63. ITMG - Abschlussrede

Abschlussrede: Rückblick und Ausblick

Abschlussrede: Rückblick und Ausblick

Datum:
Ort:
Potsdam
Lesedauer:
6 MIN

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Zum Abschluss der 63. ITMG hielt Prof. Dr. Searle, Leitender Wissenschaftler des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, eine Abschlussrede. In seiner Rede zog Alaric Searle ein persönliches Resümee und gab einen Ausblick über die kommenden Herausforderungen der internationalen Militärgeschichtsschreibung zur Zwischenkriegszeit. 

Rückansicht von etwa 20 Teilnehmer, auf dem Podium Mann mit Brille vor seiner Präsentation.

Die Abschlussrede wurde von Prof. Dr. Searle gehalten

Bundeswehr/Andrea Nimpsch

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Gäste, 

wir kommen jetzt zum Abschluss unserer 63. ITMG. Ich habe am Beginn der Tagung erwähnt, dass es mit Blick auf die Zwischenkriegszeit mehrere Länder gibt, die nicht genug Beachtung in der Forschung gefunden haben. Ich spreche wohl für alle Teilnehmer, wenn ich sage, dass wir diesbezüglich einen ersten Schritt in der richtigen Richtung gemacht haben.

Wir haben aber nicht nur etwas mehr über die sogenannten „kleineren Länder“ erfahren, sondern auch über Bereiche der Militärgeschichte, die manchmal weniger Interesse erwecken, da sie nicht zu den „Lieblingsthemen“ der Forschung gehören, etwa über die Luftfahrtindustrie, über Vorschläge für eine International Air Force, die Auswahlverfahren der Offiziere, über Offiziersausbildung, irreguläre Kriegführung, Militärberichte sowie Militärattachés. Und last but not least haben wir zwei interessante Fallspiele kennengelernt, die unser Wissen über Mechanisierung und Motorisierung in der Zwischenkriegszeit erweitert haben. Wenn wir die Vorträge Revue passieren lassen, welche vorläufigen Rückschlüsse können wir daraus ziehen? Es ist sicherlich etwas verfrüht, hier endgültige Ergebnisse zu erwarten. Es gibt jedoch einige Gedanken, die ich zusammenfassen will, um unsere Abschlussdiskussion durch food for though“ anzuregen. 

Als erste Beobachtung will ich mit etwas Offensichtlichem beginnen. Die Militärgeschichtsschreibung über die Zeit von 1919 bis 1940 wurde viele Jahre maßgeblich von zwei miteinander verwobenen Fragen dominiert. Zuerst: Warum und wie hat die deutsche Wehrmacht Frankreich innerhalb von sechs Wochen besiegt? Die damit eng verbundene Frage war sicherlich: Warum hat Frankreich so schnell verloren, nachdem viele Experten nur einige Wochen vor Beginn des Feldzuges behauptet hatten, dass la grande nation die stärkste Militärmacht Europas sei? Anders ausgedrückt: Die Forschung über die Zwischenkriegszeit diente häufig dazu, eine Erklärung zu liefern, warum Deutschland den Frankreichfeldzug so erfolgreich und schnell abschließen konnte. Daher lag der Fokus vor allem auf Deutschland und Frankreich sowie in der Folge auf Großbritannien und Italien. Nur ab und zu gab es eine kurze Erwähnung von Holland und Belgien. 

Die Zwischenkriegszeit als eine historische Epoche hat man eher in den Veröffentlichungen des Fachgebiets Internationale Beziehungen gefunden. Ich meine daher, dass die Militärgeschichte die Ära zwischen den Weltkriegen als eine eigenständige Epoche neu entdecken muss. Diese Behauptung führt zu meiner ersten Frage: Müssen wir die Geschichte der Zwischenkriegszeit neu schreiben? Ich habe nicht vor, sie auch nur ansatzweise zu beantworten. Ich stelle sie lediglich für die spätere Diskussion in den Raum. Wenn wir uns ihr annähern wollen, drängt sich die weitere Frage auf, wie die Rüstungsindustrie Streitkräfte, Regierungen und internationale Beziehungen beeinflusst hat. Ich denke hier an einen ganz bestimmten Aspekt. Wir haben gelernt, dass die Rüstungsfirmen in der Tschechoslowakei eine wichtige Rolle für Jugoslawien gespielt haben. Jugoslawien war aber nicht der einzige Kunde der tschechoslowakischen Waffenindustrie. Daher gilt es herauszufinden, wie die internationale Rüstungsindustrie in der Zwischenkriegszeit funktioniert und expandiert hat? Wenn es kein Münchner Abkommen vom 30. September 1938 gegeben hätte, wie hätten sich die Kräfteverhältnisse bis zum September 1939 entwickelt? Es gibt mehrere Fragen, die man über die transnationale Rüstungsindustrie stellen könnte, aber bisher bleibt dieser Aspekt unterbelichtet, obwohl individuelle Studien über Einzelstaaten durchaus vorhanden sind.

Tagungsteilnehmer in Uniform und ziviler Kleidung sitzen im Saal und verfolgen die Vorträge

Die Tagungsteilnehmer während der 63. ITMG im Tagungsraum.

Bundeswehr/Andrea Nimpsch

Eine weitere Dimension betrifft die Nationen, die als Modelle für die kleineren Länder fungiert haben. Dass manche Nationen, wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien, für andere ein Vorbild abgaben, hat sich in den letzten zwei Tagen bestätigt. Die 100.000-Mann-Reichswehr beispielsweise war voller Ideen, nur fehlten ihr lange Zeit die entsprechende Ausrüstung und moderne Waffen. So war sie aber ein brauchbares Modell für kleinere Staaten aufgrund der vielen Ideen, die aus diesem Mangel erwuchsen. Frankreich wiederum hatte mehrere Panzer des Typs Renault FT-17 zu verkaufen, die häufig mit Dienstvorschriften und Ausbildern geliefert wurden, was für kleinere Länder ein interessantes Paket darstellte. Auch Großbritannien war mit alten und neuen Waffen auf dem internationalen Rüstungsmarkt vertreten und bot gleichzeitig Konzepte an, was den Land-, Luft und Seekrieg betraf. Die Frage, die hier zu stellen ist, lautet: Welches dieser drei genannten Länder (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) war bei den kleineren Ländern der Bezugspunkt und für welche Teilstreitkraft? 

Sicherlich spielte die Sprache eines Landes eine Rolle in der Entscheidung, ob Frankreich, Deutschland oder Großbritannien als Ideenfundgrube oder Waffenlieferant dienen sollte. Es gab jedoch Unterschiede, ob Anregungen für eine Marine, Luftwaffe oder Armee gesucht wurden. Diese Überlegungen waren differenziert und nicht zwangsläufig kulturell geprägt. Wir sehen aber, dass sich Länder militärisch gesehen in zwei Kategorien aufteilen lassen: in Lieferanten und Konsumenten. Dies betraf Bereiche wie die Rüstungsindustrie, die Militärwissenschaft und die Doktrin als Beispiele für militärische „Waren“, die kleinere Länder erwerben wollten. Wollen wir diesen Aspekt verstehen, müssen wir uns mit einer weiteren Ebene des militärischen „eco-systems“ der Zwischenkriegszeit auseinandersetzen, den militärischen transnationalen „epistemic communities“. Hier reden wir von einem System der Beschaffung und des Austauschs von Ideen durch Militärattachés, militärische Fachzeitschriften, Manöverbeobachtung, Kriegsberichterstattung, Spionage, Doktrinentwicklung, und vieles mehr. 

Wenn die Zwischenkriegszeit als eine eigenständige Epoche verstanden wird, macht eine solche Untersuchung Sinn. Dies würde auch einiges zu einer transnationalen Militärgeschichte der Zwischenkriegszeit beitragen. Hier ist anzuschließen: Wie groß war die internationale „epistemic military community“ in der Zwischenkriegszeit und welche Berührungspunkte gab es? Es gibt aber noch einen anderen Aspekt dieser Zeitepoche der Militärgeschichte: die politischen Rahmenbedingungen. Hier meine ich den Völkerbund, die Abrüstungsbestrebungen sowie die internationale Entspannungs- und Friedenspolitik. 

Die Genfer Abrüstungskonferenz im Jahre 1932 ist hierbei ein Meilenstein. Auch die verschiedenen bilateralen Nichtangriffsabkommen spielten eine Rolle. Ich verstehe diese Rahmenbedingungen der Epoche nicht als eine Art Hintergrundgeschehen, das irgendwie die Militärpolitik bestimmt hat. Politiker wurden von Offizieren beraten. Die Genfer Abrüstungskonferenz benötigte Offiziere als Experten, genauso wie die verschiedenen Verträge nach dem Ersten Weltkrieg. Diese internationalen Ereignisse gehören auch zu einer transnationalen Militärgeschichte der Zwischenkriegszeit. Daraus folgt die nächste Frage: Wie stark waren Offiziere und das Militär in die Hauptereignisse des internationalen Systems in dieser Epoche eingebunden?

Aus meinen soeben aufgeworfenen Gedanken kristallisieren sich letztendlich drei Ebenen einer neuen Militärgeschichte heraus: erstens eine nationale Ebene, wobei die kleineren Länder zukünftig mehr Beachtung finden müssen; zweitens eine internationale „epistemic community“ von Militärexperten, die als ein eigenständiges „eco-system“ untersucht werden kann (dieses Phänomen wurde bislang nur ansatzweise erforscht, normalerweise ohne die „kleineren“ Länder); drittens die große Politik – den Völkerbund, die Genfer Abrüstungskonferenz, bilaterale Abkommen, die Allied Control Commission, usw. Für eine Gesamtanalyse der Zwischenkriegszeit erscheinen mir auf den ersten Blick diese drei Ebenen als schlüssig, wobei sich jedoch ein Problem auftut: Durch die Auflösung  mancher Vielvölkerstaaten nach dem Ersten Weltkrieg sind in den neuen Nachfolgestaaten Streitkräfte mit Offizieren entstanden, die ihre (militärische) Sozialisation in einer anderen Armee, Luftwaffe oder Marine erlebt hatten. 

Hinzu kommt die ethnische Dimension als ein Problemkomplex der Zwischenkriegszeit, wie sich in manchen Beiträgen der Tagung gezeigt hat. Unter Umständen könnte diese ethnische Frage etwas sein, das die von mir identifizierten drei Ebenen durchkreuzt. Summa summarum denke ich, dass auf dieser Tagung folgendes klar geworden ist oder zumindest mir klar geworden ist: Wenn man von den alten Fragen der Militärgeschichte absieht, die häufig vom Handeln der Großmächte abgeleitet wurden, so muss man feststellen, dass die Zwischenkriegszeit (1919-1939) eine eigenständige historische Epoche der Militärgeschichte darstellt. Die Phänomene, die sich zeigen, sind komplex, miteinander verwoben und bedürfen einer Analyse auf mindestens den drei von mir soeben skizzierten Ebenen – und zwar für die Großmächte wie auch für die kleineren Staaten.

von Alaric Searle

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63. ITMG - Streitkräfte zwischen den Weltkriegen

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