bestehende Quick Reaction Force (QRF) in Marsch, die nach knapp 45 Minuten am Anschlagsort eintraf. Als Gesamtverantwortlicher für die Operation schenkte er dem KSKKommando Spezialkräfte sein volles Vertrauen und gab Oberstleutnant Trautmann den Auftrag: „Sie übernehmen nach Eintreffen am Generalkonsulat die Verantwortung als Ground Force Commander über alle Kräfte und führen die Operation vor Ort.“ Schnell erteilte der Kommandeur TAAC-NTrain Advise and Assist Command North aufgrund des Zeitdrucks sehr kurze und knappe Befehle an die militärischen Führer der Schutzkräfte (Force Protection) der im Einsatzland stationierten Truppen. Unabhängig von diesen setzte sich das äußerst kleine Element des KSKKommando Spezialkräfte verzugslos in Marsch. Die Explosion riss die Mitarbeiter des Generalkonsulats blitzartig aus ihrem Schlaf: Die Betonwände wackelten, Deckenplatten lösten sich, der Boden bebte. Die im Alarmfall zum Polizeiführer aller Kräfte vor Ort gewordene Hauptkommissarin Fiedler schaltete das Licht ein, was aber im selben Augenblick schon wieder erlosch. Dunkelheit breitete sich aus und ihr wurde klar, dass etwas Katastrophales passiert sein musste. Der nächste Griff galt dem Funkgerät, um den Konsulatsangehörigen sofortige Anweisungen zum weiteren Vorgehen zu geben, was allerdings auch nicht möglich war, denn die Fernmeldeanlage war durch die Explosion unbrauchbar geworden. Einzig über ein Handy konnte die Hauptkommissarin Verbindung mit den deutschen Kräften im Feldlager aufnehmen. Aufgrund der Erschütterung des Hauses ging sie von einem Raketenangriff oder Beschuss durch Rocket Propelled Grenades (RPG) aus.
„Täter im Haus!“
Dass zu diesem Zeitpunkt das halbe Hauptgebäude nicht mehr existierte, ahnte Fiedler nicht. Während sie versuchte, die Einsatzzentrale zu erreichen, und gleichzeitig die Personenschützer sich bemühten, zu ihren Schutzpersonen zu gelangen, kam die Meldung über die eigenen Handfunkgeräte des Personenschutzkommandos: „Täter im Haus!“ Alle Angehörigen des Generalkonsulats versuchten, den Schutzraum zu erreichen. Nach einer dort durchgeführten Personenzählung wurde klar, dass ein Personenschützer und drei deutsche Mitarbeiter fehlten, unter ihnen der Vizekonsul. Dann klingelte Fiedlers Handy. Ein Soldat des KSKKommando Spezialkräfte rief sie direkt an und sie gab ihm eine aktuelle Lageinformation durch. Die Kräfte der Bundespolizei kamen indessen ihrem Sicherungsauftrag im Inneren des Hauses nach und riegelten den Ostflügel ab. Plötzlich klärten sie Angreifer in ihrer unmittelbaren Nähe auf und eröffneten das Feuer. Als Antwort wurden die Bundespolizisten mit Handgranaten beworfen und mussten ausweichen.
„Er ist für mich ein Held“
Die Explosion schleuderte Polizeihauptmeister Martin Weber*, den Personenschützer des Vizekonsuls, ebenfalls aus seinem Bett. Auf seinem Alarmstuhl waren Waffe und Weste wohlgeordnet, sodass er selbst blind seine persönliche Ausrüstung anlegen konnte. Sein erster Gedanke galt seinem Schutzbefohlenen. Schnell zog der Personenschützer seine Schutzweste über die Unterwäsche und stürmte aus seinem Zimmer. Da kamen ihm auch schon drei Deutsche entgegen, unter ihnen der Vizekonsul, der für die Angreifer ein sogenanntes High Value Target darstellte. Weber nahm alle drei in seine Obhut und beabsichtigte, sie zum Schutzraum zu führen. In diesem Moment bemerkte er aber in dem Flur vor einem Großraumbüro Richtung Norden die verschwommenen Umrisse einer Gestalt. Freund oder Gegner? Er wusste es nicht. Wie in Zeitlupe nahm er das Drehen dieser Person in seine Richtung wahr und hörte den im engen Flur ohrenbetäubenden Lärm von Schüssen. Schnell stieß er die drei Konsulatsangehörigen zurück, warf sich selbst zu Boden und eröffnete das Feuer. Als er aufblickte, war die Gestalt verschwunden. Sein Entschluss, in den Schutzraum zu gelangen, war nun nicht mehr umsetzbar. Der Personenschützer wich in sein eigenes Zimmer aus und prüfte, ob seine Schutzbefohlenen verletzt waren. Sie waren unversehrt.
Über Funk erhielt er die Information, dass die georgische QRF sowie vor allem das KSKKommando Spezialkräfte eingesetzt werden sollten. Weber positionierte sich im Türrahmen und beobachtete den Flur durch das Visier seiner Waffe. Mehr als schemenhafte Umrisse konnte er aber nicht erkennen, denn es war tiefschwarze Nacht und die immense Staubentwicklung tat ihr Übriges. Auch wusste er nicht, um wie viele Angreifer es sich insgesamt handelte, geschweige denn, wo sich diese befanden. Die Mitarbeiter des Generalkonsulats verhielten sich trotz der Extremsituation ruhig und überlegt, während Weber den Flur weiter beobachtete, jederzeit mit Beschuss rechnend. Als er über Funk hörte, dass die internationalen Kräfte zur Verstärkung eintrafen, fällte er den Entschluss, sich in dem Raum zu verschanzen. Er schloss so leise und so weit wie möglich die Tür und wartete Entsatz ab. Der Personenschützer rettete mit all seiner Erfahrung, Ruhe und Souveränität drei anderen Menschen das Leben, jederzeit bereit, sein eigenes dafür einzusetzen. Kerstin Fiedler fasste die Leistung von Polizeihauptmeister Martin Weber prägnant zusammen: „Er ist für mich ein Held.“
Der Chef übernimmt das Kommando
Die ersten Kräfte des KSKKommando Spezialkräfte am Generalkonsulat stießen auf eine äußerst unübersichtliche Lage. Durch die Explosion entstanden Brände und die stockfinstere Nacht schränkte die Sicht erheblich ein. „Du hast keine zehn, 15 Meter weit gucken können“, berichtete Oberstleutnant Andreas Trautmann, der sofort die Führung vor Ort übernahm. Die Abstimmung und Koordination mit den internationalen Partnern und der bereits auch vor Ort befindlichen afghanischen Polizei gestaltete sich schwierig, denn das anhaltende Feuergefecht, verbunden mit der unklaren Lage und der Sprachbarriere, erschwerte eine reibungslose Kommunikation. Trautmann ließ sich durch die Soldaten der QRF einweisen und pirschte mit seinem kleinen Führungsteam los. Nach mehreren kurzen Sprüngen über den südlichen Teil des Konsulatsgeländes traf das Team im Eingangsbereich des Ostflügels direkt auf die verantwortliche Polizeiführerin. Nach einer kurzen Einweisung übernahm Trautmann gemäß dem Auftrag von Brigadegeneral Bodemann nun als Ground Force Commander vollständig die Führung über alle Teile, die unter anderem aus Kräften der georgischen QRF, der deutschen und niederländischen Force Protection sowie der Polizei bestanden. Noch bevor die Hauptkräfte des KSKKommando Spezialkräfte eintrafen, hatte Trautmann seine Planung für das weitere Vorgehen abgeschlossen. Seine Absicht bestand darin, die im nördlichen Bereich des Ostflügels sichernden Georgier mit den anderen Teilen der QRF im äußeren Ring, also in der weiträumigen Absperrung um das Gelände des Generalkonsulats, einzusetzen. Während der Einweisung der Georgier gerieten diese unter Beschuss. Ein Georgier erhielt mehrere Streifschüsse am Helm. Die Beschossenen feuerten zurück und wichen unter Feuer liegend aus, wobei ein weiterer Soldat mehrere Treffer auf seine Schutzplatte erhielt. Mittlerweile waren die aus nur wenigen Männern bestehenden Teile der Hauptkräfte des KSKKommando Spezialkräfte eingetroffen. Die Kommandosoldaten übernahmen zusammen mit den nun ebenfalls vor Ort befindlichen Kampfrettern der Luftwaffe und den bereits in der Sicherung stehenden Bundespolizisten den weiteren Schutz im Inneren des Gebäudes.
Auf dem gesamten Gelände des Generalkonsulats, also in dem Hauptgebäude samt den dazugehörigen Nebengebäuden, bestand aber noch keine hundertprozentige Sicherheit. Deshalb entschied Oberstleutnant Trautmann, sofort das restliche Gelände durchsuchen zu lassen. Währenddessen nahmen die Angreifer im oberen Stockwerk des Ostflügels Raum um Raum ein, weshalb Trautmann einen Kommandotrupp mit der Befreiung des Vizekonsuls beauftragte. Um sich aber selbst von der Lage außerhalb des Geländes ein Bild machen zu können und vor allem die nötigen Maßnahmen zur Feuerregelung im äußeren Ring zu treffen, bewegte er sich schnellstens nach draußen. Er wies allen außerhalb des Gebäudes kämpfenden Kräften Sicherungsbereiche zu und befahl die Einrichtung einer Sammelstelle, um von dort in direkter Absprache mit Brigadegeneral Bodemann die Evakuierung des Personals zu koordinieren. Zu dieser Zeit befanden sich der deutsche Vizekonsul und seine beiden Mitarbeiter aber immer noch in Gefahr. Sie mussten schnellstens in Sicherheit gebracht werden.
Die Rettung des Vizekonsuls
Im Gebäude wurde weiterhin gekämpft. Rauch und Staub erschwerten die Sicht. Auch die modernsten Nachtsichtgeräte kamen hier an ihre Leistungsgrenze. Erschwerend kam hinzu, dass im Hauptgebäude aufgrund der Explosion einige Decken bereits eingestürzt waren. Den Aufenthaltsort der Diplomaten kannte man: Sie hatten sich im Zimmer des Personenschützers im nördlichen Teil des Westflügels verschanzt. Doch gestaltete sich die Rettung schwierig, denn im gesamten Gebäude musste mit versteckten Sprengladungen gerechnet werden. Von außen drohte ebenfalls Gefahr: Für den Raum Masar-i-Sharif wurde die Gefahr eines weiteren VBIED gemeldet, was die Befreiungsaktion zusätzlich unter erheblichen Zeitdruck setzte. Der nördliche Teil des Westflügels stellte aufgrund der Trümmer der Explosion und den dort kämpfenden Angreifern eine besondere Herausforderung dar. Auch schien es, dass die Angreifer im oberen Stockwerk immer noch Räume einnahmen und es damit nur eine Frage der Zeit war, bis sie in das Erdgeschoss gelangten. Oberstleutnant Trautmann wusste auch nicht, ob die Stellung des Personenschützers vom Gegner aufgeklärt werden würde oder nicht. Zeit war also der alles entscheidende Faktor. Durch den Nordflügel gab es kein Durchkommen, weshalb sich der dort eingesetzte Truppführer, Stabsfeldwebel Michael Müller*, für das Vorgehen im Westflügel von Süden herkommend entschied. Vom Ostflügel aus konnten er und seine Männer über den Innenhof zunächst den südlichen Rand des Westflügels einnehmen, woraufhin Müller eine Eindringstelle erkunden ließ. Glücklicherweise war durch die Explosion eine Tür aus den Angeln gerissen worden, die nun zum leisen Eindringen genutzt werden konnte.
Der Kommandotrupp ging unter höchster Anspannung vor. Im oberen Stockwerk hörten die Soldaten die explodierenden Handgranaten und das Vorgehen der Angreifer, die sich innerhalb des Gebäudes von Nord nach Süd bewegten. Der Trupp arbeitete sich Meter für Meter und Raum für Raum Richtung Norden unterhalb der Angreifer vor. Hierbei ging es einerseits um Schnelligkeit, denn das Leben der eingeschlossenen Deutschen stand auf dem Spiel, andererseits musste der aus wenigen Männern bestehende Trupp Umsicht walten lassen angesichts der eigenen Bedrohung durch mögliche versteckte Sprengladungen oder gut verschanzte feindliche Kräfte. Geschlossene Türen waren dabei immer ein Risiko und erschwerten die Lage: Erwartete die Soldaten dahinter ein Feuergefecht oder ein Selbstmordattentäter, oder waren die Türen mit Sprengfallen versehen? Raum für Raum nahm der Trupp schnell ein, aber mit der nötigen Vorsicht: die nächste Tür, Aufstellung, ein kurzes Kopfnicken, lautlos in den Raum: Feindfrei! Aufstellung und weiter, der nächste Raum. Der Sicherungssoldat des Trupps behielt das Ende des Flures fest im Blick und wurde nur durch Sichtzeichen und Körperkontakt geführt. Keiner sprach ein Wort. Der Kommandotrupp war ein eingespieltes Team und jeder wusste, was zu tun war. Oft hatte man diese Art des Vorgehens im Schießausbildungszentrum des KSKKommando Spezialkräfte in Calw geübt. Nun brachte der Trupp all seine Routine und Erfahrung ins Spiel. Die Gefahr war noch immer nicht gebannt, denn die Männer wussten nicht genau, wo sich die Angreifer befanden. Der Kommandotrupp näherte sich langsam einer Treppe nach oben. Der vorderste Mann beobachtete die Treppe, stets gefasst auf eine herunterfliegende Handgranate oder Feuer aus Handwaffen. Der Trupp kam nun am Treppenabsatz an. Die Sicherung wurde aufgebaut. Dann gingen die Soldaten weiter vor und gelangten schließlich in die Nähe des Raumes, in dem sich der Personenschützer mit seinen Schutzbefohlenen, darunter der Vizekonsul, verschanzt hatte. Eine Verbindung wurde hergestellt. Der Truppführer meldete Oberstleutnant Trautmann über Funk, dass sie die Deutschen unverletzt in Gewahrsam genommen hatten und nun wieder das Gebäude verlassen würden. Jetzt musste es noch schneller gehen: Die Handgriffe liefen reibungslos ab. Die Sicherungsbereiche und vor allem der Schutz des Vizekonsuls und der beiden weiteren Mitarbeiter waren gewährleistet. Es ging nun darum, die Evakuierung so schnell wie möglich durchzuführen. Die Gruppe bewegte sich zügig den Flur entlang, minimierte die Flankenbedrohung aus den Räumen und stellte schließlich die Verbindung mit den eigenen Kräften sicher her.
„Dafür bin ich ihnen ewig dankbar!“
Die geretteten Deutschen wurden in der Nähe des Generalkonsulats an Brigadegeneral Bodemann und die Force- Protection-Kräfte des TAAC-NTrain Advise and Assist Command North übergeben. Endlich konnte dem Krisenstab in Berlin gemeldet werden, dass alle Konsulatsangehörigen lebend gerettet worden waren. Bodemann, der Gesamtverantwortliche für die Operation, fasste in seiner Bewertung das Geschehen später so zusammen: „Die georgische QRF und alle eingesetzten Kräfte einschließlich der Bundespolizei haben Hervorragendes in dieser Krisenlage geleistet. Vor allem aber ist es dem schnellen und beherzten Eingreifen von Oberstleutnant Trautmann und seinen Kräften des KSKKommando Spezialkräfte zu verdanken, dass alle Angehörigen des Deutschen Generalkonsulats lebend und ohne große Verletzungen gerettet werden konnten. Dafür bin ich ihnen ewig dankbar!“
Der Morgen graute bereits, als die Kräfte die gesamte Evakuierungsoperation der Konsulatsangehörigen erfolgreich abschlossen. Dennoch: Bei dem Angriff wurden mindestens sechs afghanische Zivilisten getötet und fast 130 weitere in ihren Häusern, Wohnungen, Geschäften sowie auf der Straße unter anderem durch die Splitterwirkung oder durch die Trümmer der einstürzenden Nachbargebäude verletzt. Von den Angreifern wurde einer gefangen genommen. Die übrigen fanden den Tod. Das KSKKommando Spezialkräfte befand sich in einer Extremsituation. Auch wenn die Bundeswehr bereits über Kampferfahrung verfügte, so stellte diese Evakuierungsoperation etwas Besonderes dar: Ohne die Unterstützung schwerer Waffen und unter schwierigsten Bedingungen nahmen die Kommandosoldaten aus Calw ein einsturzgefährdetes und vom Gegner besetztes Gebäude ein. Vor allem das ruhige, durchdachte Handeln in einer stressigen und lebensbedrohlichen Situation war vorbildlich. Der erfolgreiche Einsatz verdeutlicht den hohen Stellenwert der Auftragstaktik und die für deren Umsetzung notwendige einsatznahe, umfassende und harte Kommandoausbildung. Keine detaillierten Befehle, sondern ein Auftrag mit den nötigen Freiheiten in der Umsetzung führte die Männer des KSKKommando Spezialkräfte zum Erfolg.
Vorbilder?
Nicht umsonst erhielt die erfolgreiche Evakuierungsoperation des KSKKommando Spezialkräfte drei Jahre nach dem Anschlag eine besondere Würdigung: Die Bundesministerin der Verteidigung zeichnete Oberstleutnant Trautmann und Stabsfeldwebel Müller wegen ihres selbstständigen, entschlossenen und erfolgreichen Handelns mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold mit rotem Rand (besonders herausragende Leistungen unter Gefahr für Leib und Leben) aus. Am 12. August 2019 nahm Trautmann die Auszeichnung aus den Händen von Generalleutnant Erich Pfeffer, dem Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, entgegen. Stabsfeldwebel Müller erhielt die Auszeichnung Anfang Dezember 2019 in Masar-i-Sharif durch die Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer. Auf diese Weise wurden das tapfere Handeln der Kommandosoldaten und auch die Eigeninitiative Trautmanns im Sinne der Auftragstaktik als vorbildlich für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr gewürdigt.
* Name geändert
Neue Beiträge
Unsere neusten Artikel, Karten, Podcast-Folgen, Audio-Buchjournale oder Videos im Afghanistan-Dossier.