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Herzlich willkommen zu Angelesen! Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
Heute stellen wir das Buch von Christian Stachelbeck, „Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die 11. Bayerische Infanteriedivision 1915 bis 1918“ vor. Es erschien 2010 im Verlag Ferdinand Schöningh in der vom ZMSbw herausgegebenen Reihe Zeitalter der Weltkriege als Band 6.

Zum Inhalt

1914 erfasste der große Krieg sämtliche europäischen Großmächte, drei Jahre später auch die Vereinigten Staaten. Von allen beteiligten Mächten wurden riesige Wirtschaftspotentiale mobilisiert, um eine Entscheidung herbeizuführen. Der Blick auf die Weltkarte von 1914 macht dabei auch ohne nähere Untersuchung anschaulich, dass die Gegner der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn hier im Vorteil waren. Großbritannien und Frankreich beherrschten als imperiale Kolonialmächte große Teile des Planeten. Die Mittelmächte konnten – schon vor dem Kriegseintritt der USAUnited States of America – nicht auf annähernd so große personelle und materielle Ressourcen zurückgreifen wie ihre Gegner.
Da liegt es nahe, die Frage aufzuwerfen: „Was befähigte deutsche Truppen dazu, taktisch so effektiv zu agieren, dass sie sich gegenüber einem personell und materiell überlegenen Gegner immerhin vier Jahre lang zu behaupten vermochten? “ Dieser Leitfrage geht Christian Stachelbeck im vorliegenden Werk nach. Dies ist kein populärwissenschaftliches Sachbuch, sondern eine wissenschaftliche Qualifikationsarbeit. Es handelt sich um die Druckfassung der Dissertation, mit der der Autor 2009 promoviert wurde.
Da liegt es in der Natur der Sache, dass einleitend neben der zu untersuchenden Fragestellung auch präzise Definitionen der grundlegenden Begriffe darzulegen sind.
Der zentrale Begriff ist die titelgebende militärische Effektivität. Sie wird definiert als die Fähigkeit von Streitkräften, verfügbare Ressourcen in Kampfkraft umzuwandeln. Die Kampfkraft ist das Produkt aus den Faktoren Mensch, Material und Führung, wobei der Autor Führung als Kernfaktor einstuft. Ihren Ausdruck findet die Kampfkraft in der Fähigkeit, das Gefecht so zu führen, dass die gegnerischen Verluste höher sind als die eigenen.   
Dass die 11. Bayerische Infanteriedivision als Untersuchungsobjekt zur Klärung der Leitfrage herausgegriffen wird, liegt zum einen an der sehr guten Quellenlage für diesen Großverband. Zum andern wies sie ein interessantes Einsatzspektrum auf. Nach ihrer Aufstellung im März 1915 wurde sie zunächst im Osten im Kampf gegen Russland und Serbien verwendet, bevor sie 1916 an der Schlacht um Verdun beteiligt war. Anschließend nahm sie am Feldzug gegen Rumänien teil und kämpfte von April 1917 bis zum Kriegsende in Frankreich und Belgien.
1915 bedurfte der angeschlagene österreichische Bundesgenosse umfangreicher Unterstützung durch deutsche Truppen. Die 11. Bayerische Infanteriedivision gehörte zu den deutschen Großverbänden, die entlang der russischen Front zwischen den österreichisch-ungarischen Verbänden platziert wurden, um diese zu stabilisieren. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch war von Korsettstangen die Rede.
Der Krieg verlief nicht, wie man ihn sich vor August 1914 vorgestellt hatte. Ursprünglich war – nicht nur in Deutschland – die Absicht gewesen, durch schwungvoll vorgetragenen massenhaften Angriff der Infanterie eine zügige Entscheidung zu erzwingen. Das sehr verlustreiche Scheitern dieser Absicht zwang alle am Krieg beteiligten Streitkräfte, ihre Ansätze auf dem Gefechtsfeld zu überdenken und weiterzuentwickeln.
Ein neuer Ansatz wurde im Mai 1915 von Deutschen und Österreichern an der galizischen Front erprobt. Er sollte sich als vielversprechend erweisen und Schule machen. Dieser Ansatz wies der Artillerie eine größere Rolle zu als bisher. Er zielte darauf ab, den Gegner „durch den konzentrierten und massierten Einsatz der eigenen Artillerie in erster Linie moralisch zu erschüttern, um der eigenen Infanterie eine Angriffsbewegung für einen Durchbruch zu ermöglichen“ . Die deutlich überlegene Artillerie führte zum Erfolg. Nach dem Durchbruch bei Gorlice-Tarnow im heutigen Polen konnten großräumige Geländegewinne erzielt werden. Russland verlor etwa 150 000 Mann, wovon etwa 100 000 in Kriegsgefangenschaft gingen.    
Nach diesem Erfolg der Mittelmächte sollte auch an der letztlich kriegsentscheidenden Westfront der Beitrag der Artillerie eine sehr viel größere Rolle spielen. In Gorlice-Tarnow war das Konzept aufgegangen, durch Artillerieeinsatz den Stellungskrieg zum Bewegungskrieg zu machen. Im Bewegungskrieg kam „die dezentralisierte Auftragstaktik als speziell deutsche Antwort auf die chaotischen Bedingungen des modernen Gefechts“  besonders zum Tragen. Unterführer bis auf Teileinheitsebene hatten auf Grundlage der eindeutig formulierten Absichten des Befehlsgebers Entscheidungsspielraum. Sie konnten festlegen, in welche Art und Weise das im Auftrag vorgegebene Ziel zweckmäßig zu erreichen ist.    
Im weiteren Verlauf des Weltkriegs wurden die Spielräume für die Auftragstaktik allerdings enger. 1916 unterstützte die 11. Bayerische Infanteriedivision die Offensive bei Verdun. Hier wurde der Einsatz der Artillerie gesteigert bis zur sogenannten Feuerwalze. Man schoss nach der Uhr. Das massive Feuer wurde kontinuierlich in minutiös festgelegter Taktung vorverlegt. Dieses schematische Vorgehen wirkte sich auf die Abstimmung zwischen Artillerie und Infanterie ungünstig aus.
Das Fußvolk, so könnte man es salopp ausdrücken, hatte zuzusehen, dass es hinter der Feuerwalze Schritt hielt. Für taktisch flexibles Verhalten auf unteren Führungsebenen blieb unter diesen Bedingungen wenig Raum.
Zurecht weist Stachelbeck darauf hin, dass diese Vorgehensweise auch mit den seinerzeit noch eher überschaubaren Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Infanterie und Artillerie zu tun hatte. Ein in Echtzeit abgestimmtes Vorgehen gaben diese schlicht nicht her. Auch das heute als „friendly fire“ bekannte Phänomen trat daher immer wieder auf. Erschwerend kam hinzu, dass man es bei den französischen Streitkräften mit einem deutlich stärkeren Gegner zu tun hatte als zuvor mit den russischen. So blieb vor Verdun der gewünschte Erfolg aus.
Die Verluste der deutschen Angreifer waren nicht weniger hoch als die der französischen Verteidiger. Schon im Vorjahr bei der erfolgreichen Schlacht von Gorlice-Tarnow waren die deutschen Verluste nicht unerheblich gewesen. Doch 1915 galten hohe eigene Verluste „angesichts der Erfolge…sowie einer…noch unproblematischen Ersatzlage als gerecht-fertigt“ . In diesem Punkt kam die höhere Führung allmählich zu einer veränderten Bewertung, da kein unbegrenzter Nachschub an frischem Kanonenfutter zur Verfügung stand.
Praktisch bedeutete dies, dass mit dem Stoßtrupp ein neues Strukturelement in die Infanterie eingeführt wurde. Mit wachsender Bedeutung traten diese kleinen Einheiten neben die Massenaufgebote. Die speziell ausgebildeten Stoßtrupps waren hochbeweglich und verfügten durch Ausstattung mit leichten Maschinengewehren, Handgranaten, Minenwerfern und Flammenwerfern über relativ große Feuerkraft. Im Angriff hatten sie die gegnerischen Linien auf Schwachstellen abzuklopfen. „Nur dort waren die eigenen Reserven weiter anzusetzen, um einen sparsamen und effizienten Umgang mit den Kräften zu gewährleisten“ .
In der Verteidigung strebte man an, die Stoßtrupps im Vorfeld der eigenen Linien „möglichst tief gegliedert…schachbrettförmig im Gelände an Anklammerungspunkten“  zu verteilen. Von dort sollten sie bei sich bietender Gelegenheit zu Gegenstößen ansetzen, ganz im Sinne des in den „Grundsätzen für die Führung der Abwehrschlacht“ dargelegten Konzepts der angreifenden Verteidigung.  
Diese Rahmenbedingungen schienen eine zunehmende Bedeutung der Auftragstaktik zu begünstigen. In der Obersten Heeresleitung hatte indes seit August 1916 mit General von Ludendorff ein Mann das Sagen, der großen Wert auf einen straffen, autoritären Führungsstil legte. Mit Recht stellt Stachelbeck fest, dass „die in der Gefechtsführung bis zur mittleren Führungsebene bewusst gewollte Auftragstaktik…auf den höheren Führungsebenen durch den zentralistischen Führungsstil [Ludendorffs] konterkariert“ wurde .
Bei der Artillerie setzte sich die Einsicht durch, dass die Feuerwalze nicht der Weisheit letzter Schluss war. Die Artillerie wurde umgegliedert. Die Bedeutung der leichten Artillerie nahm zu. Sie sollte mobil und flexibel die Infanterie unmittelbar unterstützen. Die weiter hinten stehende schwere Artillerie verzichtete auf das bisher übliche lange Einschießen, das für den Gegner eine nicht beabsichtigte Vorwarnung vor bevorstehenden Angriffen gewesen war.  
Das zentrale taktisch-operative Problem auf den Gefechtsfeldern des Ersten Weltkriegs war Folgendes: Wie ließ sich ein einmal erzielter Einbruch in die gegnerischen Stellungen zu einem unumkehrbaren Durchbruch ausweiten, bevor der Gegner durch massiven Einsatz seiner Reserven entgegenwirken konnte? Hier verfolgten Deutschland einerseits und Großbritannien und Frankreich andererseits verschiedene Lösungsansätze.
In Deutschland strebte man an, das Problem durch Optimierung des Zusammenspiels von Infanterie und Artillerie zu lösen. Der britisch-französische Lösungsansatz bestand in der Entwicklung von Kampfpanzern. Die ersten Modelle kamen Ende 1917 zum Einsatz. Bekanntlich erwies sich der britisch-französische Lösungsansatz schließlich als zweckmäßiger.  
Der Autor zeigt detailliert, wie die den Kriegsverlauf prägenden Veränderungen der taktischen Ansätze von der 11. Bayerischen Infanteriedivision umgesetzt wurden und wie sie sich auswirkten. Betrachtet man die eingangs erwähnten Faktoren Material, Personal und Führung, die die Kampfkraft und somit die militärische Effektivität bestimmen, lässt sich Folgendes festhalten.  
Die Mittelmächte gerieten beim Faktor Material mehr und mehr ins Hintertreffen. Der Faktor Personal wurde mit zunehmender Kriegsdauer vor allem durch Beeinträchtigung der Motivation in Mitleidenschaft gezogen. Eine der aufschlussreichen Quellen, die Stachelbeck immer wieder zitiert, sind die Tagebücher des Kommandeurs der 11. Bayerischen Infanteriedivision.
Generalmajor Paul Ritter von Kneußl hielt laufend fest, was ihn bewegte. In seinen Aufzeichnungen entsteht das Bild eines militärischen Führers, der das Führungsverhalten seines Offizierskorps genau im Blick hatte und das Leitbild des beispielgebenden Vorgesetzten hochhielt. Dass er in der zweiten Kriegshälfte des Öfteren diesbezügliche Ermahnungen aussprechen musste, lässt sich als Zeichen nachlassender Qualität des Kernfaktors Führung bewerten. Das scheint nachvollziehbar. Viele bewährte, gut ausgebildete Offiziere, die schon vor dem Weltkrieg das militärische Handwerk beherrscht hatten, waren nach seinem Ausbruch ums Leben gekommen. Das Ersatzpersonal verfügte in vielen Fällen nicht über Erfahrung in militärischer Führung.
Insofern dürfte Stachelbeck zuzustimmen sein, wenn er schreibt, dass „viele Offiziere (und Unteroffiziere) im mobilisierten Massenheer…wohl schlichtweg mit den komplexen Herausforderungen einer zeitgemäßen Menschenführung überfordert“  waren.   
Auch eine zurückgehende Qualität der Mannschaften wurde seit 1917 vom Divisions-kommandeur beklagt. Die resultierte aus einer schleichenden Demoralisierung der Truppe, zu der mehrere Faktoren beitrugen. Neben Führungsmängeln lassen sich hier die auf Dauer schwer erträglichen Widrigkeiten des Lebens im Schützengraben ausmachen. Die Verpflegung war häufig knapp, dafür das Ungeziefer reichhaltig. Je nach Frontabschnitt konnte auch von zusammenhängenden Schützengräben keine Rede mehr sein. Besonders in Flandern hatte die Artillerie das Gelände häufig und heftig umgepflügt. Hier ließen sich in der Trichterlandschaft, die bei entsprechender Witterung zur Schlammwüste wurde, allenfalls unzusammenhängende Widerstandsnester einrichten, die schwer zu versorgen waren. Die steigenden Anforderungen an die Versorgung erforderten mehr Personal. Dieses Personal musste der Front entzogen werden, während dort die Verluste in bisher nicht erreichte Höhen stiegen.
Anfang November 1917, als seine Division in der Dritten Flandernschlacht stand, vertraute Kneußl seinem Tagebuch an: „Man ist ja an viel gewöhnt worden in diesem schrecklichen Krieg. Aber hier geht der Menschenverbrauch doch über alle Begriffe anderer Fronten, auch der vor Verdun“ . Unter Rahmenbedingungen, die sich nach Jahren des Krieges derart eingetrübt hatten, hätte wohl auch eine vorbildliche militärische Führung das Fortschreiten der Demoralisierung der Truppe nicht verhindern können. Zu einer Art Todesstoß für die 11. Bayerische Infanteriedivision wurde die erfolgreiche Offensive, die Briten, Franzosen und Amerikaner im Juli 1918 an der Marne lancierten.
Hier waren die Verluste so erheblich, dass anschließend „von innerlich fest gefügten Einheiten in der Division…kaum noch die Rede sein“  konnte. Viele andere deutsche Großverbände boten ein vergleichbares Bild.  
Im Fazit seiner Arbeit hält Stachelbeck fest, dass die 11. Bayerischen Infanteriedivision taktische Innovationen auf dem Gefechtsfeld zweckmäßig adaptierte. Dies, sowie eine bis zur Eintrübung der Lage in der zweiten Hälfte des Krieges „hohe Kampfmotivation der unteren Ebenen“  verhalfen der Division zu einem hohen Maß an militärischer Effektivität.  
Aus dieser hochinformativen historischen Fallstudie lassen sich Lehren für die Bundeswehr ziehen. Auftragstaktik oder, wie es heute heißt, Führen mit Auftrag, ist auch heute noch ein Führungsgrundsatz in der Bundeswehr. Er geht auf die preußischen Heeresreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. In der aktuellen Fassung der Allgemeinen Regelung „Truppenführung“ von 2022 wird das Führen mit Auftrag als „oberstes Führungsprinzip und …Eckpfeiler des soldatischen Selbstverständnisses in den deutschen Streitkräften…“ bezeichnet. Es ist untrennbar mit der Konzeption der Inneren Führung verbunden. Die Geschichte des Ersten Weltkrieges zeigt, dass die Umsetzung dieses Führungsprinzips von der Art der Kriegführung sowie der Persönlichkeit der obersten militärischen Führer beeinflusst wird.
Das Führen mit Auftrag ist der wesentliche Faktor für die Kampfkraft einer Armee. Dies bestätigte sich beim Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Hier gelang es, mit begrenzten Mitteln viel zu erreichen. Auch die geringen militärischen Erfolge Russlands im Angriffskrieg gegen die Ukraine lassen sich auf fehlende Selbständigkeit und Initiative vor allem der unteren Führungsebenen in den russischen Streitkräften zurückführen.
Vor dem Hintergrund der Schwerpunktsetzung der Bundeswehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung bleibt Führen mit Auftrag ein unverzichtbarer Beitrag für eine glaubhafte Abschreckung.


Das war Angelesen. Das Buchjournal des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, heute zum Buch von Christian Stachelbeck, Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg.


von Christoph Kuhl

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