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Der Suwalki-Korridor

Der Suwalki-Korridor

Datum:
Ort:
Polen
Lesedauer:
6 MIN

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Als Suwałki-Korridor (auch: Suwałki-Lücke) bezeichnet man im militärischen Sprachgebrauch die Zone zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad, durch die auch die Grenze zwischen Litauen und Polen verläuft. Benannt ist er nach der gleichnamigen polnischen Stadt. Der Korridor gilt geostrategisch als ein bedeutendes, grenznahes Schlüsselgelände in Mittelosteuropa und möglicher Ausgangspunkt für eine militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die NATO.

Teaserbild Suwalki-Korridor

Historische Ereignisse in Karten

Bundeswehr/Andrea Nimpsch

An seiner engsten Stelle ist der Korridor 65 km Luftlinie breit, die Länge der Grenze selbst beträgt 91 km. Abseits der wenigen Ortschaften dieser Städte ist der Korridor schwach besiedelt und wird agrarisch genutzt. Das Gelände ist geprägt von Felderwirtschaft und Waldgebieten. Auf beiden Seiten der polnisch-litauischen Grenze bilden der quer zu einer möglichen russischen Angriffsrichtung verlaufende Fluss Nẽmunas (deutsch: Memel) und zahlreiche Seen natürliche Geländehindernisse. Die grenzüberschreitenden Verbindungen zwischen Litauen und Polen bilden zwei Fernverkehrsstraßen und eine Eisenbahnlinie. Die einzige Fernverkehrsstraße in Ost-West-Richtung ist die Straße von Vilnius nach Kaliningrad.

Landkarte

Der Suwalki-Korridor verbindet Polen mit dem Baltikum

Bundeswehr/ZMSBw

Historische Bedeutung

Die Bedeutung des Suwałki-Korridors als grenznahes Schlüsselgelände ist verhältnismäßig neu. Bis 1914 verlief hier die Grenze zwischen dem Deutschen und dem Russischen Reich. Den Anker der deutschen Verteidigungsmaßnahmen in der damaligen preußischen Provinz Ostpreußen bildete die Festung Königsberg, das heutige Kaliningrad. Für den Aufmarsch beider Armeen spielte aber nicht die Grenze selbst, sondern die weiter südwestlich gelegene Masurische Seenplatte die entscheidende Rolle. Nach der Abwehr der russischen Offensive zu Beginn des Ersten Weltkrieges verlagerte sich die Front ab Februar 1915 und dann bis Kriegsende in das Russische Reich hinein. Die Raumverhältnisse änderten sich erst wieder im Verlauf der Bürger- und Staatsbildungskriege in Estland, Lettland und Litauen zwischen 1918 und 1920. Dort griff nun auch die neu gegründete Republik Polen ein. In der Zwischenkriegszeit waren die Geschicke des Suwałki-Gebiets bestimmt vom polnisch-litauischen Konflikt um Grenzziehung und ethnische Minderheiten. Nachdem das Deutsche Reich 1939 Polen und die Sowjetunion 1940 die Baltischen Staaten überfallen und zerschlagen hatten, standen sich an der Grenze wieder die Armeen von zwei kontinentalen Großmächten, des Deutschen Reiches und der Sowjetunion, direkt gegenüber. Im Verlauf des Angriffs der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 spielte die Region keine und im Zusammenhang mit dem deutschen Rückzug nur im Zusammenhang mit der Schlacht um Ostpreußen zwischen Januar und April 1945 eine Rolle. Im Kalten Krieg lag Suwałki im Grenzgebiet zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen und damit innerhalb des Warschauer Pakts.

Suwałki in der Debatte

Mit der Unabhängigkeit von Litauen und Belarus sowie der Entstehung der Exklave Kaliningrad war 1991 ein neues, regionales Vierländereck in Europa entstanden. Die NATO-Beitritte Polens (1999) und der Baltischen Staaten (2004) führten dazu, dass der Korridor in die Planungen zur Verteidigung der neuen Ostflanke des Bündnisses einbezogen wurde.

Militärfahrzeug vor Panzersperren

Die polnisch-russische Grenze in der Nähe von Dabrowka ist mit Sperren gesichert und wird vom polnischen Militär überwacht.

picture alliance/Sipa USA

Mit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine 2014 erlangte die militärische und nun auch öffentliche Debatte um die Bedeutung des Suwałki-Korridors eine neue Dringlichkeit. Die Debatte kreiste unter anderem um die geringe Tiefe des Raumes, die beschränkten nachrichtendienstlichen Kenntnisse über mögliche russische Angriffsvorbereitungen, Fragen der logistischen Beschränkungen und die entfernte Dislozierung der Hauptkräfte der NATO-Verbündeten. Unter diesen Bedingungen schien ein mit Elementen der hybriden Kriegführung eingeleiteter, überfallartiger Stoß der russischen Armee aus Belarus heraus in Richtung auf Kaliningrad ein bedrohliches Szenario. Damit wäre die einzige Landverbindung zwischen den Baltischen Staaten und deren Alliierten unterbrochen, noch bevor die NATO eigene Kräfte mobilisiert und verlegt hätte.

Der Belarus-Faktor

Ein für derartige Szenarien ungewöhnlicher Faktor ist, dass ein möglicher Angriff der russischen Streitkräfte nicht allein aus dem eigenen Staatsgebiet heraus geführt würde, sondern aus einem Nachbarstaat, der Republik Belarus. Diese ist seit 1999 durch eine Staatenunion in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht eng an Russland gebunden. Die russischen Streitkräfte unterhalten in Belarus eine Streitkräftegruppierung und bauen eine integrierte Kommandostruktur aus. Öffentliche Aufmerksamkeit hat 2023 die Aufnahme der Söldnertruppe „Wagner“ erlangt. In mehreren Manövern und Übungen haben die Armeen beider Staaten ihre (ungleiche) Allianz in den letzten Jahren vertieft und in ihrer Propaganda auch öffentlichkeitswirksam herausgestellt. Den Krieg gegen die Ukraine führen die Russen seit 2022 auch vom belarussischen Territorium aus. Wie weit der Machthaber Alexander Lukaschenko mit der Preisgabe der eigenen Souveränität in militärischer Hinsicht gehen wird, ist unter Beobachtern umstritten. Unstrittig aber ist, dass die Unterstützung durch Belarus eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg eines russischen Angriffs auf das NATO-Territorium im Suwałki-Korridor wäre.

Die Bastion Kaliningrad

Schiff im Hintergrund, Uferverstärkungen im Vordergrund

Ein russisches Militärschiff fährt in Richtung Hafen in der Region Kaliningrad.

picture alliance/dpa

Auch die militärische Rolle des anderen Eckpunktes des Suwałki-Korridors, der russischen Exklave Kaliningrad, ist außergewöhnlich. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und dem damit verbundenen Verlust mehrerer wichtiger Ostseehäfen an die Baltischen Staaten kommt ihr eine erhöhte militärische, maritime und nachrichtendienstliche Bedeutung zu. Im Falle eines russischen Angriffs im Suwałki-Korridor könnte diese strategische Bastion Ausgangspunkt für hybride Angriffe, Spezialoperationen und Störungen des elektromagnetischen Spektrums sein. In Kaliningrad ist ein Armeekorps mit mechanisierten Kräften sowie bedeutenden Luftverteidigungskräften und Raketentruppen stationiert, darunter Kurzstreckenraketen vom Typ 9K720 „Iskander“ (SS26 „Stone“). Auch der Hauptstützpunkt der Baltischen Flotte und zwei Militärflugplätze befinden sich dort. Für die russische Seite stellt die Versorgung der Exklave nach den Einschränkungen im grenzüberschreitenden Verkehr und Handel sowie der im Februar 2025 erfolgten Abkoppelung der Baltischen Staaten vom russisch dominierten BRELL-Stromnetzverbund ein ernstes Dauerproblem dar. Diese durch die eigene Politik verschuldete Isolation der Exklave bietet der russischen Seite aber stets den Vorwand für eine „Befreiung“ Kaliningrads – nach dem Drehbuch der Krim und der ostukrainischen Oblaste im Jahre 2014.

Militärischer Kräfteaufbau der NATO seit der russischen Aggression 2014

Auf den Gipfeln in Wales 2014 und Warschau 2016 hat die NATO als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine ein Bündel von Maßnahmen zur Abschreckung Russlands beschlossen, das auch unmittelbare und mittelbare Folgen für das Suwałki-Szenario zeitigte. Dazu zählen unter anderem die Aufstellung einer Schnellen Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force) und von vier multinationalen Battlegroups in der Region selbst (enhanced Forward Presence), von denen die deutsch geführte Battlegroup in Litauen in unmittelbarer Nähe zum Korridor stationiert ist. Dazu zählt ferner der Ausbau des Air Policing durch NATO-Kräfte und der logistischen Fähigkeiten. 2023 beschloss die Bundesregierung schließlich die Aufstellung eines dauerhaft und in unmittelbarer Nähe zum Suwałki-Korridor stationierten Gefechtsverbands, der Panzerbrigade 45.

Mit der Invasion der Ukraine 2022 haben sich die Verhältnisse im Suwałki-Korridor weiter geändert. Das Bewusstsein für die hybride Bedrohung ist weiter gestiegen. Für die möglicherweise auch im Baltikum zum Einsatz kommende Waffentechnik Russlands liegen inzwischen wertvolle Erkenntnisse vor. Wichtige Einsichten konnten NATO-Analysten auch über die konventionelle Kampfführung der anderen Seite gewinnen. Die bisher in Kaliningrad stationierten Verbände der russischen Landstreitkräfte haben überdies in der Ukraine schwere Verluste erlitten. Insgesamt sind die militärischen Ressourcen Russlands – trotz bedeutender Anstrengungen bei der Kriegswirtschaft und Rüstung – weiter abgebraucht worden. Die wichtigste Veränderung aber ist eine strategische: Mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO 2023/24 haben sich die regionalen Kräfteverhältnisse und die Erstreckung der Ostflanke verändert.

Karte und Text zum Herunterladen

von Markus Pöhlmann

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Orte und Räume

An der Grenze zu Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad ist die Lage Litauens an der heutigen NATO-Ostflanke von zentraler Bedeutung.