Illegitime Gewalt in Russlands Kriegen
Illegitime Gewalt in Russlands Kriegen
- Datum:
- Ort:
- Potsdam
- Lesedauer:
- 4 MIN
Wann ist militärische Gewalt legitim, wann nicht? Wo verlaufen Grenzen, wie verändern sich diese? Am 12. Februar 2025 luden das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr und die DFG-Forschungsgruppe „Militärische Gewaltkulturen“ ein, diese Fragen anhand sowjetischer und russischer Kriege der Vergangenheit und Gegenwart zu diskutieren.
Militärische Gewaltkulturen als Forschungsansatz
In seiner Begrüßung stellte der Leitende Wissenschaftler und stellvertretende Kommandeur des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Prof. Dr. Dr. Alaric Searle, die Frage, warum sich Historikerinnen und Historiker mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen sollten und inwiefern historische Forschung dazu beitragen kann, gegenwärtige Konflikte besser zu verstehen.
Darauf ging Prof. Dr. Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, in seinem Impulsvortrag ein. Er präsentierte die Ergebnisse der ersten Förderphase der Forschungsgruppe „Militärische Gewaltkulturen“, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde. Sie beschäftigt sich entlang zentraler kriegerischer Ereignisse von der frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg mit Mustern und Grenzen legitimer oder illegitimer Praxen extremer Gewalt. Die bisherigen Forschungsergebnisse, so erläuterte Prof. Dr. Neitzel, verdeutlichen, dass illegitime Gewalt nicht als feststehendes kulturelles Phänomen zu verstehen ist, sondern stets von situativen Faktoren beeinflusst wird. Illegitime Gewalt meint transgressive Gewalt: Sie überschreitet geltendes Recht, aber auch Gewohnheiten sowie ethisch oder religiöse Prinzipien. Dabei ist der Begriff breiter als „illegal“, das sich lediglich auf Regelwerke und Rechtsnormen bezieht. In der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung eines weiteren zeitlichen und räumlichen Rahmens zeigt sich, dass Eskalationen oder Einhegungen von Gewaltanwendung durch reguläre Streitkräfte über die Zeit weitgehend einem stabilen Trend folgten. Illegitime Gewalt entstand historisch primär aus spezifischen Situationssystematiken heraus oder wurde vor allem durch irreguläre Kräfte oder Sonderverbände mit abweichenden Legitimitätsnormen begangen. Prof. Dr. Neitzel betonte, dass sich Gewaltpraktiken und -normen gegenseitig rekonstituieren und kontinuierlich verändern. Der Forschungsansatz hinterfragt daher essenzialistische Konzepte von Gewaltkulturen und analysiert sie als dynamische, interaktive Prozesse.
Die Ergebnisse der ersten Förderphase der DFG-Forschungsgruppe sind im Open-Access-Sammelband „When you catch one kill him slowly“. Militärische Gewaltkulturen von der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg vereint, herausgegeben von Birgit Aschmann, Jan C. Behrends, Sönke Neitzel und Christin Pschichholz. Der Band ist als gedrucktes Buch und als kostenfreie PDF beim Campus Verlag erhältlich.
Podiumsdiskussion zu illegitimer militärischer Gewalt
Auf den Impulsvortrag folgte eine Diskussion zwischen Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachrichtungen. Unter der Moderation von Dr. Christin Pschichholz (Universität Potsdam) diskutierten auf dem Podium die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler:
- Dr. Sabine Fischer (Stiftung Wissenschaft und Politik) – Expertin für Russische Außen- und Sicherheitspolitik
- Prof. Dr. Jan C. Behrends (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) – Lehrstuhlinhaber der Professur für Diktatur und Demokratie. Deutschland und Osteuropa von 1914 bis zur Gegenwart
- Dr. Kristiane Janeke (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) – Historikerin und Leiterin des Schwerpunktes Geschichte Osteuropas im Forschungsbereich II
- Dr. Frank Reichherzer (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) – Historiker und Projektleiter des Leitthemas „Militär und Gewalt“
Nach einer Einführung in gewalttheoretische Debatten ging es auch um eine multiperspektivische Analyse der jüngeren Geschichte Russlands entlang verschiedener Aspekte der Ausdeutung von „illegitimer Gewalt“. Ein zentraler Punkt war dabei die Frage, ob und inwiefern es ein spezifisch russisches Gewaltkontinuum gibt, das sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhalten oder transformiert hat.
Politologische, sozialwissenschaftliche und feministische Reflexionen wurden in die Diskussion mit einbezogen, um die historische Entwicklung und die aktuelle Manifestation transgressiver Gewalt der Russischen Föderation aus einer möglichst umfassenden Perspektive zu betrachten. Besondere Aufmerksamkeit erhielt hier die Rolle des russischen Staates in der Zelebrierung und Instrumentalisierung von Gewalt. Als zentral schätzten dabei die Osteuropa-Fachleute die Bedeutung des Russischen Bürgerkrieges als Erfahrungsraum ein. Dr. Sabine Fischer thematisierte Chauvinismus, der sich als analytische Kategorie aus Nationalismus, Sexismus und Autokratie zusammensetzt und die Grundlage für Gewalt bietet. Der Chauvinismus existiert zwar nicht exklusiv in Russland, jedoch wirkt er dort als gesamtgesellschaftlich definierende Kraft.
Relevanz des Blicks auf illegitime Gewalt in aktuellen Konflikten
In Zeiten globaler Krisen und zunehmender hybrider Kriegführung bleibt die Frage nach der Legitimität oder Illegitimität von Gewalt von zentraler Bedeutung. Das Beispiel des russischen Krieges gegen die Ukraine zeigt, dass trotz verbindlicher internationaler Rechtsnormen Formen extremer, grenzüberschreitender Gewalt weiterhin in politischen und militärischen Strategien eine Rolle spielen.
Die Expertinnen und Experten zu Osteuropa waren sich einig, dass sowjetisch geprägte Praktiken und Dispositionen den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauerten und sich seit der Gründung der Russischen Föderation ein Gewaltreservoir auf politischen und zivilgesellschaftlichen Ebenen aufgebaut hat. Dieses ermöglicht die Neuaushandlung der Grenzen der Legitimität von Gewalthandeln im Rahmen zeitgenössischer russischer Kriegführung. Die Diskutanten erörterten dies ausführlich anhand von Beispielen, etwa die systematische Entmenschlichung russischer Soldaten durch staatliche Apparate und militärische Praktiken oder die Instrumentalisierung sexueller Gewalt in- und außerhalb russischer Streitkräfte. Hier wurden grundlegende Unterschiede in Praktiken und ethischen Dispositionen der Konfliktparteien offenbart – und damit in den ihnen zugrundeliegenden Gewaltkulturen.
Nicht zuletzt wurde auf dem Podium appelliert, divergierende ethische Normen auch umzusetzen. Prof. Dr. Jan C. Behrends kritisierte in diesem Zusammenhang das mangelnde strategische Engagement der deutschen Politik gegenüber der Ukraine. Er betonte, dass eine ernsthafte Diskussion über die Implikationen eines russischen Sieges für die Bundesrepublik bislang kaum geführt werde – selbst angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen im Jahr 2025.
Breite Resonanz und intensive Debatte
Die Veranstaltung zog eine Vielzahl interessierter Zuhörerinnen und Zuhörer an. Viele nutzten die Gelegenheit, Fragen zu stellen und sich an der Diskussion zu beteiligen, die auch nach Ende der offiziellen Podiumsrunde anhielt – nämlich beim anschließenden Empfang, der dank des Fördervereins für Militärgeschichte an der Universität Potsdam ausgerichtet werden konnte. Die Veranstaltung zeigte, dass die Auseinandersetzung mit transgressiver Gewalt nicht nur von historischer, sondern auch von zeitgenössischer politischer Relevanz ist und daher nicht an Aktualität verliert.