Vortragsbericht

"Das Center of Gravity ist die Unterstützung": Oberst Dr. Reisner zum Krieg in der Ukraine

"Das Center of Gravity ist die Unterstützung": Oberst Dr. Reisner zum Krieg in der Ukraine

Datum:
Ort:
Potsdam
Lesedauer:
7 MIN

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Oberst d.G. Dr. Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer hielt am 07. November 2024 im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) einen Vortrag zur aktuellen Lage im Krieg um die Ukraine. Die Lage ist ernst, denn Russland überwindet ukrainische Verteidigungslinien und steht kurz vor einem Durchbruch. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben.

Mann in Uniform am Rednerpult vor gemischten Publikum

Fast eintausend Tage nach Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine hält Oberst d.G. Dr. Reisner einen eindringlich Vortrag zur Lage am ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Bundeswehr/Andrea Nimpsch

Wie kann man die komplexe Lage nach fast eintausend Tagen Krieg in der Ukraine zusammenfassen? Zu Beginn seines Vortrags wählt Oberst Dr. Reisner das Bild eines Boxkampfes über mehrere Runden. Ein Duell von zwei ungleichen Kämpfern die im Ringen um Leben und Tod mit unterschiedlichen Bündnispartnern ausgestattet sind – im Ressourcenkrieg kommt es genau darauf an. Für die sich hartnäckig verteidigende Ukraine komme es vital auf den Beistand seiner Verbündeten an, denn seine Kriegsmittel seien auf der langen Zeitachse eng begrenzt. Das überfallende Russland würde viel stärker von seinen Alliierten wie China, Nordkorea oder dem Iran unterstützt, denn wie sonst wäre es möglich, dass „Russland mit 146 Millionen Einwohnern und einem überschaubaren BIPBruttoinlandsprodukt, im Vergleich zur europäischen Wirtschaftsleistung, immer noch in der Lage ist, diesen Krieg zu führen? Weil es offensichtlich die besseren Verbündeten hat“, so der Oberst. Reisner macht im Vortragsverlauf immer wieder deutlich, woran Sieg oder Niederlage der Ukraine hängen: an einer verlässlichen Materialversorgung im nicht enden wollenden Abnutzungskrieg.

Offenes Land hinter der dritten Linie

Um die aktuelle Frontlage zu begreifen, wählt der Generalstabsoffizier die ostukrainische Stadt Pokrowsk als Beispiel. Dort hatte die Ukraine ein Verteidigungssystem aus drei Linien errichtet. Aber jetzt hätten russische Truppen die erste Linie durchstoßen und seien „kurz vorm Durchbruch“ der zweiten, so Reisner. Die Stadt im Osten sei so wichtig, da sie für alle drei Linien eine große logistische Bedeutung habe. Hinter der dritten Linie liege das „offene Land“, verdeutlicht der Leiter des Institutes für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wenn der Angriff auf die dritte Linie gelinge, dann sei „der operative Durchbruch in die Tiefe des Landes möglich, im schlimmsten Fall bis zum Dnepr “. Der mächtige Fluss Dnepr ist eine der wenigen geografischen Grenzen in der riesigen Landfläche der Ukraine – Russland würde viel Gelände gewinnen und an  einer wahren Lebensader der Ukraine stehen.

Krieg in allen Domänen, auch gegen uns

Der aktuelle Kampf um das Leben der Ukraine tobe aber nicht nur am Boden, sondern in allen Domänen: zu Land, zu Wasser, in der Luft, sowie im Welt-, Informations- und Cyberraum – alle umgeben vom elektromagnetischen Spektrum, indem alle Akteure und Systeme kommunizieren. Im multidimensionalen Gefechtsfeld auf sieben Ebenen greife Russland aber nicht nur die Ukraine an, sondern auch uns, denn „wir sind Teil einer hybriden Kriegführung und der Gegner versucht, in unsere Köpfe zu kommen“, stellt Reisner klar. 

Anschließend zieht er eine „Tour d’Horizon“ und gibt einen umfassenden Überblick zur Schlachtfelddynamik. Derzeit führe Russland unvermindert seine zweite Sommeroffensive fort und der Krieg befände sich in seiner siebten Phase, so Reisner. In dieser Phase setze die russische Armee verstärkt auf Infanterie und modifiziere ihre Gefechtsfahrzeuge so, dass sie besser vor ukrainischen Drohnen geschützt seien. Dazu bauten die russischen Streitkräfte ihre Fähigkeiten in der elektronischen Kriegführung aus und verstärkten ihre Angriffe durch Drohnen und Artillerie. Zudem intensiviere Moskau seine Luftangriffe mit Gleitbomben von bis zu 1.200 pro Woche „in einer Gewichtsklasse von bis zum 3.000 Kilogramm“, sagt Reisner.

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Luftschlag um Luftschlag

Auf der strategischen Ebene versuche Russland weiter, die kritische Infrastruktur, wie Wasser- oder Kraftwerke, der Ukraine „nachhaltig zu zerstören“, und habe auch die Ressourcenlage bei der Verfügbarkeit von Luftkriegsmittel auf ihrer Seite. Zusätzlich zu den Gleitbombenangriffen setze Moskau auf Marschflugkörper, von denen die Ukraine lediglich 25 Prozent abzuschießen könne. Hinzu kommen Drohnenattacken u.a. durch die iranischen Shahed-Systeme mit über 1.900 im Oktober 2024, um hauptsächlich die ukrainische Luftverteidigung zu „übersättigen“, damit ballistischen Raketen besser ihre Ziele treffen können. Die Ukraine versuche mit Luftkriegsmittel dagegenzuhalten, beispielsweise mit der Zerstörung des Munitionsdepots von Toropets auf russischen Boden. Obwohl bei der Detonation mehr Energie freigesetzt wurde als bei den Atombombenexplosionen von Hiroshima oder Nagasaki, fehle nach Reisner aber der „saturierende Effekt“, denn derartige Attacken müssten mehrmals pro Woche und über Monate durchgeführt werden.

Kampf mit alten Narrativen und neuen Methoden

Der ukrainische Gegenangriff an Land, in der westrussischen Region Kursk, stünde stark unter Druck, denn nach einer Phase der Konsolidierung habe die russische Armee damit begonnen, den ukrainischen Vormarsch zu stoppen und verlorenes Gelände zurückzugewinnen. In dieser Situation nutze Russland im Informationsumfeld erfolgreich das Narrativ des „Großen Vaterländischen Kriegs“ und eines erneuten „Überlebenskampfes des russischen Volkes“. Der Westen würde mit deutschen Panzern, „wie die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg“, Russland angreifen und erneut scheitern, wie auf Social Media mit brennenden Leopard-2 Panzern aus schwedischen Beständen propagiert wird.  

Mann in Uniform vor Bildtafel des ZMSBw mit weißer Fassade und Logo
Dr. Markus Reisner, Oberst Bundeswehr/Andrea Nimpsch
Wie Wasser kämpfen sie, sagen die Ukrainer. Wo immer sich eine Ritze auftut, ist es den Russen möglich, hier einzudringen.

An der über 1.300 Kilometer langen Landfront setze Russland circa 640.000 Soldaten in neuen operativen Manövergruppen ein. Diese versuchen, in massiven Offensiven die ukrainische Armee permanent zu binden. Die Hauptangriffe finden dabei in drei großen Stoßrichtungen im ostukrainischen Donbass statt. Taktisch operiert die russische Armee dabei mit neuen Methoden: Kleine Kampfgruppen auf Motorrädern in Kombination mit Drohnen klären Lücken in ukrainischen Verteidigungsstellungen auf. In diese stießen anschließend größere mechanisierte Kampfgruppen mit Panzerfahrzeugen – die Taktik erinnert den österreichischen Historiker an die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg: „Wie Wasser kämpfen sie, sagen die Ukrainer, wo immer sich eine Ritze auftut, ist es den Russen möglich, hier einzudringen.“

Russisches Jamming gegen ukrainische Drohnen

Einen weiteren Fokus setzt Reiser in seinem Vortrag auf das elektromagnetische Feld. Durch die gezielten Störungen mit elektronischen Kampfarten, wie Jamming, verringere Russland massiv die Effektivität ukrainischer Waffensysteme aus dem Westen. Beispielsweise träfen vom gelenkten 155-mm-Artilleriegeschoss „Excalibur“ nur noch sechs Prozent. Auch der Mehrfachraketenwerfer HIMARS, der Marschflugkörper Strom Shadow oder die First-Person-View-Drohnen (FPV) seien durch elektronische Gegenmaßnahmen von einer Reduktion der Waffenleistung betroffen. Kritisch wäre diese besonders, da der ukrainische Drohneneinsatz bisher eine „Erfolgsgeschichte“ gewesen sei, denn sie hätten gerade im Nahbereich ein Durchbrechen der russischen Kräfte durch die Verteidigungslinien verhindert. Gelingt es den Russen doch, wie in der Stadt Kupjansk nahe Charkiw, heißt es sinnbildlich nach Reisner: „Wieder eine russische Blume, die zu blühen begonnen hat“, denn nach dem Durchstoßen breiten sich die Kräfte nach vorn und zur Seite im Rücken der Stellungen aus.

Mann in Uniform vor Rednerpult und Folie der unterschiedlichen Kriegsdomänen

Krieg ist niemals auf die Schlachtfelder am Boden begrenzt. Oberst Dr. Reisner zeigt die Multidimensionalität in der Ukraine auf – die auch uns betrifft

Bundeswehr/Andrea Nimpsch
Foto einer Video-Kamera die den Vortragenden am Rednerpult filmt

Der Vortrag von Oberst Dr. Reisner wurde per Live-Stream übertragen und ist auf dem Youtube-Kanal des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr öffentlich nachzusehen

Bundeswehr/Andrea Nimpsch

„Abnutzungskrieg ist ein Ressourcenkrieg“

Die russische Angriffsführung fuße zudem massiv auf dem Einsatz von Artillerie. Reisner zeigt auf ein Bild der ostukrainischen Stadt Wowtschansk als ein Bespiele von vielen. Mit ernstem Blick auf die Häuserruinen aus Schutt und Asche sagt er: „Die Stadt ist dem Erdboden gleichgemacht“. Russland gewinne und halte Gelände, indem es eine Rückgewinnung durch permanentes Artilleriefeuer unmöglich mache. Diese Kriegführung im Abnutzungskampf sei dabei wieder ein Ergebnis der für Moskau sprechenden Ressourcenlage, begünstigt durch Nordkorea. Gerade in der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zur materiellen Unterstützung durch Verbündete sieht Reisner den Schlüssel zum Erfolg. „Abnutzungskrieg ist ein Ressourcenkrieg“, fasst es Reisner für die Zuhörenden zusammen.

Lehren des Krieges

Zum Ende seines Vortrags stellt Reisner in einer Analyse sechs Lehren heraus, die es auf taktischer und operativer Ebene zu beachten gelte: Erstens sind russische Vorschriften und Doktrinen aus der Vergangenheit, genauer aus dem Kalten Krieg zu analysieren, denn diese fänden gegenwärtig in der Ukraine ihre Anwendung – unter Anpassung an die Kriegführung unsere Gegenwart. Zweitens besitze die adäquate Nutzung von Drohnen, Dohnenabwehr und die Beherrschung des elektromagnetischen Spektrums eine Schlüsselrolle für den Erfolg auf dem Schlachtfeld. Wir sähen darin eine „Revolution der Kriegführung“, so Reisner. Drittens sei das Gefechtsfeld transparenter, gar „gläsern“ geworden und Möglichkeiten des „Versteckens“, mit Hinblick auf die Bedeutung des elektromagnetischen Feldes, verschwunden. Viertes sei die Koordination und das Zusammenwirken der verschiedenen Teilstreitkräfte im Rahmen einer offensiven Einsatzführung entscheidend. Fünftens gelte es, den Einsatz aller Kräfte möglichst effizient und effektiv zu integrieren. Sechstens macht Reisner deutlich, dass für einen langen Krieg ein funktionierender militärisch-industrieller Komplex zentral bedeutend sei – unter Schutz von Flugabwehr gegen Luftangriffe.

Center of gravity“ und „Kalter Krieg 2.0“

Auf strategischer Ebene betont Reiser die Bedeutung des Weltraums und die Nutzung von Kommunikationsmitteln, besonders in privater Bereitstellung wie Starlink durch Elon Musk. Den Cyberraum bezeichnet der Oberst als wichtige Domäne und Terrain für den Informationskrieg zur Beeinflussung durch hybride Kriegführung. Daher gelte es, auch den Informationsraum zu dominieren, um mit „geistige Landesverteidigung“ die Gesamtverteidigung zu unterstützen. Aus seiner Sicht müsse sich die NATO auf eine lange Zeit der Auseinandersetzung und eine Art „Kalten Krieg 2.0“ einstellen, um weiter zu bestehen. In dieser Auseinandersetzung sei es von zentraler Bedeutung, den Gegner nicht zu unterschätzen.

Mann in Uniform vor Bildtafel des ZMSBw mit weißer Fassade und Logo
Dr. Markus Reisner, Oberst Bundeswehr/Andrea Nimpsch
Das Center of gravity ist die Unterstützung der Ukraine, wenn das aufhört, ist der Krieg vorbei.

Zum Ende seines Vortrages macht Reisern nochmal klar: „Das Center of gravity ist die Unterstützung der Ukraine, wenn das aufhört, ist der Krieg vorbei“. Auf russischer Seite sieht er dagegen eine „Kohäsion“ von Streitkräften, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, trotz erkennbaren Spannungen. Aufgefangen würden diese Spannung und die Kohäsion ermöglicht durch Unterstützung aus dem Ausland durch China, Iran und Nordkorea. In der Zukunft warten weitere Herausforderungen, wie eine amerikanische Präsidentschaft unter Donald Trump. „Es ist noch nicht vorbei“, appelliert Reisner an das Publikum: „Der globale Süden hat seine Zeit erkannt und zeigt dem globalen Norden, was es heißt, Rohstoffe zu kontrollieren.“

von Michael Gutzeit

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