Was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen?
Was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen?
- Datum:
- Ort:
- Potsdam
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Russlands großangelegte Invasion der Ukraine führte 2022 zu teils dramatischen Veränderungen im verteidigungspolitischen Meinungsbild in Deutschland. Was bleibt von der Zeitenwende in den Köpfen? Die repräsentativen Ergebnisse der jährlichen Bevölkerungsbefragung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr geben Antworten. An der Umfrage aus dem Jahr 2023 nahmen über 2.200 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger teil.
Mehrheit sieht Russland weiterhin als Bedrohung
Infolge des Ukraine-Krieges ist die ehemals ambivalente Wahrnehmung Russlands in der deutschen Bevölkerung der Erkenntnis gewichen, dass Russland eine Sicherheitsbedrohung darstellt (vgl. Abbildung 1). Im Jahr 2023 nimmt eine klare Mehrheit Russlands Außen- und Sicherheitspolitik (64 Prozent), militärische Aufrüstung (62 Prozent) und militärisches Vorgehen in der Ukraine (61 Prozent) sowie Cyberangriffe aus Russland (64 Prozent) als Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahr. Allerdings haben Befragte mit einer Wahlpräferenz für die AfD oder die Linke sowie die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland im Durchschnitt eine schwächer ausgeprägte Bedrohungsperzeption als die entsprechenden Vergleichsgruppen.
Bürgerinnen und Bürger: Kriegsangst gesunken, Unsicherheit bleibt
Trotz des andauernden Krieges in der Ukraine ist die Angst der Bürgerinnen und Bürger vor Krieg in Europa im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesunken: Fühlten sich 2022 annähernd die Hälfte der Befragten durch Krieg persönlich bedroht (45 Prozent), so sinkt dieser Anteil 2023 auf ein Drittel (34 Prozent). Parallel dazu hat sich das persönliche Sicherheitsgefühl der Befragten leicht verbessert (61 Prozent positiv; +5 Prozentpunkte). Die Spannungen zwischen dem Westen und Russland beeinträchtigen das persönliche Sicherheitsgefühl dennoch weiterhin stark: 55 Prozent (-5 Prozentpunkte) fühlen sich hiervon bedroht. Auch die Beurteilung der weltweiten Sicherheitslage durch die Bürgerinnen und Bürgern fällt wenig positiv aus (17 Prozent positiv; +4 Prozentpunkte).
Eine Mehrheit fühlt sich durch Russland bedroht und befürwortet deshalb die Ertüchtigung der Bundeswehr. Die Bürgerinnen und Bürger verlangen nach Schutz.
Großer Rückhalt für Ertüchtigung der Bundeswehr
Als Reaktion auf die veränderte Bedrohungslage stieg die öffentliche Zustimmung zur finanziellen und personellen Stärkung der Bundeswehr im Jahr 2022 auf einen historischen Höchstwert. Im Jahr 2023 hält sich der gesellschaftliche Rückhalt für die Ertüchtigung der Bundeswehr auf dem hohen Niveau des Vorjahres: 57 bzw. 56 Prozent (jeweils -2 Prozentpunkte) befürworten eine weitere Erhöhung des Verteidigungsetats sowie der Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr (vgl. Abbildung 2). Nur eine Minderheit von jeweils 8 Prozent spricht sich für eine Verringerung der Verteidigungsausgaben und des Personalumfangs der Bundeswehr aus, während 31 bzw. 32 Prozent für ein gleichbleibendes Niveau plädieren.
Weiterführende Untersuchungen zeigen, dass diejenigen Befragten, die Russland als eine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands wahrnehmen, der Erhöhung der Verteidigungsausgaben und des militärischen Personals sehr viel stärker zustimmen als diejenigen, die Russland nicht als Bedrohung der nationalen Sicherheit betrachten oder eine ambivalente Bedrohungswahrnehmung haben.
Einstellung zur Bundeswehr auf Allzeithoch
Die seit Jahrzehnten positive Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zur Bundeswehr erreicht im Jahr 2023 einen historischen Höchstwert: Annähernd neun von zehn Befragten stehen der Bundeswehr positiv gegenüber (86 Prozent; +3 Prozentpunkte im Vergleich zu 2022; vgl. Abbildung 3).
Die große Mehrheit der Deutschen hat eine positive Einstellung zur Bundeswehr. In diesem Punkt gab es keine Zeitenwende, denn die Bürgerinnen und Bürger vertrauen ihren Streitkräften.
Im Vergleich mit anderen staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen zeigt sich außerdem, wie hoch das Vertrauen der Befragten in die Bundeswehr ist: Das zweite Jahr in Folge kommt die Bundeswehr (87 Prozent) mit nur einem Prozentpunkt Unterschied hinter der Polizei (88 Prozent) auf den zweiten Platz.
Zustimmung zur Bündnisverteidigung leicht rückläufig
Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger ist die Landes- und Bündnisverteidigung die wichtigste Aufgabe der Bundeswehr. Im Vergleich zu 2022 ist die positive Einstellung in der Bevölkerung zu verschiedenen Aspekten der Bündnisverteidigung leicht zurückgegangen, bleibt aber insgesamt auf einem hohen Niveau. So sind 70 Prozent (-3 Prozentpunkte) davon überzeugt, dass Deutschland auch weiterhin der NATO angehören muss, um seine Sicherheit gewährleisten zu können und 65 Prozent (-4 Prozentpunkte) sprechen sich für die Einhaltung der finanziellen Zusagen an die NATO aus. Die Missionen der Bundeswehr an der NATO-Ostflanke werden von den Bürgerinnen und Bürgern ebenfalls überwiegend unterstützt, allerdings zeichnet sich im Vergleich zum Vorjahr auch hier ein Rückgang ab. Weiterführende Analysen zeigen, dass die Einstellung der Befragten zur Bündnisverteidigung stark von der Wahrnehmung Russlands als Sicherheitsbedrohung und vom Kenntnisstand über die NATO-Missionen abhängt: Eine stärkere Bedrohungswahrnehmung und ein höherer Kenntnisstand erhöhen die Zustimmung zum aktiven Engagement der Bundeswehr in der Bündnisverteidigung. Insbesondere der Kenntnisstand in der Bevölkerung über die Bundeswehr-Missionen an der NATO-Ostflanke ist und bleibt im Durchschnitt aber eher gering.
Mehrheit für Wehrdienst und „kämpfende Truppe“
Die Bundeswehr muss im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung im hochintensiven Gefecht bestehen können. Die gesellschaftliche Akzeptanz für die „kämpfende Truppe“ ist groß: Eine große Mehrheit befürwortet den Einsatz von Waffengewalt durch die Bundeswehr, um einen militärischen Angriff auf Deutschland (87 Prozent) oder ein verbündetes Land (72 Prozent) abzuwehren.
2023 sind noch mehr Befragte als im Jahr zuvor davon überzeugt, dass die Einführung eines Wehrdienstes im Rahmen einer möglichen allgemeinen Dienstpflicht notwendig ist (52 Prozent Zustimmung; +2 Prozentpunkte), während 23 Prozent keine Notwendigkeit sehen und 23 Prozent unentschieden sind. Ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger ist zudem der Auffassung, dass die Einführung eines Wehrdienstes die Beziehungen zwischen Bundeswehr und Gesellschaft verbessern (48 Prozent; +3 Prozentpunkte), der Bundeswehr bei der Personalgewinnung helfen (62 Prozent; +2 Prozentpunkte) und die Fähigkeit der Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung stärken würde (58 Prozent; +1 Prozentpunkt). Auch in der Gruppe der 16–29-Jährigen überwiegt eine positive Einstellung zu einem Wehrdienst.
Eine Bevölkerungsmehrheit steht der Debatte über die Notwendigkeit eines Wehrdienstes offen gegenüber.
Weitere Themen
Weitere Themen der Bevölkerungsbefragung und des Forschungsberichts sind:
- Deutschlands militärische Unterstützung der Ukraine
- Außenpolitische Grundhaltungen
- Bilaterale Beziehungen zu den USAUnited States of America, China und Russland
- EU-Verteidigungszusammenarbeit
- Veteranen der Bundeswehr
- Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr
- Aufgaben und Einsätze der Bundeswehr
- Öffentliche Wahrnehmung der Bundeswehr
- Persönliche Verteidigungsbereitschaft
Download
Der Forschungsbericht präsentiert auf 95 Seiten die zentralen Ergebnisse der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung 2023.
Autor
Dr. Timo Graf forscht zur öffentlichen Meinung über Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland. Dr. Graf leitet die jährliche ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung und ist der Autor des Forschungsberichts.
Methodologie
Die Erarbeitung des Studienkonzepts und des Fragebogens der Bevölkerungsbefragung erfolgten ebenso am ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr wie die Auswertung der erhobenen Daten. Die Datenerhebung wurde von einem professionellen Befragungsinstitut im Zeitraum vom 19. Juni bis 23. Juli 2023 durchgeführt. 2.211 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger wurden in computer-gestützten persönlichen Interviews (CAPI) in ihren Haushalten befragt. Die Interviews dauerten im Mittel 57 Minuten und die Ausschöpfungsquote lag bei 53 Prozent. Die Teilnahme an der Befragung erfolgte freiwillig und wurde nicht vergütet. Die gezogene Stichprobe ist repräsentativ für die deutschsprachige und in Privathaushalten lebende Bevölkerung ab 16 Jahren. Weitere Ausführungen zur Methodologie der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung finden Sie im Forschungsbericht.
Ziele und Selbstverständnis der Studie
Die jährliche ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr-Bevölkerungsbefragung ist seit Beginn der Umfragestudie im Jahr 1996 der Gradmesser für die gesellschaftliche Legitimation, Relevanz und Integration der Streitkräfte. Ihre Ergebnisse dienen dazu, das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft zu analysieren sowie die Informationsarbeit der Bundeswehr zu evaluieren (Ressortforschung). Mit der öffentlichkeitswirksamen Publikation der Befragungsergebnisse in vielfältigen Produktformaten (Forschungsberichte, Zeitschriften- und Webartikel, Monografien, Sammelbandbeiträge, Podcasts, öffentliche Vorträge, Interviews) leistet das ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zudem einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Sinne des Integrationsziels der Inneren Führung (Wissenstransfer). Darüber hinaus werden die Befragungsdaten in hochwertigen wissenschaftlichen Fachpublikationen aufbereitet, als Grundlage für sozialwissenschaftliche Qualifikationsarbeiten und im Rahmen der universitären Lehre genutzt sowie der Forschung allgemein im Datenarchiv des GESIS zur Verfügung gestellt (Grundlagenforschung).
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