Der Warschauer Aufstand 1944 - ein blinder Fleck im deutschen Bewusstsein
Der Warschauer Aufstand 1944 - ein blinder Fleck im deutschen Bewusstsein
- Datum:
- Ort:
- Berlin
- Lesedauer:
- 3 MIN
Der Warschauer Aufstand ist das Symbol polnischen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg. In Deutschland sind die Ereignisse kaum präsent. Am 28. Mai 2024 wurde in der Topographie des Terrors in Berlin eine Neuerscheinung vorgestellt, die das ändern kann.
Dr. Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors, begrüßte das Publikum im vollbesetzten Auditorium. Sie betonte ihre Freude über die Präsentation des Buches „Der Warschauer Aufstand 1944“ von Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt, Touro University, Campus Berlin. Die Topographie des Terrors hatte zuletzt 2019 dem Thema eine Sonderausstellung gewidmet.
In seinem Grußwort stellte Dr. Sven Lange, Kommandeur des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, die Buchreihe „Kriege der Moderne“ vor, in der der Band erscheint. Die vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegebene Reihe im Reclam-Verlag macht aktuelle Forschungserkenntnisse zu militärischen Krisen und Konflikten einem breiten Publikum zugänglich. Mit Stephan Lehnstaedt sei es gelungen, so Oberst Lange, einen ausgewiesenen Experten für einen Band über den Warschauer Aufstand zu gewinnen. Das Buch beleuchte sowohl die polnische Sicht als auch die deutsche Seite dieses bewaffneten Widerstands und ordne ihn in den Gesamtkontext des Krieges und des Jahres 1944 ein.
Die Moderation des Abends übernahm Dr. Agnieszka Wierzcholska, Mitarbeiterin in der Stabsstelle „Deutsch-Polnisches Haus. Ort des Gedenkens, der historischen Aufklärung und der Begegnung“ bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. In einer kurzen Laudatio stellte sie Stephan Lehnstaedt vor, der dann über „Die Bildwelten des Warschauer Aufstands“ vortrug.
Krieg der Bilder und Bilder vom Krieg
In seinem Vortrag präsentierte Lehnstaedt einige wichtige Bilder aus den Tagen des Aufstandes, den die deutschen Besatzer brutal niederschlugen. Bei den gezeigten Fotografien handelte es sich um Propagandaaufnahmen von deutscher Seite und um Fotos von polnischen Angehörigen der Armia Krajowa (= Heimatarmee), die auch im Buch zu finden sind. Anhand der Bilder erläuterte Lehnstaedt die unterschiedlichen Sichtweisen auf das Geschehen. So verfolgten die deutschen Fotografen unter anderem das Ziel, den Gegner zu diffamieren. Die polnische Bevölkerung lichteten sie oft in herabwürdigender Weise ab. Die Bildbeschreibungen entsprachen dem Duktus der NSNationalsozialismus-Propaganda. Auf polnischer Seite sollten die Bilder den legitimen Charakter des Freiheitskampfes gegen die Besatzungsherrschaft unterstreichen. Unfreiwillig dokumentierten die deutschen Fotografen auch das rücksichtslose Vorgehen der eigenen Einheiten. So zeigten die Fotos mitunter Flammenwerfer oder große Artilleriegeschütze, die in den Straßen von Warschau eingesetzt wurden. Ihr Vernichtungspotenzial war massiv, Kollateralschäden nahm man billigend in Kauf. In den 63 Tagen des Aufstandes starben mehr als 150.000 Menschen. Im Oktober 1944 war Warschau eine zerstörte, entvölkerte und unbewohnbare Stadt.
Die Wahrnehmung des Warschauer Aufstandes
Im anschließenden Gespräch diskutierte Wierzcholska zunächst mit dem Autor die Wahrnehmung des Warschauer Aufstandes in Polen. Sie berichtete vom ambivalenten Verhältnis der eigenen Familie zu den damaligen Vorgängen. Diesen Befund konnte Lehnstaedt stützen. So stand das unmittelbare Erleben des Warschauer Aufstandes im Spannungsfeld von Freiheit, Leid und Tod. In der Zeit nach dem Krieg wurden, vor allem durch die kommunistische Staatsführung, die Beteiligten diffamiert. Man verdrängte den Aufstand. Erst nach 1989 erfolgte eine positive und sinnstiftende Bewertung des Freiheitskampfes von 1944. Dennoch sind die Narben des Aufstandes im Stadtbild von Warschau bis heute zu sehen. So wurde das zerstörte Stadtzentrum nach 1945 im Stil des Sozialistischen Klassizismus wiederaufgebaut und erhielt einen völlig neuen Charakter.
Die Antwort auf die Frage, welche Rolle der Aufstand in Deutschland spielte, ist laut Lehnstaedt ernüchternd. Während in der NSNationalsozialismus-Diktatur der Aufstand zwar thematisiert und propagandistisch genutzt wurde, gab es im Nachkriegsdeutschland kaum Aufmerksamkeit für das Geschehen. So ist die Zahl der in der Deutscher Sprache oder von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfassten Monografien gering. Oft wird hierzulande der Warschauer Aufstand mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 verwechselt oder gleichgesetzt. Dass der Aufstand von Warschau 1944 kein blinder Fleck mehr im historischen Bewusstsein der Deutschen ist, dazu will das Buch von Stephan Lehnstaedt beitragen.