Interview mit Dr. Timo Graf

Ukraine-Krieg: Zeitenwende im verteidigungspolitischen Meinungsbild?

Ukraine-Krieg: Zeitenwende im verteidigungspolitischen Meinungsbild?

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8 MIN


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Dr. Timo Graf, ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist eine Zäsur in der europäischen Geschichte und eine Zeitenwende für die deutsche Verteidigungspolitik. Wie reagiert die deutsche Bevölkerung darauf? Zeichnet sich auch eine Zeitenwende im verteidigungspolitischen Meinungsbild ab? Darüber wollen wir mit Dr. Timo Graf sprechen, der als Sozialwissenschaftler am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) die öffentliche Meinung zur deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik untersucht. 

Zum Ukraine-Krieg werden nahezu täglich neue Befragungsergebnisse veröffentlicht.
Wie ist diese Informationsflut zu bewerten?

Im Moment werden in den Medien tatsächlich viele Befragungsergebnisse mit Bezug zum Ukraine-Krieg präsentiert und diskutiert, schließlich sind sie selbst eine Nachricht wert. Diese Befragungen finden am Telefon oder über das Internet statt, weil das schnell und günstig ist. Der Umfang der Befragungen ist begrenzt: Die Stichproben sind selten größer als 1.000 Personen und es werden nur eine Handvoll verteidigungspolitischer Fragen gestellt. Für sich betrachtet, bleibt die Aussagekraft jeder dieser Umfragen begrenzt. Es sind also eher Fragmente, die zusammengenommen ein Mosaik ergeben, welches uns ein Meinungsbild erkennen lässt. Aber gerade weil dieses aktuelle Meinungsbild fragmenthaft ist, bedarf es der Interpretation und Einordnung. Erst im Vergleich mit früheren Befragungsdaten und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Grundlagenforschung wird einem klar, dass wir aktuell eine mögliche Zeitenwende in der öffentlichen Meinung zur Verteidigungspolitik erleben. Das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr kann auf der Grundlage seiner eigenen Umfrageforschung genau diese Einordnung vornehmen.

Welchen Beitrag kann das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr mit seiner Umfrageforschung zur aktuellen Situation leisten? 

Das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hat nicht den Auftrag, tagesaktuell Meinungen zu erheben, um damit Nachrichten für die Startseite von bundeswehr.de zu produzieren. Seine Befragungen dienen vielmehr der Erforschung komplexer Sachverhalte und der Langzeitbeobachtung des verteidigungspolitischen Meinungsbilds in Deutschland. Wir führen deshalb auch nicht zehn oder zwanzig kleine Online- oder Telefonbefragungen pro Jahr mit wenigen und immer wechselnden Fragen durch, sondern jedes Jahr eine große repräsentative Bevölkerungsbefragung, für die in ganz Deutschland über 2.000 Personen persönlich jeweils eine Stunde lang zu einem sehr breiten verteidigungspolitischen Themenspektrum befragt werden. Das ist dann auch tatsächlich so aufwendig, wie es sich anhört. Diese Art der Befragung ist aber noch immer der „Goldstandard“ in der Umfrageforschung. Viele der Fragen stellen wir weitgehend unverändert seit mehreren Jahren, einige sogar seit Jahrzehnten, weshalb wir eine verlässliche und aussagekräftige Langzeitbeobachtung der öffentlichen Meinung bieten können. Von besonders großem Wert ist auch die Tatsache, dass wir die vielen verteidigungspolitischen Einstellungen der Befragten zueinander in Beziehung setzen können, z.B.: In welcher Beziehung steht die wahrgenommene Bedrohung durch Russland zur Haltung der Befragten zur Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO? Mit den komplexen Daten der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung können wir also nicht nur das verteidigungspolitische Meinungsbild über lange Zeiträume verlässlich abbilden und dadurch überhaupt erst mögliche Veränderungen erkennen, sondern diese auch ein gutes Stück weit erklären. Das können die vielen kleinen Ad-hoc-Befragungen mit vier oder fünf Sachfragen und immer wechselnden Frageformulierungen nicht leisten.

Jetzt haben Sie Russland bereits angesprochen.
Wie stehen die Deutschen zu Russland?

Zur Einordnung der aktuellen Umfrageergebnisse hilft es, dass wir uns erst einmal in Erinnerung rufen, wie das Russlandbild in der deutschen Bevölkerung in den letzten Jahren aussah. Bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges hatte die deutsche Bevölkerung nämlich ein sehr ambivalentes Russlandbild, insbesondere was die empfundene Bedrohung durch Russland betrifft. In den letzten Jahren nahm im Durchschnitt nur ein Drittel der Befragten die russische Außen- und Sicherheitspolitik als eine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahr; ein Drittel war geteilter Meinung und ein Drittel erkannte kein Bedrohungspotenzial. Nur etwas mehr als ein Viertel der Befragten bewertete das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine als eine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands oder sorgte sich vor einem neuen Kalten Krieg zwischen Russland und dem Westen. Weniger als 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger fühlten sich von einem möglichen Kriegsausbruch in Europa oder den Spannungen zwischen Russland und dem Westen in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass das Gefühl der Bedrohung durch Russland vor dem Ukraine-Krieg in der deutschen Bevölkerung eher schwach ausgeprägt war und nur eine Minderheit einen militärischen Konflikt mit Russland fürchtete. 

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Ein Technikwart kommuniziert mit einem Piloten nach der Landung im Rahmen der NATO-Mission enhanced Air Policing South (eAPS) in Rumänien, am 24.02.2022.

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Die öffentliche Wahrnehmung Russlands dürfte sich infolge des Angriffs auf die Ukraine verändern. Welche Auswirkungen kann das haben?

Weiterführende Analysen des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zeigen, dass das Bedrohungsgefühl durch Russland einer der wichtigsten Einflussfaktoren für die Haltung der Befragten zur Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO ist. Insbesondere hat das bisher schwach ausgeprägte Bedrohungsgefühl die Bereitschaft in der Bevölkerung gebremst, die östlichen NATO-Länder stärker mit militärischen Mitteln gegen Russland zu unterstützen. Die öffentliche Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an den NATO-Missionen zur Sicherung der Ostflanke fiel bisher auch eher verhalten aus. Durch den Angriff auf die Ukraine hat sich das Gefühl der Bedrohung durch Russland jedoch schlagartig verändert. Laut den Ergebnissen einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, die am 23. März 2022 veröffentlicht wurden, fühlen sich inzwischen drei Viertel der Deutschen durch Russland bedroht. Vor dem Hintergrund unserer Forschungsergebnisse ist also anzunehmen, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine durch die Veränderung des Bedrohungsgefühls auch die öffentliche Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr an den Missionen zur Sicherung der NATO-Ostflanke erhöhen wird.

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Einsatzkarte des NATO-Engagements der Bundeswehr, im März 2022.

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Die Bundeswehr ist aber nicht nur an der Sicherung des Bündnisgebietes an der Ostflanke beteiligt, sondern liefert auch Waffen an die Ukraine. Dieser Punkt war lange umstritten.
Wie stehen die Bürgerinnen und Bürger zu den Waffenlieferungen?

Vor Kriegsausbruch lehnte eine klare Mehrheit deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine ab. So wurde am 28. Januar in den Medien über eine Forsa-Umfrage berichtet, in der sich 69 Prozent der Befragten gegen Waffenlieferungen aussprachen. In einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos vom 4. Februar, also knapp drei Wochen vor Kriegsausbruch, sprachen sich auch nur 15 Prozent für deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Nach Kriegsausbruch sah das Meinungsbild komplett anders aus. Ein paar Tage nach Kriegsbeginn bewerteten in einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL 78 Prozent der Befragten die Lieferung von Waffen an die Ukraine als richtig. Auch der ARD-Deutschlandtrend von Ende Februar/Anfang März berichtet in dieser Frage einen Zustimmungswert von 61 Prozent. Was die Lieferung von deutschen Waffen an die Ukraine angeht, hat der Kriegsausbruch also zu einem klaren Umdenken in der Bevölkerung geführt. Zumindest für den Moment und in diesem speziellen Kontext.

Ob dieses aktuelle Meinungsbild einen grundsätzlichen Einstellungswandel anzeigt oder ob es sich vielleicht nur um einen kurzlebigen Ausdruck der öffentlichen Empörung über den Angriffskrieg handelt, bleibt abzuwarten. Auch ist das jetzige Stimmungsbild nicht zwangsläufig auf andere Konfliktsituationen übertragbar. Die Daten der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragungen der letzten Jahre belegen, dass im Durchschnitt ungefähr zwei Drittel der Befragten Waffenlieferungen als Mittel der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Diese über viele Jahre stabile Haltung deckt sich auch mit einer im Durchschnitt eher pazifistischen außenpolitischen Orientierung der deutschen Bevölkerung. Nur weil wir im konkreten Fall des Ukraine-Kriegs beobachten können, wie größere Teile der Bevölkerung kurzfristig ihre Meinung ändern, heißt das noch nicht, dass sich in diesem Punkt etwas grundsätzlich oder nachhaltig verändert hat. Ich bin deshalb sehr gespannt zu sehen, wie sich der Ukraine-Krieg in unserer diesjährigen Bevölkerungsbefragung niederschlägt, auch und gerade mit Blick auf so umstrittene Aspekte wie deutsche Waffenlieferungen an befreundete Staaten. Die diesjährige Bevölkerungsbefragung werden wir im Juni und Juli durchführen.

Einstellung zur Höhe der Verteidigungsausgaben

Anmerkungen: Für die Jahre 1985, 1998 und 2011 stehen keine Daten zur Verfügung. Datenbasis: Bevölkerungsbefragungen des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr 2000–2002, 2005–2010, 2012–2020, Wehrpolitische Lage 1981–1984, 1986–1997, 1999, 2003–2004.

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Wenn sich das verteidigungspolitische Meinungsbild seit Kriegsbeginn in einigen Punkten bereits verändert hat, dann schließt sich daran natürlich die Frage an, ob es sich dabei nur um ein „Buschfeuer“ handelt oder ob man von einer echten Zeitenwende ausgehen kann?

Nehmen wir mal als Beispiel die öffentliche Meinung zur Höhe der deutschen Verteidigungsausgaben. Laut ARD-Deutschlandtrend von Ende Februar/Anfang März bewerten 69 Prozent der Befragten die Erhöhung der jährlichen Verteidigungsausgaben auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes als richtig. Kann man davon ausgehen, dass die öffentliche Zustimmung auf einem so hohen Niveau bleibt? Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich seriös beantworten. Wer allerdings über verlässliche Zeitreihen zum verteidigungspolitischen Meinungsbild verfügt, so wie das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, der kann vielleicht etwas aus der Vergangenheit lernen. Denn es gab in der jüngeren Geschichte durchaus Momente, die, genau wie jetzt der Ukraine-Krieg, als sicherheitspolitische Zeitenwende empfunden wurden, wie z.B. die Anschläge vom 11. September 2001 oder auch das Jahr 2014 mit der russischen Annexion der Krim, dem Erstarken des Islamischen Staates und dem Elitendiskurs rund um Deutschlands sicherheitspolitische Verantwortung in der Welt. Im Nachgang zu diesen beiden Zeitenwenden konnten wir erhebliche Veränderungen im verteidigungspolitischen Meinungsbild beobachten. Am deutlichsten bildete sich dies an der öffentlichen Zustimmung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben ab. Im Nachgang zu den Zeitenwenden 2001 und 2014 verdoppelte sich die öffentliche Zustimmung zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben: von jeweils etwas über 20 Prozent auf über 40 Prozent. In beiden Fällen sind die Zustimmungswerte in den Folgejahren zwar wieder gesunken, aber gerade im Nachgang zur Zeitenwende 2014 haben sich die Zustimmungswerte dauerhaft auf einem Niveau eingependelt, das deutlich über dem vor 2014 lag. Im Vergleich dazu war der Stimmungswandel im Jahr 2001 tatsächlich nur ein „Buschfeuer“. Wie diese beiden Beispiele zeigen, ist nicht klar vorhersagbar, ob eine politische Zeitenwende auch zu einer nachhaltigen Veränderung der verteidigungspolitischen Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger führt. Deshalb ist es ja so wertvoll, dass das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr über verlässliche Zeitreihen verfügt, und so wichtig, dass diese kontinuierlich fortgeführt werden - als der verlässliche Gradmesser der öffentlichen Meinung zur deutschen Verteidigungspolitik.

Literatur, Podcast und Downloads

Graf, Timo (2022). Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in Deutschland 2021. Zentrale Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung. Forschungsbericht 132. Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Graf, Timo, Steinbrecher, Markus, Biehl, Heiko & Scherzer, Joel (2022). Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in Deutschland 2021. Ergebnisse und Analysen der Bevölkerungsbefragung. Forschungsbericht 131. Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Graf, Timo (2022). Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wie steht es um die Bündnistreue in der Bevölkerung? In: Hartmann, U. & von Rosen, C. (Hrsg.), Jahrbuch Innere Führung 2021/2022: Ein neues Mindset Landes- und Bündnisverteidigung? (S. 129-155). Berlin: Miles Verlag

Graf, Timo (2022). Die öffentliche Meinung über die Bundeswehr: Ergebnisse des Trendradars. „Die Lage“, Podcast des Deutschen Bundeswehrverbands, 08.01.2022

Graf, Timo (2021). Trendradar 2021: Die öffentliche Meinung zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 2010-2020. Forschungsbericht 129. Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Steinbrecher, Markus (2021): Im Urteil der Bürgerinnen und Bürger: Militärbezogene Bevölkerungsbefragungen. In: Elbe, Martin/Biehl, Heiko/Steinbrecher, Markus (Hg.): Empirische Sozialforschung in den Streitkräften. Positionen, Erfahrungen, Kontroversen (S. 323-349). Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag

Graf, Timo (2021). Offene Flanke: Zur Bündnistreue der Deutschen. In: Zeitschrift für Innere Führung, Ausgabe 3/2021: 32–35

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