Der Holocaust in Litauen
Geschichte- Datum:
- Ort:
- Litauen
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Die Vernichtung der Bevölkerung jüdischen Glaubens in Litauen durch SSSchutzstaffel, Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) und Wehrmacht wird in der geschichtswissenschaftlichen Forschung immer wieder als ‚Testfeld‘ für den nationalsozialistischen Holocaust in Europa bezeichnet. SSSchutzstaffel, SD und Wehrmacht machten das Land zum frühen Schauplatz des Holocaust.
Die Geschichte Litauens im Zweiten Weltkrieg war bestimmt durch den Wechsel von einer sowjetischen zu einer nationalsozialistischen Herrschaft. Mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt (‚Hitler-Stalin-Pakt‘) von 1939 war Litauen zunächst der deutschen Einflusssphäre zugesprochen worden, in deutsch-sowjetischen Nachverhandlungen nach Kriegsbeginn jedoch von der Sowjetunion beansprucht und im Sommer 1940 annektiert worden. Im Rahmen des deutschen „Blitzkrieges“ im Osten eroberte 1941 die deutsche Wehrmacht das Land. Mit dem Überschreiten der Grenze am 22. Juni 1941 und der vollständigen Besetzung Litauens begann schließlich die bis Herbst 1944 andauernde deutsche Besatzung. So unterstand Litauen in dieser Zeit dem sogenannten Reichskommissariat Ostland, das sich über Estland, Lettland und Litauen sowie Teile von Belarus erstreckte. Die Wehrmachtführung erließ verbrecherische Befehle, die gegen das geltende Kriegsvölkerrecht wie die Genfer Konventionen oder die Haager Landkriegsordnung verstießen. So kam es zu Massenmorden an Zivilpersonen und tatsächlichen oder vermeintlichen Partisaninnen und Partisanen, zur Misshandlung und Ermordung von sowjetischen Kriegsgefangenen, Besatzungsverbrechen und der direkten wie indirekten Teilnahme an Völkermorden an Sinti und Roma oder Jüdinnen und Juden. Insbesondere kleineren Opfergruppen wurde lange Zeit ein Randdasein innerhalb der Forschung zum Zweiten Weltkrieg zu Teil. Neben litauischen Widerständlern, russischen Zwangsevakuierten, Kriegsgefangenen und zwischen die Fronten geratenen Zivilpersonen stellte die jüdische Bevölkerung nach den sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Gruppe der von solchen Kriegsverbrechen betroffenen Personen dar.
Vor 1939 lebten in Litauen 150000 bis 155000 Jüdinnen und Juden. Hinzu kamen etwa 80000 aus dem Verwaltungsgebiet Vilnius (damals Wilna), das zuvor unter polnischer Herrschaft gestanden hatte und im Oktober 1939 von der Sowjetunion Litauen zugeschlagen wurde. Lediglich 10000 bis 12000 von ihnen konnten sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht nach Russland retten. Im Laufe der Besetzung Litauens wurden ca. 200000 Menschen jüdischer Herkunft, also nahezu die gesamte Bevölkerung Litauens jüdischen Glaubens, von den deutschen Besatzern und ihren einheimischen Helfern ermordet, höchstens fünf bis zehn Prozent überlebten. Mit dieser Vernichtung endete eine jahrhundertealte jüdische Kultur und Tradition im Baltikum.
Die ersten Massentötungen begannen bereits einige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Kaunas (damals Kauen), dem Regierungssitz. Noch vor dem Eintreffen der deutschen Truppen war es dort bereits zu ersten Ausschreitungen nationalpatriotischer Litauer gegen die jüdische Bevölkerung gekommen, deren Ursachen in jahrhundertelang tradierter religiös motivierter Judenfeindschaft und dem Vorwurf, die litauischen Juden wären Kollaborateure der sowjetischen Okkupanten gewesen, lagen. Die deutschen Besatzer wiederum instrumentalisierten diese teils bereits vorhandenen antisemitischen und antisowjetischen Stigmata, um weitere sogenannte Selbstreinigungsaktionen zu inszenieren.
So ermordeten litauische Nationalisten insbesondere in Kaunas unter Billigung der Wehrmacht und der SSSchutzstaffel und unter den Augen der deutschen Zivilverwaltung vom 24. bis 29. Juni 1941 rund 3800 überwiegend männliche Juden bei pogromartigen Gewaltexzessen und Massenerschießungen.
Von Kaunas aus gingen dann auch die Massenmorde der Wehrmacht bzw. der SSSchutzstaffel und des SD weiter. Bereits in der ersten Augusthälfte 1941 hatten Kreis- und Gebietskommissare mehrfach gefordert „unproduktive Juden“ umbringen zu lassen. Die Täter agierten hierbei schon zu Beginn keineswegs willkürlich, sondern schnell, systematisch, gut organisiert und radikal. So wurden die jüdischen Opfer zuerst in kleine Ghettos oder Isolierungslager übersiedelt und dann nach einigen Wochen an Waldrändern erschossen.
Neben Kaunas wurde insbesondere auch Vilnius im Folgenden Schauplatz weiterer Ermordungen der jüdisch-stämmigen Bevölkerung. Die verantwortlichen SSSchutzstaffel-Offiziere handelten nach den Vorgaben des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD für das Generalkommissariat Litauen, Karl Jäger, weitgehend selbständig. Laut Jäger konnte das „Ziel, Litauen judenfrei zu machen“ nur durch die Aufstellung des ‚Rollkommandos Hamann‘ erreicht werden. Die Einheit wurde für ihre Einsätze in verschiedenen Gemeinden Litauens jeweils neu zusammengestellt.
Der sogenannte Jäger-Bericht vom 1. Dezember 1941 war eine Gesamtaufstellung der Massenerschießungen, die zwischen dem 4. Juli und dem 29. November 1941 in Litauen und Vilnius vom Einsatzkommando 3 mit litauischen Helfern an 54 Orten durchgeführt wurden.
In der Anfangsphase wurden hier vorwiegend jüdische Männer im wehrfähigen Alter, ebenso wie vermeintliche oder tatsächliche Kommunisten getötet, bis schließlich ab August 1941 auch Frauen und Kinder zu den Opfern gehörten. Der am 23. oder 24. August 1941 in den Wäldern Žalioji giria und Pajoustė durchgeführte Massenmord an der bereits ghettoisierten jüdischen Bevölkerung des Ortes Panevėžys (damals Ponewiesch) im Norden von Litauen etwa löschte die gesamte 6800 Menschen zählende jüdische Gemeinde des Ortes aus.
Als bekanntester Massenmord gilt bis heute das Massaker von Ponary (lit. Paneriai) in den gesamten Jahren 1941 bis 1944. Paneriai wird im Nachschlagewerk ‚Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945‘ als „zentrale litauische Mordstätte“ bezeichnet. Hier wurde der Wald bei Aukštieji Paneriai im südwestlichen Teil von Vilnius ab Sommer 1941 zum Schauplatz der Massentötungen von baltischen Jüdinnen und Juden. Die Deutschen nutzten große Gruben, die bereits die Sowjets zur Treibstofflagerung ausgegraben hatten, als Massengräber für über 100000 Opfer. 56000 bis 70000 jüdische Menschen, 1500 bis 2000 Polinnen und Polen, hauptsächlich Mitglieder der Intelligenz von Vilnius und der Polnischen Heimatarmee, wurden so ermordet. Insbesondere das arbeitsteilige Vorgehen der Täter und die konsequente Organisation waren auch hier die entscheidenden Voraussetzungen für die Schnelligkeit und Effizienz der Mordaktionen. So wurden die Opfer zunächst mit Lastwagen oder der Eisenbahn nach Paneriai auf die knapp 5000 Quadratmeter große, abgesperrte und verminte Erschießungsstätte transportiert. Rund 100 litauische Schützen waren um das Waldstück postiert. Bis Ende Dezember 1941 wurden so drei Viertel der jüdischen Bevölkerung ermordet. Die Erschießungen wurden bis zur Auflösung des Ghettos von Vilnius Ende 1943 weitergeführt.
Ab 1942 ergab sich aus der zunehmend schlechter werdenden kriegswirtschaftlichen Lage schließlich die Tendenz der Nutzung von überlebenden Jüdinnen und Juden zur Zwangsarbeit, wie sie ebenfalls bei den sowjetischen Kriegsgefangenen zu beobachten ist. Die Wehrmacht baute für die etwa 43000 noch ‚arbeitsfähigen‘ Menschen und deren Angehörige das Konzentrationslager Kauen (in Kaunas), die Ghettos Wilna (in Vilnius) und Schaulen (in Siauliai), sowie einige kleinere Lager. Vom April 1943 bis Juli 1944 lösten mit zunehmenden Gebietsverlusten und militärischen Niederlagen die deutschen Besatzer die Ghettos und Lager schließlich auf und brachten die verbliebenen Jüdinnen und Juden des KZ Kauen und des Ghetto Schaulen um.
In der Geschichtsforschung zum Holocaust in Litauen herrscht mittlerweile die These vor, dass Wehrmacht, SSSchutzstaffel und SD deshalb so schnell und gründlich in Litauen vorgingen, weil das Land von der nationalsozialistischen Führung als Vorbereitung der Endlösung des ganzen europäischen Judentums betrachtet wurde. Der Historiker Wolfram Wette beschreibt das Vorgehen als eine „Ouvertüre“ des Genozids vor seiner Technologisierung. Bereits die Tatenlosigkeit der Wehrmachtsoffiziere beim Vorgehen der Einsatzkommandos und ihrer litauischen Helfer könne als „Präzedenzfall“, betrachtet werden, der den weiteren Weg vorzeichnete. Christoph Dieckmann geht in seiner Dissertation zur deutschen Besatzungspolitik in Litauen noch einen Schritt weiter. Laut ihm wurde nicht nur der Judenmord, sondern auch dessen Inszenierung als „Selbstreinigungsaktion durch Einheimische“ von deutscher Seite bereits lang im Vorfeld geplant. So fänden sich auch für Litauen keine Belege für spontane Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung, ähnlich wie in den baltischen Nachbarstaaten. Gerechtfertigt wird diese Argumentation insbesondere auch mit – neben dem professionellen frühen Vorgehen – der geopolitischen Lage Litauens als damaligem Nachbarn Deutschlands. Der ‚Generalplan Ost‘ des Dritten Reiches definierte das Baltikum als Kolonisierungsgebiet von Deutschen, in dem keine ‚rassenfremden‘ Elemente oder politische Feinde leben durften.
Fokus Erster und Zweiter Weltkrieg: vom Militärstaat des Deutschen Kaiserreiches zum „Testfeld“ für den nationalsozialistischen Holocaust.