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Litauen-Dossier

Die militärische Bedeutung Klaipedas im Kalten Krieg

Geschichte
Datum:
Ort:
Litauen
Lesedauer:
5 MIN

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Klaipėda ist Litauens einziger großer Hafen. Zu Zeiten der Sowjetunion war die Stadt daher wichtiger Standort von Werftanlagen der Baltischen Flotte. Auch eine Garnison der sowjetischen Landstreitkräfte lag dort. Seine für Deutschland wichtigste Bedeutung gewann die Stadt aber erst nach Ende des Ost-West-Konflikts. Über ihren Fährhafen lief 1990 bis 1994 ein Großteil der Transporte der aus der Ex-DDRDeutsche Demokratische Republik abziehenden ehemals sowjetischen Truppen.

Russische Panzer vor einem Frachtschiff

Beim Abzug der in der DDRDeutsche Demokratische Republik stationierten Truppen der Sowjetarmee wurden Panzer auf dem Seeweg zurückgeführt. Hier ist zu sehen, wie am 7.9.1990 das sowjetische Schiff "Kompositor Mussorgski" in Rostock 80 Kampfpanzern an Bord nahm.

BArch,Bild 183-1990-0911-404/Zentralbild Jürgen Sindermann

Draugystė – litauisch für Freundschaft

Wer die Nachrichtensendung des DDRDeutsche Demokratische Republik-Fernsehens sah oder Zeitungen las, dem begegnete Klaipėda als Topthema erstmals am 3. Oktober 1986: 

An diesem Tag wurde zwischen Mukran auf Rügen und der sowjetischen Hafenstadt Klaipėda der Linienfährverkehr aufgenommen. Sechs moderne große Eisenbahnfähren sollten über die Ostsee die DDRDeutsche Demokratische Republik und die Sowjetunion verbinden. Dass Klaipėda in der litauischen Sowjetrepublik lag und unter seinem alten Namen Memel eine lange deutsche Geschichte hatte, war irrelevant oder wurde bewusst ausgeblendet. Um zwei Fährschiffe gleichzeitig be- und entladen zu können, wurden in beiden Häfen zwei Doppelstockladebrücken gebaut. Nur vier Stunden sollte eine Fähre für Ent- und Beladung im Hafen bleiben müssen. Bis zu 1250 Eisenbahnwaggons sollten pro Tag im Fährhafen Klaipėda abgefertigt werden. Gemeint waren Güterwagen. Reisezugverkehr, Autotransport, auch nur Passagiere waren nicht vorgesehen. 14.500 Tonnen pro Tag oder mehr als fünf Millionen Tonnen Güter im Jahr sollten über die Ostsee transportiert werden. Das hätte 20 bis 30 Prozent des Güterverkehrs zwischen der DDRDeutsche Demokratische Republik und der Sowjetunion entsprochen. Dafür wurde der große Güterbahnhof Draugystė (litauisch für „Freundschaft“) im Süden vor der Stadt gebaut. 

Fährhafen mit geheimer zweiter Funktion

Auch der Fährhafen lag südlich der Stadt am Kurischen Haff, von der Ostsee durch die Kurische Nehrung getrennt. Die großen Fähren mussten also auf dem Weg in die offene See die Stadt passieren. Die geschützte Lage des Fährhafens hatte seinen Grund in der geheimen zweiten Funktion des Hafens und der Fährverbindung. Sie dienten militärischen Zwecken, im Krieg und schon im Frieden. Mittels der großen Fähren sollten Waffen, Ausrüstung, Nachschub und auch Truppentransporte für die in der DDRDeutsche Demokratische Republik stationierten sowjetischen Truppen sicher durchgeführt werden. Warum nur über die Ostsee sicher? Weil die Führungen in Moskau und Ost-Berlin die zwischen ihren Staaten liegende Volksrepublik Polen seit den großen Streiks 1980 und der Verhängung des Kriegsrechts 1981 nicht mehr für stabil und sicher hielten. Das Risikogebiet Polen sollte auf dem Seeweg umfahren werden. Für diese Kausalität spricht auch die Unterzeichnung der Vereinbarung über die neue Fährverbindung im Jahr 1982. 

Abzug der ehemals sowjetischen Truppen aus der Ex-DDRDeutsche Demokratische Republik

Was keiner der Planer ahnte: Ihre große Leistungsfähigkeit zeigten die Fähren dann ab 1991, als über sie die Masse der Bewaffnung und des Materials der aus Ostdeutschland abziehenden sowjetischen Streitkräfte zurück in die Heimat transportiert wurde. Polen, das sich selbst von sowjetischer Herrschaft befreit hatte, war in der sowjetischen Lagebeurteilung weiterhin ein unsicheres Transitland. Die brisanteste Fracht an Bord der Fähren waren sicher die in der Ex-DDRDeutsche Demokratische Republik gelagerten Atomsprengköpfe und deren Trägersysteme. 1991 befreiten sich auch die Litauer und die zwei anderen baltischen Völker aus der Sowjetunion, zum Jahresende wurde die einstige Supermacht aufgelöst. 

Der Rücktransport der nun ex-sowjetischen Truppen aus der Ex-DDRDeutsche Demokratische Republik dauerte bis Sommer 1994 und lief weiterhin primär über Klaipėda. Mit dem Ende der Sowjetunion und der schweren wirtschaftlichen Krise dort und, wenn auch weniger dramatisch, in Ostdeutschland sank auch die Bedeutung der Fährlinie rapide. 2016 wurde sie eingestellt. Die Anlagen des Fährhafens wurden abgerissen.

Lokomotiven und leere Eisenbahnwaggons

Leere Züge standen am 08.11.1991 im Hafen von Mukran auf Rügen. Von hier verkehrten Fähren in das litauische Klaipeda.

picture alliance / Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB

Schwimmdocks und Werften der Baltischen Rotbannerflotte

Klaipėdas militärische Bedeutung ging über den Fährhafen hinaus. Die Stadt war auch wichtiger Standort der sowjetischen See- und Landstreitkräfte. Die „Klaipeda Naval Base and Shipyard“ findet sich in einer 2003 offengelegten, zuvor als „top secret“ klassifizierten Liste der CIA über die Baltische Rotbannerflotte von 1968. Aufgelistet und in einer Satellitenaufnahme zu sehen sind zwei größere Schwimmdocks und zwei Marinewerften, eine für Neubauten, eine für Reparaturen. Die Werftfunktion Klaipėdas war laut amerikanischer Aufklärung für die sowjetische Baltische Rotbannerflotte bedeutender als deren kleine, wenn auch eisfreie Marinebasis dort, auf der „PT boats“, also Patrouillen-Torpedo-Boote, stationiert waren.

Standort der 3. Garde-Mot.-Schützendivision

Lagekarte von Klaipeda

Damals Top Secret: Lagekarte von Klaipeda aus dem CIA/DIA-Report über den Baltischen Militärbezirk der Sowjetunion aus dem Jahr 1965.

Bundeswehr/Klaus Storkmann

Die Sowjetarmee hatte ihre Kasernen im Norden Klaipėdas. In einer 2004 offengelegten, zuvor ebenfalls als „top secret“ klassifizierten, 1965 von der CIA und der DIA erstellten Liste über den Baltischen Militärbezirk der sowjetischen Armee findet sich auch die 108 Hektar (gut einen Quadratkilometer) große Kaserne 350 Meter nordwestlich des Bahnhof in Klaipėda. Detailliert aufgelistet und mit einer Skizze und Satellitenfotos bebildert werde alle erkennbaren Gebäude. Was sich in der CIA-Liste nicht fand und wohl den Amerikanern auch im Detail nicht bekannt war, waren die darin stationierten Einheiten. 

In Klaipėda war seit 1957 mit der 3. Garde-Mot.-Schützendivision eine der zwei in der litauischen Sowjetrepublik dislozierten sowjetischen Divisionen stationiert. In Raum Klaipėda lagen eines der drei Mot. Schützenregimenter, das Panzerregiment, das Artillerieregiment und das Fla-Raketenregiment sowie weitere acht Bataillone der Division. Im Oktober 1989 wurde die 3. Garde-Mot.-Schützendivision aus den Landstreitkräften herausgelöst und als 3. Garde-Mot.-Schützenküstenverteidigungsdivision der Baltischen Rotbannerflotte unterstellt. 

In der Kaserne ist heute die Universität

1993 wurden die sowjetischen Regimenter und Bataillone aus Klaipėda abgezogen, die Division zum 1. September 1993 aufgelöst. In den alten Stabsgebäuden der leicht erkennbar von der preußischen Armee errichteten Kaserne ist heute die Universität Klaipėda untergebracht. Von der preußischen Armee gebaut? Ja, Klaipėda und das Memelland hatten bis 1920 eine lange preußische Geschichte; die Kaserne wurde 1904–1907 errichtet. Die deutsche Wehrmacht nutzte sie dann nach dem Einmarsch ins Memelland im März 1939. Ende Januar 1945 eroberte die Rote Armee die Stadt und übernahm die Kaserne. Deren nördlichen Bereiche wurden nach 1993 abgerissen. Dort steht heute das Einkaufszentrum „Studlendas“.

Backsteingebäude im Kasernenstil

Eine ehemalige preußische Kaserne als heutiger Standort der Universität Klaipėda.

Bundeswehr/Jörg Echternkamp

Kein prioritäres Ziel für amerikanische Atomwaffen

Die Klaipėda von den Amerikanern damals beigemessene Bedeutung zeigte die heute ebenfalls offen zugängliche nukleare Zielliste aus dem Jahr 1959. In der „Urban-Industrial Target List Part I“ steht Klaipėda als Ziel mit der Priorität 550. Zum Vergleich: Vilnius hatte Priorität 51, Kaliningrad Priorität 31 und Riga Priorität 26. (Auf Platz eins und zwei standen Moskau und Leningrad.) Die Erklärung für diese angesichts der zuvor beschriebenen militärischen Bedeutung der Stadt erstaunlich geringe Priorisierung lag in der Bewertung der Ziele ausschließlich nach der Bedeutung der dortigen Industrieanlagen und Verkehrswege. Daher lag das einzige Zielkoordinatenpaar (DGZ, Designated Ground Zero) auch nicht auf der Kaserne im Norden der Stadt, sondern knapp südostwärts des Hauptbahnhofs in einem Industriegebiet an den Gleisen Richtung Osten und Süden. Hierin sahen die Amerikaner die Bedeutung Klaipėdas, wohlgemerkt 1959. Der große Fährhafen wurde ja erst in den 1980er-Jahren erbaut. Ob er auf einer aktualisierten nukleare Zielliste zu finden war, wissen wir heute (noch) nicht. 

von Klaus Storkmann

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Orte und Räume

An der Grenze zu Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad ist die Lage Litauens an der heutigen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Ostflanke von zentraler Bedeutung.

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