Aufgeblättert – Bücherschatz

Gefangenenlager für Deutsche: Drucke und Aufnahmen aus Indien

Gefangenenlager für Deutsche: Drucke und Aufnahmen aus Indien

Datum:
Lesedauer:
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Sobald Kriege beginnen geraten Angehörige bewaffneter Streitkräfte in Kriegsgefangenschaft. Bereits die Haager Landkriegsordnung von 1907 sah vor, dass Zivilpersonen und zivile Einrichtungen im Krieg möglichst zu verschonen sind. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 gerieten dennoch weltweit neben unzähligen Soldaten auch Tausende von Zivilpersonen in Kriegsgefangenschaft als eine Folge des Konflikts zwischen weltweit agierenden Kolonialmächten: Auch Deutsche und Österreicher in Indien.

Mappe von außen mit herausschauenden Drucken an der rechten Seite

Mappe mit Drucken und Abbildungen

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Historische Einordnung

Im indischen Ahmednagar wurden über 1000 Zivilisten und etwa 450 Soldaten aus Deutschland und Österreich-Ungarn interniert. Die Briten, die 1914 auch Indien beherrschten, setzten sogleich, nachdem sie Deutschland am 4. August 1914 den Krieg erklärt hatten, Angehörige des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns, wo immer sie Kolonialmacht waren, fest. Deutsche Kriegsgefangene aus Ostafrika, Mesopotamien und Zivilgefangene aus Indien und anderen südostasiatischen Ländern wurden unter anderem im Mixed-Transit-Camp Ahmednagar festgesetzt. Die in Westindien gelegene Distrikthauptstadt gehört heute zum Bundesstaat Maharashtra. Das Lager war dreigeteilt in Lager A, B und C. Vor allem Lager A war mit hohen Stacheldrahtzäunen umgeben. Dort waren die Haftbedingungen besonders streng. Insassen konnten aber stundenweise das Lager verlassen und die Umgebung erkunden.

Aufgeschlagene Mappe mit Titel auf der linken und Lagerübersicht auf der rechten Seite

Lagerübersicht

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Aus dem Inhalt

Es gibt mehrere Berichte von deutschen Missionaren, die während des Ersten Weltkriegs im Kriegsgefangenenlager Ahmednagar interniert waren. Vor allem die Basler und die Leipziger Mission waren in Indien aktiv. Auch aus Afrika wurden deutsche Missionare nach Indien gebracht, um sie dort oft für viele Jahre festzuhalten. In den gedruckten Lebensbeschreibungen dieser Männer liest man von den Zuständen im Lager. Gerade Zivilpersonen wurden von ihrer Gefangennahme zu Kriegsbeginn überrascht. Aus ihrer Perspektive begann am anderen Ende der Welt ein Krieg, mit dem sie gefühlt überhaupt nichts zu tun hatten. Schneller als geahnt, waren sie in ihn verwickelt und zu Kriegsgefangenen geworden. Ihre unerwartete Zwangslage beeinflusste sicher die Beurteilung ihrer Situation. In den Erfahrungsberichten werden die Baracken als baufällig, das Essen als schlecht geschildet. Nach einer Untersuchung 1917 durch des Deutsche Rote Kreuz vor Ort werden die Haftbedingungen in Ahmadnagar als vergleichsweise human beschrieben.

Linke Seite zeigt Einladung zu einem Konzert. Rechte Seite zeigt Werbeanzeigen

Webeanzeigen und Konzerteinladung

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Welcher Personengruppe Franz Racek und Ludwig Politzer angehörten, kann nicht zugeordnet werden. Der Ersteller der Erinnerungsmappe nennt keine militärischen Dienstgrade. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass beide Herren zu den Zivilpersonen im A-Lager gehörten. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Missionare ist eher unwahrscheinlich. Von einem geistlichen Leben ist in den Annoncen der Lagerangebote nichts zu lesen. Auf dem Lagerplan findet man keine Kirche. Stattdessen sind reichlich Einladungen zu Konzerten des Salon-Orchesters, zu Aufführungen des Lagertheaters, zu einem Varietéabend und zu einer Kunst- und Gewerbeausstellung überliefert. Zudem sind Fotos von Sportveranstaltungen eingeklebt und Annoncen von zahlreichen Geschäften, die sich im Lager befanden, zusammengestellt. Manche Abbildungen von Frauen in den Werbeanzeigen könnte man durchaus als freizügig bezeichnen. Sollte diese Bilder wirklich ein Missionar gesammelt und veröffentlicht haben?

Aus einer Werbeanzeige in: Im Gefangenenlager Ahmednagar. Hergestellte Drucke und Aufnahmen
"Bergers Erfrischungsstube. Dort ist der gemütlichste Aufenthalt im ganzen A-Lager"

Ablenkung vom Lageralltag

Die Abbildungen in der Mappe passen so gar nicht zu den überlieferten Schilderungen der Insassen des A-Lagers, die über den harten Kriegsgefangenalltag in Ahmednagar klagen. Einerseits schreiben Inhaftierte, dass die Verpflegung karg war, anderseits findet man in der Sammlung Annoncen einer Wurstfabrik, einer Konditorei, eines Tabakladens, eines Delikatessengeschäfts, einer Bank und vieles mehr. Oder sind diese Werbeanzeigen Produkte der blühenden Fantasie von ehemaligen Gefangenen? Im Bericht des Deutschen Roten Kreuzes von 1917 wird von gepflegten und gut gekleideten Männern gesprochen, auch von Bäckereien und Freizeitangeboten im Lager. Auch gelegentlicher Ausgang wurde Gefangenen gestattet. Davon zeugen Abbildungen von Sehenswürdigkeiten in der Umgebung in der Mappe. Die eingeklebten Fotos ab Blatt elf zeigen Aktivitäten während eines Sportfestes, das Innere einer Schlafbaracke und Szenen einer Theateraufführung. 

Zwei Seiten mit eingeklebten Fotos von Männern, einige von ihnen als Frauen verkleidet

Männer in Frauenkleidern

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Im Lager wird es kaum Frauen gegeben haben, am ehesten noch beim Küchenpersonal. Die Zivilisten mussten sich vor ihrer Gefangennahme in aller Eile von ihren Frauen und Kindern verabschieden. Ihre Familien sahen die Männer oft erst Jahre später in der Heimat wieder. Die letzten Insassen verließen erst 1919 das Lager. Aus Ermangelung weiblicher Personen schlüpften Männer in Frauenkleider, wenn sie Theater spielten oder Feste feierten. Dieses heute sogenannte Cross-Dressing ist ein Phänomen, das man gerade im Militär, wo nur Männer auf engem Raum miteinander leben, nicht selten findet. Die abgebildeten Frauen in den Werbeanzeigen kann es so im Lager nicht gegeben haben. Vieles spricht dafür, dass die Abbildungen in der Mappe mehr einem Wunschdenken entsprechen als der Realität. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo zwischen dem Bericht des Deutschen Roten Kreuzes und den Erinnerungen von Ludwig Politzer. Hinzu kommt, dass alle Veröffentlichungen der Lagerinsassen zensiert wurden. Auf dem Plan des A-Lagers findet man unter Nr. 2 das „Censor’s Office“.

Wie kam die Mappe in die Bibliothek des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr?

Emblem der Lagerdruckerei mit Initialen L und P sowie Abbildung eines Ziegenkopfs.

Emblem der Lagerdruckerei

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Privatbesitz

Auf der inneren Umschlagseite der Mappe ist ein Zettel eingeklebt, auf dem der Titel der Sammlung eingedruckt ist. Handschriftlich deutet ein Besitzvermerk auf einen Schenker und den Adressaten der Schenkung hin. Mit blauem Füller steht dort geschrieben: „Herrn Franz Racek zur freundlichen Erinnerung an den Mitgefangenen Ludw. Politzer“. Über die beiden Herren waren keine weiteren Informationen zu recherchieren. Im Wappen des Übersichtsplans zum Lager und auf einem weiteren Blatt findet man einen gehörnten Ziegenkopf und die Initialen L.P. Handelt es sich bei dem Schenker Ludw. Politzer um den Drucker der Blätter? Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Die Mappe ist undatiert. Zuletzt wird zu einem Lustspiel im A-Lager am 28. März 1919 eingeladen. 

Titel der Mappe und handschriftliche Widmung auf einem im Innendeckel eingeklebten Zettel.

Titel und Widmung

Bundeswehr/Gabriele Bosch

Antiquarischer Ankauf

Der Bibliothek des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr werden häufig Bücher aus Nachlässen als Geschenk oder zum Kauf angeboten. Gelegentlich gehen Kaufvorschläge von antiquarischen Buchhandlungen ein. In diesem Fall kam ein Potsdamer Antiquar Anfang 2020 mit seiner Geschäftspartnerin persönlich zu Besuch ins ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr und hatte die Mappe aus Ahmednagar gleich dabei. Nach Rücksprache mit Wissenschaftlern aus der Abteilung Forschung fiel die Entscheidung, dieses Unikat für einen hohen dreistelligen Betrag anzukaufen. Das Thema Kriegsgefangenschaft wird im ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr immer wieder untersucht. Die Geschichte von Deutschen und Österreichern, die während des Ersten Weltkriegs in Indien in Kriegsgefangenschaft gerieten und erst 1919 die Heimreise antreten konnten, ist eher eine Randnotiz der Weltgeschichte. Doch einer von ihnen hat mit dieser Mappe eine Erinnerung aus Papier und Lichtbildern an seine unfreiwillig in Indien verbrachte Lebenszeit erschaffen. Auch diese vom Krieg umgeschriebenen Biografien sollen dem Vergessen nicht anheimfallen. Die Gefangenen von Ahmednagar wurden nach ihrer Entlassung 1919 mit einem fünfjähriges Einreiseverbot in das Land ihrer Mission belegt. Kaum Einer kehrte später nach Indien oder in andere Länder der ehemaligen Kolonien zurück.

URN: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:kobv:po79-opus4-7053

DOI: https://doi.org/10.48727/opus4-705

von Gabriele Bosch  E-Mail schreiben

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In der Online-Reihe "Aufgeblättert - Der Bücherschatz des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr" gewährt die Bibliothek des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr einen Einblick in ihre raren Bücherschätze, die seit 2022 endlich wieder vor Ort im Magazin untergebracht sind, nachdem sie jahrelang im Außenmagazin schwer zugänglich waren. Gerne können Sie unsere Bibliothek während der Öffnungszeiten besuchen. Auf der Seite der Bibliothek finden Sie weitere Informationen zur Bibliothek und zur Bibliotheksbenutzung.