Von der Sowjetunion zur Europäischen Union: Litauen im Umbruch seit 1991
Von der Sowjetunion zur Europäischen Union: Litauen im Umbruch seit 1991
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- Ort:
- Litauen
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Der Wille nach Unabhängigkeit war in den baltischen Staaten stets sehr ausgeprägt. Nicht umsonst reagierten die Balten auf die ersten Signale für eine mögliche Veränderung der Abhängigkeit von Moskau während der Gorbatschow-Ära ab 1987 mit der „Singenden Revolution“. Auf Demonstrationen, Versammlungen und Sängerfesten wurden verbotene Volkslieder und historische Hymnen gesungen, um den Zusammenhalt zu stärken und die russische Vorherrschaft in Frage zu stellen.
Anlässlich des 50. Jahrestages des „Hitler-Stalin-Paktes“, mit dem 1939 das Ende der souveränen baltischen Staaten festgeschrieben worden war, kam es zu einer friedlichen Protestaktion mit Signalwirkung: Am 23. August 1989 reichten sich rund zwei Millionen Menschen in einer über sechshundert Kilometer langen Menschenkette, welche die drei Hauptstädte Tallin, Riga und Vilnius miteinander verband, die Hände. Diese beeindruckende Massenkundgebung unterstrich den Unabhängigkeitswillen der Bevölkerung und sollte als der „Baltische Weg“ in die Geschichte eingehen. Nach den ersten freien Wahlen im Februar 1990 erklärte der neue litauische Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis am 11. März Litauen für unabhängig. Wenige Monate später folgten Lettland und Estland diesem Beispiel. Für die Sowjetunion stellten diese Erklärungen eine machtpolitische Herausforderung dar, welcher mit Wirtschaftssanktionen und auch mit Waffengewalt begegnet wurde. Der friedliche Kampf um die staatliche Unabhängigkeit Litauens begann so ab Januar 1991 blutig zu werden. Auf Anordnung Michail Gorbatschows versuchten moskautreue Kräfte mit Unterstützung russischer Spezialkräfte, die neue Regierung in Vilnius gewaltsam zu stürzen. Bei diesen Kämpfen kamen vierzehn Menschen ums Leben, über 1000 wurden verletzt. Vor allem die Ereignisse am Fernsehturm, der zum Freiheitssymbol wurde, sind bis heute als der „Blutsonntag von Vilnius“ in der kollektiven Erinnerung verankert. Dort setzten die Sowjets Panzer gegen Zivilisten ein, die den Turm mit einer Menschenkette verteidigten. Der Putsch scheiterte, woraufhin Anfang Februar 1991 ein Referendum über die Unabhängigkeit Litauens durchgeführt wurde. Über 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler sprachen sich dafür aus. Die internationale Anerkennung ließ allerdings auf sich warten. Erst als sich auch in Moskau die kommunistischen Hardliner nicht mehr durchsetzen konnten, erfolgte die Anerkennung ab August 1991 durch über 90 Staaten, schließlich auch durch die UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Diese löste sich dann vier Monate später durch einen Beschluss des Obersten Sowjets selbst auf. Der Abzug der russischen Truppen aus Litauen zog sich noch bis Sommer 1994 hin, ehe dieses Kapitel der Geschichte des baltischen Staates abgeschlossen war.
Litauens demokratische Transformation
Es folgten schwierige Jahre einer demokratischen Transformation, die alle Lebensbereiche der litauischen Bevölkerung betraf und Litauen in einen modernen Staat in Europa verwandelte. Die neue Verfassung aus dem Jahre 1992 schrieb die parlamentarische Demokratie fest und bewährte sich in mehreren freien Wahlen. Eine vielfältige Parteienlandschaft und eine freie Presse unterstützten den politischen Weg, Teil der westlichen Wertegemeinschaft zu werden. Diese Bemühungen wurden 1995 durch das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und den baltischen Staaten ebenso verstärkt wie durch das regionale Kooperationsformat der Nordisch-Baltischen Acht (NB 8).
Die litauische Gesellschaft veränderte sich ebenfalls grundlegend, wobei die ersten Jahre durch eine Abwanderung vieler junger, hochqualifizierter Menschen geprägt waren. Diese suchten ihr Glück in den westlichen Nachbarländern. Dennoch gelang die Modernisierung durch Digitalisierungs- und Bildungsoffensiven, die auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantrieb. Die Staatswirtschaft musste auf freie Marktwirtschaft umgestellt werden, was mit radikalen Reformen wie die Bodenreform und umfangreichen Privatisierungen erreicht werden konnte. Die 1993 eingeführte neue Währung (Litas) unterstützte den zuerst langsam verlaufenden wirtschaftlichen Aufschwung, vor allem den Handel und die Landwirtschaft. Korruption und der Niedergang vieler Staatsbetriebe aufgrund fehlender Investoren ließen Jahre vergehen, ehe der wirtschaftliche Aufschwung für große Teile der Bevölkerung spürbar wurde. Hohe Arbeitslosigkeit und ein problematisches Stadt-Land-Gefälle sind bis heute kennzeichnend für den wirtschaftlichen Wandel seit 1991. Der EU-Beitritt im Jahre 2004 brachte einen wirksamen Schub durch zusätzliche Investitionen und den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Ein wichtiger Wachstumsmotor war und ist bis heute das Internet, eines der schnellsten in ganz Europa. Die Einführung des Euro 2015 brachte schließlich eine Stabilisierung des Finanzsektors. Litauen hat heute eine innovative Marktwirtschaft mit starken ITInformationstechnik- und Dienstleistungssektoren, die von einer jungen Bevölkerung sowie von hochqualifizierten Rückkehrern getragen werden.
Kultur als verbindendes Element
Auch im kulturellen Bereich hat sich viel getan. Wie angesprochen war die Folkloremusik ein identitätsstiftender Faktor auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Liederfestivals sind auch heute noch ein wichtiger Bestandteil der Pflege ländlicher Wurzeln der litauischen Bevölkerung. Aber genauso intensiv wie die Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen erfolgte die Adaption der amerikanischen und westeuropäischen Kultur. Ein Beispiel ist das renommierte Kaunas Jazz Festival, das in der UNESCO-Stadt des Designs an der Memel seit 1991 einmal im Jahr litauische und internationale Jazzgrößen zusammenbringt. Im selben Jahr initiierte der litauische Bildhauer Gintaras Karosas den Europa-Skulpturenpark (Europos Parkas) bei Vilnius. In der 50 Hektar großen Parkanlage stehen über 100 Werke bekannter Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt. Ein weiteres Beispiel ist die Art Vilnius, die größte Messe für zeitgenössische Kunst aus dem ostmitteleuropäischen Raum. Im Jahre 2024 stellten dort 67 Galerien, 15 Kunstinstitute sowie über 300 Künstlerinnen und Künstler aus 14 verschiedenen Ländern ihre Werke aus. Die Literatur Litauens ist nicht weniger spannend, zumal Litauisch eine der ältesten Sprachen Europas ist. Aber auch die historisch begründeten polnischen, russischen, jüdischen und auch deutschen Einflüsse prägen die Werke bekannter Schriftsteller wie Ricardas Gavelis (Vilnius Poker, 1989), Marius Ivaskevicius (Die Grünen, 2012) oder der Schriftstellerin Jurga Ivanauskaitè (Die Regenhexe, 1993). Insgesamt präsentiert sich die litauische Kunst- und Kulturszene sehr lebendig und selbstbewusst.
Litauens Verteidigungsvorbereitungen gegen die russische Bedrohung
Diese Erfolge der schwierigen Transformation Litauens seit 1991 galt es außen- und sicherheitspolitisch abzusichern. Die geostrategische Lage an der Grenze zu Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad mit der so genannten Suwalki-Lücke ist dabei eine große Herausforderung und lässt Litauen zu einem Frontstaat der NATO werden. Die Neuaufstellung der eigenen Streitkräfte erfolgte von Beginn an nach NATO-Standards, nachdem Litauen neben Lettland und Estland bereits 1994 dem Bündnisprogramm „Partnership for Peace“ (PfP) mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft beigetreten war. Die baltischen Staaten setzten ihre professionellen, spezialisierten und verlegefähigen Truppen im Ausland ein, um ihre Solidarität mit dem Westen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus unter Beweis zu stellen. Auch die Beteiligung an der Nordic Battlegroup der EU, die 2008 aufgestellt wurde, unterstreicht das multinationale militärische Engagement Litauens. Parallel dazu wurden die Fähigkeiten zur Landesverteidigung mit Wehrpflichtigen und Reservisten sowie mit regionalen Projekten wie das Baltic Naval Sqadron (BALTRON) oder das Baltic Air Surveillance Network (BALTNET) weiter ausgebaut. Nach dem NATO-Beitritt 2004 stieg der litauische Verteidigungshaushalt langsam an, um nach der russischen Annexion der Krim 2014 dann deutlich erhöht zu werden.
Der NATO Readiness Action Plan von 2014 setzte gegenüber Moskau ein Zeichen, die Ostflanke des Bündnisses anlassbezogen deutlich zu stärken. Die Umsetzung brachte eine Stärkung des Air Policing, den Einsatz von AWACs-Aufklärungsflugzeugen, eine stärkere Präsenz von Marinekräften sowie häufigere Großübungen an der Ostgrenze. Im Manöver Anakonda 16, das im Sommer 2016 in Nordpolen stattfand, wurde zum Beispiel mit rund 30000 Soldatinnen und Soldaten Polens und anderer NATO-Staaten die Abwehr eines asymmetrischen Angriffes durch ein „Land aus dem Norden“ geübt. Die NATO wiederum stärkte durch die Aufstellung der Very High Readiness Joint Task Force und sechs neuer multinationaler Stäbe für die Verlegung von NATO-Truppen ihre Verteidigungsvorbereitungen an der Ostgrenze, denen seit 2022 ein Operationsplan des SACEURSupreme Allied Commander Europe zugrunde liegt. Zudem wurden ab 2017 im Rahmen der enhanced Forward Presence (eFP) vier multinationale Gefechtsverbände, in Litauen unter deutscher Führung, in diese Region verlegt.
Deutsche Bündnissolidarität
Fünf Jahre später stellte Deutschland einen zusätzlichen Truppenverband im Rahmen der Erhöhten Wachsamkeitsaktivitäten (eVA) für Litauen bereit. Aus dieser Antwort auf den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 entwickelte sich Ende 2023 die Aufstellung einer kompletten deutschen Brigade, die mit insgesamt rund 5000 Bundeswehrangehörigen dauerhaft in Litauen stationiert sein wird. Diese Panzerbrigade 45 (Brigade Litauen) soll offiziell in der zweiten Hälfte 2025 in den Dienst gestellt werden und 2027 mit zwei deutschen Kampfbataillonen und einer multinationalen Battlegroup die volle Einsatzbereitschaft erreicht haben. Seit Januar 2025 steht darüber hinaus die Panzergrenadierbrigade 37 als Verstärkungsverband für die schnelle Verlegung nach Litauen bereit. Mit diesen und vergleichbaren Kampfverbänden in Estland, Lettland und Polen mit den Leitnationen Großbritannien, Kanada und den USAUnited States of America soll das Bündnisgebiet im Osten gesichert und mögliche Aggressoren abgeschreckt werden. Litauen selbst verabschiedete im November 2023 einen Neuen Nationalen Verteidigungsplan, der den Schwerpunkt auf die bewaffnete Landesverteidigung, auf die Mobilmachung sowie auf den zivilen Widerstand legt. Die litauischen Streitkräfte werden mit westlicher Militärtechnik ausgestattet und der Verteidigungshaushalt wird bis 2027 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen.
Fazit
Litauen ist ein Beispiel für eine gelungene Transformation von einer sowjetisch geprägten hin zu einer modernen, auf freiheitlich-demokratischen Grundwerten basierenden Gesellschaft, die Teil der europäischen Wertegemeinschaft geworden ist. Die Hauptstadt Vilnius präsentiert sich mit ihrer beindruckenden historischen Altstadt und ihrer Skyline aus modernen Bank- und Bürohochhäusern mittlerweile als eine europäische Metropole, die Tradition und Moderne verbindet. Für Europa stellen die baltischen Staaten eine wichtige Ergänzung dar. Ihre geografische Nachbarschaft zu Weißrussland und Russland unterstreichen ihre Bedeutung als Frontstaaten für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und der NATO. Die Garantie ihrer Sicherheit vor den imperialen Machtgelüsten eines Wladimir Putin ist wiederum der Lackmustest für das Funktionieren beider Bündnisse. Dafür stellt die Bundesrepublik auch eine Kampfbrigade in Litauen auf, die, dauerhaft vor Ort stationiert, zur Sicherheit der NATO-Ostgrenze beitragen wird.
Widerstand und Unabhängigkeit
Der Weg zur Unabhängigkeit musste hart erkämpft werden: von „Litauer Kriegen“ zu „Polnischen Teilungen“, bis zur Besetzung in beiden Weltkriegen. Erst der „Baltische Weg“ führte aus der Sowjetunion.