Irak-Dossier

Zwischen den Fronten. Eine kurze Geschichte der Anti-IS"Islamischer Staat"-Koalition

Zwischen den Fronten. Eine kurze Geschichte der Anti-IS"Islamischer Staat"-Koalition

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17 MIN

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„One Mission, Many Nations“ – unter diesem Leitspruch leisteten und leisten mehr als 70 Nationen seit 2014 einen militärischen Beitrag zum Kampf gegen die islamistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS"Islamischer Staat") im Irak und Syrien. Schon bald stellte sich allerdings heraus, dass man sich neben dem Kampf gegen die Terrromiliz IS"Islamischer Staat" besonders darauf konzentrieren musste, nicht in den Sog anderer Konflikte der Region zu geraten.

Ein Pilot hält seinen Patch für die Mission Counter Daesh in die Kamera

Gemeinsame Mission: Das Taktische Luftwaffengeschwader 51 "Immelmann" war Teil der Mission "Counter Daesh", die gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" vorging.

Bundeswehr/Oliver Pieper

Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Kuwait? Dass ein Bataillon der ABCAtomar, Biologisch, Chemisch-Abwehrtruppe in den Jahren 2002 und 2003 in dem Wüstenstaat eingesetzt war, ist vielleicht dem einen oder anderen noch geläufig. Doch dass auch in jüngster Zeit deutsche Soldatinnen und Soldaten dort im Auslandseinsatz waren, ist kaum bekannt, wie auch das Emirat selbst, das in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung wenig Beachtung findet. Dies kontrastiert auffällig mit der Bedeutung, die diesem kleinen Land im Rahmen eines Krieges tatsächlich zukam, der als Medienereignis in den Jahren 2014 bis 2017 fast in Echtzeit von Millionen Menschen, auch in Deutschland, verfolgt wurde: der Krieg gegen die sogenannte Terrormiliz IS"Islamischer Staat" im Irak und Syrien.

Karte: der Irak

Karte: Der Irak und seine Nachbarstaaten

Bundeswehr/Bernd Nogli

Seit 2014 beansprucht diese Terrororganisation für sich den Titel eines „Islamischen Staats“. In der arabischen Welt hat sich die Abkürzung „Daesh“ eingebürgert, die mit voller Absicht an das arabische Wort für „einen, der etwas mit Füßen niedertritt“ erinnert. Den Terroristen soll nicht widerspruchslos zugestanden werden, dass sie einen legitimen, noch dazu rechtgläubigen Staat gebildet hätten, was durch die unreflektierte Übernahme der Abkürzung „IS"Islamischer Staat"“ im Westen leider geschieht. Aufgrund der verbreiteten Nutzung dieses Kürzels wird es aber zur besseren Verständlichkeit auch in diesem Text verwendet. 

Hervorgegangen aus den Strukturen des Terrornetzwerks Al-Qaida im Irak, profitierte diese Terrororganisation von der Instabilität der Region. Nach Jahren bürgerkriegsähnlicher Zustände und der Marginalisierung der arabisch-sunnitischen Minderheit durch die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad konnten die Terroristen zunächst in den arabisch-sunnitisch geprägten Regionen im Westen des Irak Fuß fassen. Seit 2011 gelang ihnen aufgrund des dortigen Bürgerkrieges auch die Etablierung in Syrien. Was die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" für die internationale Gemeinschaft besonders gefährlich machte, war der Umstand, dass deren Organisationsgrad, finanzielle Möglichkeiten und militärisches Potenzial im Vergleich zu anderen islamistischen Terrororganisationen ein bislang ungekanntes Ausmaß erreichten. Ab Anfang 2014 fielen mehrere große Städte im Irak und Syrien wie ar-Raqqa, Falludscha, Tikrit und sogar die Millionenmetropole Mossul unter die Kontrolle des IS"Islamischer Staat", sodass der Terrororganisation nun ungeahnte Potenziale an Rekruten, Finanzen und Ressourcen zur Verfügung standen. Die irakische Armee hatte sich als unfähig erwiesen, den Feind aufzuhalten, Bagdad schien in Gefahr; Syrien versank ohnehin im Bürgerkrieg. Furchtbare Massaker der Terrormiliz IS"Islamischer Staat", insbesondere der Völkermord an den Jesiden  im August 2014, schockierten die Weltöffentlichkeit.

Die Formierung der Koalition und der deutsche Beitrag

Die einzige Macht, die den Gegnern der Terrororganisation IS"Islamischer Staat" im Irak und Syrien schnell und umfassend militärisch Hilfe leisten konnte, waren die USAUnited States of America, welche in der Golfregion eine starke Militärpräsenz unterhalten. So wurde unter Führung Washingtons eine internationale Koalition gebildet, um die Bemühungen im Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" zu koordinieren. Kristallisationspunkt der militärischen Vorbereitungen war das vom USUnited States-Militär genutzte Camp Arifdschan in Kuwait, südlich von Kuwait-Stadt, wo im Juni 2014 das Joint Forces Land Component Command (JFLCC) für die Koordinierung der geplanten Operationen gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" aufgestellt wurde. Im Sommer 2014 führte die USUnited States Air Force bereits Luftangriffe auf Ziele der Terrororganisation IS"Islamischer Staat" durch, bald schlossen sich andere Nationen an. Am 17. Oktober 2014 wurden die militärischen Operationen der internationalen Anti-IS"Islamischer Staat"-Koalition unter dem Namen „Combined Joint Task Force Operation Inherent Resolve“ (CJTF-OIR) offiziell zusammengefasst. Das Hauptquartier von CJTF-OIR wurde im Camp Arifdschan in Kuwait – prädestiniert durch die räumliche Nähe zum Irak einerseits und die hervorragenden infrastrukturellen Rahmenbedingungen andererseits – eingerichtet und um einen Gefechtsstand in Bagdad ergänzt. 

In den kommenden Jahren wurden über 70 Nationen von Finnland über Singapur bis Südkorea Teil von CJTF-OIR; auch die meisten NATO-Mitglieder brachten sich ein. Die Bundeswehr beteiligte sich an der Unterstützung der irakischen Sicherheitsinstitutionen bereits ab Anfang 2015, am militärischen Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" im Rahmen von CJTF-OIR jedoch erst ab Ende des Jahres, nachdem den Europäern die enorme von der Terrororganisation ausgehende Gefahr im Zuge der Terroranschläge in Paris noch einmal deutlich vor Augen geführt worden war. Unter den Bundestagsmandaten „Counter Daesh“ sowie „Capacity Building Iraq“ wurden mehrere hundert Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in der Türkei beziehungsweise später in Jordanien stationiert, um vor allem in den Bereichen Aufklärung, Lufttransport und Betankung zu unterstützen. Weitere Kräfte im Irak sollten die dortige Sicherheitsinstitutionen durch Beratung und Ausbildung verbessern. Auch ein deutsches Kriegsschiff beteiligte sich am Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat". Ab Ende 2015 war die Fregatte „Augsburg“ Teil eines Verbandes um den französischen Flugzeugträger „Charles de Gaulle“, der im Persischen Golf und einige Monate später im Mittelmeer operierte, um von See her Luftschläge gegen Ziele der Terrororganisation durchzuführen. 

Ein Tornado steht auf der Landebahn in Incirlik, Türkei.

Zwischenlandung: Die Air Base in Incirlik diente den deutschen Tornados als Ausgangspunkt für ihre Einsätze im Rahmen der Mission "Counter Daesh".

2016 Bundeswehr/Falk Bärwald

Auf diesen größeren Kontingenten lag der Fokus der Aufmerksamkeit in Deutschland. Eine Schlüsselrolle spielten aber auch jene wenigen Bundeswehrangehörigen, die in den internationalen Hauptquartieren eingesetzt waren, um die Verbindung und Koordinierung zwischen der Führung von CJTF-OIR einerseits und den verantwortlichen deutschen Stellen im Bundesministerium der Verteidigung beziehungsweise dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr andererseits zu gewährleisten. Insgesamt etwa zehn Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten waren im Hauptquartier von CJTF-OIR in Kuwait beziehungsweise in Bagdad sowie im Combined Air Operations Centre (CAOC) in der insbesondere vom USUnited States-Militär genutzten al-Udeid Air Base in Qatar eingesetzt. Im internationalen Umfeld fungierten sie als Ansprechpartner und Vermittler sowohl für Anfragen von CJTF-OIR und von einzelnen Nationen als auch für das deutsche Einsatzkontingent im Irak oder der Türkei beziehungsweise Jordanien und die übergeordneten Stellen der Bundeswehr in Deutschland.

Krieg gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat"

Bis 2017 gelang es, die Herrschaft der Terrormiliz IS"Islamischer Staat" in weiten Teilen des Irak und Syriens zu beenden. Aufgrund massiver Luftschläge und umfassender Aufklärungsergebnisse der Koalition konnten Kräfte der irakischen Armee, der irakischen Kurden, irakischer Milizen und syrischer Bürgerkriegsformationen die Terrororganisation Schritt für Schritt zurückdrängen. Im April 2015 verlor die Terrororganisation die Kontrolle über Tikrit, im November konnte Sindschar, die Heimat der Jesiden im Nordwestirak, befreit werden. Im Juni 2016 folgte Falludscha; in Mossul kam es dann zu langwierigen und verlustreichen Kämpfen, die mehrere tausend überwiegend zivile Opfer forderten und erst im Juli 2017 erfolgreich beendet werden konnten. Eine besondere Herausforderung für CJTF-OIR stellte unterdessen das Eingreifen Russlands in den Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" sowie in den syrischen Bürgerkrieg auf Seiten des Assad-Regimes ab 2015 dar. Vor diesem Hintergrund wurde eine sorgfältige und umsichtige Koordinierung zwischen der Koalition und der russischen Führung notwendig, um eine direkte Konfrontation zwischen Kräften von CJTF-OIR und russischen Truppen in Syrien zu vermeiden. Bis 2017 verlor die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" schließlich auch ihre letzten Hochburgen, als ar-Raqqa im Sommer und al-Qaim schließlich zum Jahresende 2017 befreit werden konnten. 

Der IS"Islamischer Staat" blieb jedoch als Terrororganisation im Irak und Syrien weiterhin präsent. Seine Führungsstrukturen wurden dezentralisiert. Insbesondere in unzugänglichen Berg- und Wüstenregionen wurden Zufluchtsorte und Depots aufrechterhalten, während in größeren Zentren „Schläferzellen“ im Untergrund aktiv waren. Vor diesem Hintergrund blieben blutige Anschläge der Terrormiliz IS"Islamischer Staat" in den beiden Ländern eine wiederkehrende Erscheinung. Die Koalition konzentrierte sich wiederum auf Beratung und Ausbildung der irakischen Sicherheitskräfte sowie Bereitstellung von Aufklärungsergebnissen. Der Kampf gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" stellte sich von nun an im Wesentlichen in Form von Razzien, Festnahmen oder Tötungen von IS"Islamischer Staat"-Mitgliedern und -Führern sowie Luftangriffen auf bekannte Rückzugsorte der Terroristen dar. Sobald die Bedrohung durch die Terrormiliz oberflächlich gebannt schien, brachen allerdings schnell weitere Konfliktherde auf, was die Tätigkeit von CJTF-OIR immens erschwerte.

Die irakische Zweckallianz bröckelt

Ein mit dem alten kurdisch-arabischen Konflikt zusammenhängendes Ereignis brachte die gemeinsame inner-irakische Front gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" schließlich zum Bersten: das Unabhängigkeitsreferendum in der autonomen Region Kurdistan-Irak (RKI) im September 2017. Schon seit Anfang der 1990er Jahre hatte diese kurdische Autonomieregion bestanden, deren Grenzen aber nie in Verhandlungen zwischen deren politischer Führung und der irakischen Regierung in Bagdad festgelegt worden waren.

Im Rahmen des Krieges gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" konnten die Streitkräfte der RKI, die sogenannten Peschmerga (kurdisch für „die dem Tod ins Auge Sehenden“), von der Flucht irakischer Sicherheitskräfte aus den umstrittenen Gebieten profitieren und dort einrücken, um die Bevölkerung vor der Terrororganisation zu schützen. Bagdad konnte dabei nur ohnmächtig zusehen. Von herausragender Bedeutung war hier die ölreiche Großstadt Kirkuk, die einen großen Bevölkerungsanteil kurdischer Herkunft aufweist und von Peschmerga besetzt werden konnte. Diese gestärkte Stellung nahm der Präsident der RKI, Masud Barzani, nun zum Anlass, eine Abstimmung über deren Unabhängigkeit durchzuführen, und zwar unter Einschluss der jüngst hinzugewonnen Gebiete. Dies traf erwartungsgemäß in Bagdad auf entschiedenen Widerstand, wie auch in den Nachbarstaaten Türkei und Iran, welche ihrerseits bedeutende kurdische Minderheiten beheimaten und daher mögliche Unabhängigkeitsreferenden fürchteten.

Für die Entscheidungsträger bei CJTF-OIR um deren USUnited States-amerikanischen Kommandeur, Lieutenant General Paul E. Funk II, war die Lage verzwickt: Einerseits hatte man eng mit den irakischen Kurden zusammengearbeitet und ihre Streitkräfte ausgebildet, welche sich als sehr wertvoll im Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" erwiesen hatten. Andererseits musste man strikt die Souveränität des Irak achten, auf dessen Einladung man im Land war. Dies war umso wichtiger, als dass die jahrelange Besatzung des Irak durch USUnited States-Truppen nach 2003 im Land noch in schmerzvoller Erinnerung war und die USUnited States-geführte Koalition daher keinesfalls den Eindruck erwecken wollte, sich über irakische Interessen hinwegzusetzen. Insbesondere für die Bundeswehr war die Situation heikel, hatte sie ihren Fokus im Irak doch klar auf die RKI gelegt, wo der weit überwiegende Teil ihrer Soldatinnen und Soldaten stationiert war. Die Bundeswehr bildete die Peschmerga dort insbesondere an den von Deutschland gelieferten Handwaffen, zum Beispiel an der Panzerabwehrwaffe MILAN oder dem Sturmgewehr G36, aus. 

Ein deutscher Offizier schaut einem Soldat der Peschmerga über die Schulter, während dieser ein G36 zusammensetzt.

Ausbildungsmission: Die Bundeswehr unterstützte mit interkulturellen Einsatzberatern bei der Ausbildung der Peschmerga, die ihre erlernten Fähigkeiten anschließend im Kampf gegen den "IS"Islamischer Staat"" einsetzen konnten.

Bundeswehr/Wilhelm Leisten - Lorent

Der beste Weg schien den Verantwortlichen der Koalition, abzuwarten, zur Zurückhaltung aufzurufen und im Hintergrund das Gespräch mit beiden Seiten zu suchen. Dass schließlich regional wie auch zeitlich eingeschränkte Zusammenstöße zwischen zentral-irakischen und irakisch-kurdischen Streitkräften stattfanden, konnte nicht verhindert werden. Da Masud Barzani sich im Zuge des Referendums mit einer fast völligen internationalen Isolation konfrontiert sah, gab er allerdings bald nach: Die Kontrolle über Kirkuk und weitere umstrittene Gebiete wurde wieder an den Irak übergeben, das Referendum eingefroren, er selbst trat zurück. Aus der Sicht der Führung von CJTF-OIR war damit zwar größerer Schaden vermieden, der Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" gestaltete sich in den zwischen beiden Seiten umstrittenen Regionen aber fortwährend schwieriger, da sich Bagdad und Arbil/Erbil kaum koordinierten oder gar miteinander kooperierten. 

In einer ähnlich schwierigen Position befand sich die Koalition mit Blick auf die kurdisch besiedelten Gebiete in Syrien. Hier hatte man im Kampf gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" eng mit den „Syrian Democratic Forces“ (SDF) zusammengearbeitet, die von syrisch-kurdischen Kräften der YPG (kurdische Abkürzung für „Volksverteidigungskräfte“) dominiert wurden. Aus Sicht der Türkei – Mitglied von CJTF-OIR – war die YPG allerdings Teil der türkisch-kurdischen Terrororganisation PKKArbeiterpartei Kurdistans (Arbeiterpartei Kurdistans) und somit YPG wie SDF eine direkte Bedrohung der eigenen Sicherheit. Vor diesem Hintergrund führte das türkische Militär mehrere größere Operationen im Norden Syriens durch, um sogenannte Schutzzonen zu errichten und die SDF aus diesen Gebieten zu vertreiben. Dies behinderte wiederum den dortigen gemeinsamen Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" immer wieder stark, was sich auch auf die Lage im Irak auswirkte.

Im Schatten konfessioneller Gegensätze

Zumindest konnte man im Camp Arifdschan mit Blick auf diese Konfrontationen für sich verbuchen, nicht direkt involviert und Ziel von Angriffen der Kontrahenten zu sein. Viel stärker und unmittelbarer bedroht wurde die Position von CJTF-OIR im Irak, dem wichtigsten Schauplatz des Kampfes gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat", allerdings im Zuge eines anderen Konflikts, der sich mehr und mehr Bahn brach: der Gegensatz zwischen der Führungsmacht der Koalition, den USAUnited States of America, und den mächtigen schiitischen irakischen Milizen sowie deren Sponsor, dem Iran. Seit dem Sturz Saddam Huseins im Jahr 2003 war die schiitisch-arabische Bevölkerungsmehrheit an die Schaltstellen der Macht im Land gelangt. Einige führende irakische Politiker hatten lange im Exil im Iran gelebt und entsprechend enge Beziehungen nach Teheran. So konnten in den Jahren nach 2003 große schiitische Milizen im Irak Fuß fassen und auch die Sicherheitsorgane teilweise infiltrieren. Allerdings waren nicht alle großen Milizen dem Iran ergeben; auch innerhalb des schiitischen Spektrums gab es Feindschaften. Viele dieser Milizen hatte Kampferfahrung im irakischen Bürgerkrieg nach 2003 gesammelt, in dem sie untereinander, gegen sunnitische Formationen oder die USUnited States-amerikanischen Truppen im Land gekämpft hatten. Die Zahl ihrer Kämpfer und die Qualität ihrer Ausrüstung war um 2014 enorm, und so hatte die irakische Regierung kaum eine andere Wahl, als die Milizen in den Kampf gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" einzubinden.

Im Juni 2014 wurden diese miteinander rivalisierenden und teils vom Iran gesteuerten Milizen unter dem Dach der „Popular Mobilization Forces“ (PMF) zusammengefasst und formal der irakischen Regierung unterstellt. Aufgrund ihrer hohen Motivation und Kampfkraft trugen sie in den folgenden Jahren einen großen Teil dazu bei, die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" zurückzudrängen. Allerdings entzogen sich die Milizen de facto der Kontrolle Bagdads, und der Krieg gegen die Terrororganisation IS"Islamischer Staat" entwickelte sich zu einem konfessionellen Krieg, in dem die durch die PMF scheinbar befreiten Einwohner ehemals von der Terrororganisation beherrschter sunnitisch geprägter Orte kaum auf Gnade hoffen konnten. Immer wieder versuchte die irakische Regierung, ihre Autorität über diese Milizen zu etablieren, was jedoch nicht gelang. Dies lag auch darin begründet, dass die irakischen Premierminister stets auf die Stimmen von Parteien angewiesen waren, die eng mit den Milizen verbunden waren, welche wiederum ihre Autonomie wahren wollten. Vor diesem Hintergrund wurde im Übrigen für die Bundeswehr klar in den entsprechenden Bundestagsmandaten festgelegt, dass die PMF nicht von deutscher Ausbildung oder Waffenlieferungen profitieren durften. Auch andere Koalitionspartner verfuhren so.

Das Verhältnis zwischen CJTF-OIR und den PMF stellte sich also als höchst reserviert dar. Solange die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" noch Kontrolle über größere Räume ausübte und die militärischen Operationen andauerten, suchte man einen modus vivendi. Je schwächer die Terrororganisation aber scheinbar wurde, desto stärker traten die Gegensätze zwischen den Milizen und insbesondere der Führungsnation der Koalition, den USAUnited States of America, zutage. Die Ursache dafür waren insbesondere die seit Jahrzehnten eingefrorenen Beziehungen zwischen Washington und Teheran. Einige der großen iran-treuen Milizen der PMF forderten immer schärfer den Abzug der USUnited States-Truppen aus dem Irak, und es kam immer öfter zu Angriffen auf Kräfte von CJTF-OIR, insbesondere auf jene, die in Bagdad stationiert waren. Die irakische Regierung hingegen bat die Koalition weiterhin um Unterstützung, da ein Wiedererstarken der Terrororganisation befürchtet wurde.

Generalinspekteur Eberhard Zorn steht neben dem US-amerikanischen Generalleutnant Paul Funk während eines Truppenbesuchs im Irak

Gemeinsam gegen den Terror: Die erste Auslandsdienstreise führte Generalinspekteur Eberhard Zorn im Juni 2016 in den Irak, wo er die deutschen Einsatzkräfte besuchte und sich mit dem Kommandeur der CJTF-OIR, Generalleutnant (USAUnited States of America) Paul Funk, traf.

Bundeswehr/Sebastian Wilke

Dass die westlichen Staaten nicht beabsichtigten, den Irak zeitnah zu verlassen und so unter Umständen eine Erholung der Terrororganisation IS"Islamischer Staat" zu ermöglichen, zeigte sich nicht nur an der Verlängerung der Mandate durch viele Mitgliedsstaaten von CJTF-OIR, sondern auch an der Etablierung der NATO Mission Iraq (NMI NATO Mission Iraq) im Jahr 2018. Diese sollte sich auf die Beratung und Ausbildung der irakischen Streit- und Sicherheitskräfte konzentrieren, hatte aber dezidiert keinen Kampfauftrag. NMI NATO Mission Iraq ist also in Bezug auf den Auftrag und organisatorisch getrennt von CJTF-OIR zu betrachten. Aufgrund der Dominanz der USUnited States-Amerikaner und ihrer westlichen Verbündeten in beiden Organisationen bestand aber hinsichtlich der Bedrohung durch pro-iranische Milizen kein Unterschied.

CJTF-OIR im Fadenkreuz des Iran

Die iranisch dominierten Milizen im Irak hatten vom Kampf gegen die Terrormiliz IS"Islamischer Staat" nicht nur durch Rekrutierung zusätzlicher Kräfte und Aufstockung ihres Materials profitiert, sondern auch durch die Etablierung von Basen im eigentlich sunnitisch-arabisch geprägten Westteil des Irak, die ihnen den Weg nach Syrien ebneten. Über das mit Teheran verbündete Assad-Regime in Damaskus konnte der Iran so eine direkte Verbindung zur Hisbollah-Miliz im Libanon herstellen, die insbesondere für Israel eine Bedrohung darstellt. Außerdem nahmen im Irak seit 2018 die Angriffe irakischer Milizen auf Ziele der westlichen Militärpräsenz deutlich zu, auch weil sich die Beziehungen zwischen Washington und Teheran mit dem Amtsantritt Donald Trumps 2017 noch weiter verschlechterten. Im Gegenzug führten USUnited States-Streitkräfte wiederholt Luftschläge gegen diesen Milizen zuzuordnende Ziele durch. Im Dezember 2019 wurde ein USUnited States-Amerikaner bei einem Raketenangriff durch iran-nahe irakische Milizen getötet. Kurz darauf entschieden sich die USAUnited States of America zu einem drastischen Schritt. Sie töteten zwei der hochrangigsten Vertreter iranischer Interessen in der Region auf irakischem Boden mittels eines Luftschlages: Abu Mahdi al-Muhandis, den formellen Chef der PMF und Führer der wichtigen iran-treuen Miliz Kataib Hisbollah, sowie Qasem Soleimani, den Kommandeur der Quds-Brigade, des für Auslandsoperationen zuständigen Teils der iranischen Revolutionsgarden.

Diese Eskalation brachte CJTF-OIR in die bedrohlichste Lage seit Bestehen der Koalition: Würde die öffentliche Meinung im Irak sich deutlich gegen die Koalition wenden? Würden die PMF nun zum offenen Kampf gegen die westlichen Truppen im Land übergehen? Würde gar der Iran selbst Ziele von CJTF-OIR angreifen? In unmittelbarer Reaktion wurden die Tätigkeiten des von der Koalition im Irak eingesetzten Personals ausgesetzt. Dies betraf auch die Bundeswehr. Die Bundesregierung entschied, so wie die meisten anderen beteiligten Nationen, ihre Kräfte aus dem Zentralirak zu evakuieren. So wurden u.a. auch die im Hauptquartier in Bagdad tätigen Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait ausgeflogen, wo sie in Sicherheit waren, aber weiterhin einen Beitrag zur Arbeit von CJTF-OIR leisten konnten. Die iranische Reaktion fiel schließlich deutlich aus: Am 8. Januar 2020 wurden die al-Asad Air Base und die Erbil Air Base im Irak, beide genutzt von CJTF-OIR, von aus dem Iran abgefeuerten ballistischen Raketen getroffen. Teile der Infrastruktur wurden zerstört und einige Militärangehörige verwundet. Allerdings gab es keine Todesopfer, auch folgten keine weiteren Angriffe von iranischem Territorium aus. 

Eine Erfolgsgeschichte mit Wermutstropfen

Die internationale Koalition ist auf Bitten der irakischen Regierung bis heute in der Region aktiv; Angriffe schiitischer Milizen treten jedoch weiterhin auf, und auch die Terrormilz IS"Islamischer Staat" bleibt im Irak wie in Syrien präsent. Deren Ausbreitung wurde allerdings erfolgreich aufgehalten, somit konnten weitere Massaker oder gar Völkermorde verhindert und Tausende Menschenleben gerettet werden. Doch es zeigt sich auch, dass westliches militärisches Engagement out-of-area das Risiko birgt, in einen der vielen sich parallel abspielenden Konflikte hineingezogen und dadurch mit kaum vorhersehbaren Lageänderungen konfrontiert zu werden. 

Vor diesem Hintergrund war die Wahl des Camp Arifdschan in Kuwait als Hauptquartier von CJTF-OIR die optimale Standortentscheidung: Durch die Lage in einem nicht von den Kampfhandlungen betroffenen Land und die gleichzeitige Nähe zum Irak fungierte es nicht nur als Schnittstelle der verschiedenen an der Koalition beteiligten Nationen in unmittelbarer Nähe des Kriegsschauplatzes, sondern auch als sicherer Hafen im Falle unvorhergesehener Eskalationen. 

Lesetipps

Bernd Lemke (Hrsg.): Irak und Syrien. Wegweiser zur Geschichte (PDF, 10,7 MB). Potsdam 2019. 

Fawaz A. Gerges: ISISIntegrated SIGINT (Signal Intelligence) System. A History, Princeton 2021.

Guido Steinberg: Die „Achse des Widerstands“. Irans Expansion im Nahen Osten stößt an Grenzen (SWPStiftung Wissenschaft und Politik-Studie 2021/S 08)  https://www.swp-berlin.org/publikation/die-achse-des-widerstands

von Mischa Bose

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