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Schuld und Leid: 1945/2022- Das Trauma von Flucht und Vertreibung

Schuld und Leid: 1945/2022- Das Trauma von Flucht und Vertreibung

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Lesedauer:
8 MIN

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Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch „Schuld und Leid: 1945/2022- Das Trauma von Flucht und Vertreibung“ von Werner Sonne und Thomas Kreutzmann. Es erschien im Mittler in Maximilian Verlag GmbHGesellschaft mit beschränkter Haftung & Co. KG. Als „größter Feldherr aller Zeiten“ wurde Hitler 1940 von seinem Spießgesellen Hermann Göring tituliert. Dieser Ehrentitel war von Anfang an fragwürdig, gingen doch die militärischen Erfolge der Wehrmacht in den ersten beiden Jahren des Krieges keineswegs auf Ideen des Mannes zurück, der ihn entfesselt hatte. Vollends ad absurdum geführt wurde dieser Titel durch den weiteren Kriegsverlauf. Noch während des Krieges hatten die USAUnited States of America und Großbritannien den Plänen zugestimmt, die die Sowjetunion für die Umgestaltung Polens in der Nachkriegszeit hatte. Das gehörte zum Preis, den man zahlen musste um Stalin bei der Stange zu halten, trug doch die Sowjetunion in der Anti-Hitler-Koalition die Hauptlast im Osten. Moskaus Plan sah vor, die 1939 im Einvernehmen mit Hitler auf Kosten Vorkriegspolens gemachte territoriale Beute zu behalten. Die neue kommunistische Volksrepublik Polen sollte dafür auf Kosten des Deutschen Reiches nach Westen bis zur Oder erweitert werden. Etwa ein Viertel des Gebiets des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 wurde Polen zugeschlagen. Flucht und Vertreibung der noch verbliebenen Deutschen waren die Folgen. Das vorliegende Werk erschien 2022, dem Jahr des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Er löste die größte Fluchtwelle in Europa seit der Vertreibung der Deutschen nach 1945 aus. Da liegt es nahe, dass die Autoren ihn zum Anlass nehmen, Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs zu thematisieren und die Frage aufzuwerfen, welche Lehren sich aus dem Umgang der Bundesrepublik mit den Vertriebenen für die Gegenwart ziehen lassen. Die Fluchtbewegung aus der Ukraine hat – Stand Oktober 2024 – nicht dieselbe Größenordnung erreicht wie Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach amtlichen Zahlen fanden in allen EU-Mitgliedsstaaten zusammengenommen bislang rund 6,7 Millionen Ukrainer Aufnahme. Zwischen 1944 und 1948 wurden annähernd 14 Millionen Deutsche Richtung Westen vertrieben. Etwa 600 000 von ihnen fanden dabei einen gewaltsamen Tod. Die Vertriebenen trafen in den zumeist ländlichen Gegenden West- und Mitteldeutschlands, in denen ihnen die Behörden Quartiere zuwiesen, auf Landsleute, die wegen des kriegsbedingten Wohnungs- und Nahrungsmangels selbst sehr schwere Zeiten durchzumachen hatten. Unter solchen Bedingungen fanden sie zumeist das Gegenteil einer Willkommenskultur vor. Zur Wohnungs- und Nahrungskonkurrenz kamen kulturell und konfessionell bedingte Differenzen zwischen Eingesessenen und Vertriebenen hinzu. Oft genug kam es vor, dass „Einheimische zwangseingewiesene Vertriebene mit dem Hund vom Hof jag[t]en“, und durch die Alliierten nachdrücklich an ihre Verpflichtungen erinnert werden mussten. Die bittere Not der Jahre unmittelbar nach Kriegsende schildern die Autoren mit plastischen Beispielen. Erst ab 1950 setzte eine spürbare Verbesserung ein, die dem nun Fahrt aufnehmenden Wirtschaftswunder zu verdanken war. Der nach Arbeitskräften gierende bundesdeutsche Arbeitsmarkt sog auch sämtliche arbeitsfähigen Vertriebenen auf. Es zeigte sich, was die Wissenschaft seitdem vielfach festgestellt hat, dass nämlich die Integration von Zuwanderern in die aufnehmende Gesellschaft am besten durch Integration in den Arbeitsmarkt funktioniert. Wie bei einer quantitativ so erheblichen Bevölkerungsgruppe wie den Vertriebenen nicht anders zu erwarten, kam auch eine eigenständige Repräsentation auf dem sich nun entfaltenden Markt der demokratischen politischen Parteien zustande. 1950 gründete sich der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE). Bei der Bundestagswahl 1953 erreichte er immerhin knapp sechs Prozent der Stimmen. Bundeskanzler Adenauer war sich der großen Bedeutung bewusst, die der Integration der Vertriebenen zukam. Er nahm den BHE in seine Koalition auf, obwohl er bereits mit einem Bündnis aus anderen Parteien die Kanzlermehrheit hatte. Die Erweiterung seiner Regierung um den BHE sicherte Adenauer im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit. Im weiteren Verlauf nahm sich neben weiteren Parteien vor allem die CDUChristlich Demokratische Union/CSUChristlich-Soziale Union der Sache der Vertriebenen so überzeugend an, dass nur noch eine geringe Zahl von Wahlberechtigten das Bedürfnis nach einer eigenen Vertriebenen-Partei verspürte. Bei der Bundestagswahl 1957 scheiterte der BHE an der Fünfprozenthürde und spielte seitdem keine Rolle mehr. Durch die gesamtgesellschaftliche Anerkennung der Anliegen der Vertriebenen war eine spezielle Vertriebenen-Partei überflüssig geworden. In der DDRDeutsche Demokratische Republik etablierte sich die Diktatur der sozialistischen Einheitspartei, die ihre Weisungen aus Moskau empfing. Hier war eine freie politische Artikulation der Interessen von Vertriebenen ausgeschlossen. Sehr viele der bei der Vertreibung verzeichneten Todesfälle gingen auf Täter aus den Reihen der sowjetischen Streitkräfte zurück. Mit Rücksicht auf Moskau wurde das Thema Flucht und Vertreibung daher in der DDRDeutsche Demokratische Republik konsequent unter den Teppich gekehrt. Wer Vertriebener war und sich öffentlich selbst so bezeichnete, musste nach dem DDRDeutsche Demokratische Republik-Strafgesetzbuch mit einer Verurteilung wegen Volksverhetzung rechnen. Da ist es nicht überraschend, dass sich unter den mehr als zwei Millionen Menschen, die die DDRDeutsche Demokratische Republik zwischen 1949 und 1961 Richtung Bundesrepublik verließen, überproportional viele Vertriebene befanden. Die verschiedenen Bundesregierungen der Jahre 1949 bis 1969 hielten am Anspruch auf Rückgabe der früheren Ostgebiete fest. Auf westdeutschen Landkarten waren in jener Zeit diese Gebiete speziell markiert und mit dem Text „derzeit unter polnischer Verwaltung“ gekennzeichnet. Erst die 1969 ins Amt gekommene sozialliberale Regierung Brandt setzte in dieser Frage auf eine andere Linie. Entspannung im Verhältnis zum Ostblock wurde angestrebt. Die durch Hitlers Krieg entstandene territoriale Realität sollte in bilateralen Vereinbarungen mit der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei offiziell anerkannt werden. Zusammenfassend wurden diese Vereinbarungen als „Ostverträge“ bezeichnet. Die oppositionelle CDUChristlich Demokratische Union/CSUChristlich-Soziale Union machte gegen die Ostverträge Front. Die Regierung verlor ihre Mehrheit, weil acht Abgeordnete, die als Vertriebene die Ostverträge nicht akzeptieren konnten, aus der SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands- und der FDPFreie Demokratische Partei-Fraktion zur Union übertraten. Das verschaffte der Union die Gelegenheit, nach Artikel 67 des Grundgesetzes ein konstruktives Misstrauensvotum auf die Tagesordnung zu setzen. Die Abstimmung fand am 24. April 1972 statt. Wäre diese Abstimmung nicht manipuliert worden, wie man heute weiß, hätte seit diesem Datum der fünfte deutsche Bundeskanzler Rainer Barzel heißen müssen. Mit dem Vorsitzenden der CDUChristlich Demokratische Union hätte erstmals ein Mann mit engem persönlichem Bezug zum Thema Flucht und Vertreibung das wichtigste politische Amt im Staat bekleidet, denn Barzel stammte aus Ostpreußen. Doch es kam anders. Barzel fehlten zwei Stimmen zur Mehrheit. Heute ist bekannt, dass die Unions-Abgeordneten Julius Steiner und Leo Wagner sich für Bestechung empfänglich gezeigt haben. Unter Vermittlung des Geschäftsführers der SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands-Fraktion, Karl Wienand, der auf der Lohnliste des Ministeriums für Staatssicherheit stand, enthielten sich Steiner und Wagner der Abstimmung und ermöglichten Brandt damit die Fortsetzung seiner Kanzlerschaft. Dafür erhielten beide je 50 000 DM – im Jahr 1972 sicher keine unerhebliche Summe. Ein Mitglied des Bundestags erhielt seinerzeit alles in allem eine monatliche Entschädigung von rund 6 200 DM. Steiner und Wagner verkauften ihre Stimme demnach für rund acht Monatsgehälter. Dieser Vorgang, der Karl Wienand nach der Wiedervereinigung eine rechtskräftige Verurteilung wegen Spionage einbrachte, macht Rainer Barzel zur tragischen Figur in der politischen Landschaft der alten Bundesrepublik. Manches in deren Geschichte wäre wohl anders gekommen, wenn die Union 1972 mit Bundeskanzler Barzel und nicht erst 1982 mit Bundeskanzler Kohl wieder an die Regierung gelangt wäre. Nach seinem unverhofften Abstimmungserfolg ging Bundeskanzler Brandt auf die CDUChristlich Demokratische Union/CSUChristlich-Soziale Union zu. Es wurde eine Resolution erstellt, die Regierung und Opposition mittragen konnten. Die Union legte großen Wert darauf, dass sich durch die Ostverträge die deutsche Frage nicht erledigt hatte. „Die Verträge nehmen eine friedensvertragliche Regelung für Deutschland nicht vorweg“, hieß es in der Resolution, die der Bundestag im Mai 1972 verabschiedete. Von 518 Abgeordneten gaben lediglich 27, durchweg Funktionäre von Vertriebenenverbänden, eine separate Stellungnahme ab. Sie hielten an der Auffassung fest, die deutschen Grenzen von 1937 seien weiterhin maßgebend und die Ostverträge unzulässig, da mit ihnen „deutsches Inland…zu Ausland gemacht“ werde. Die Mehrheit der Unionsfraktion war jedoch durch die Resolution zufriedengestellt. Sie enthielt sich bei der Abstimmung und ermöglichte so die Ratifizierung der Ostverträge. Was dies bedeutete, fassen die Autoren in klare Worte: „Die politische Schlacht um das Festhalten an den Ansprüchen auf die alte Heimat…[war] für die Vertriebenen verloren. Nach 1990 blieb auch Versuchen, diese Ansprüche gerichtlich durchzusetzen, der Erfolg versagt. In den folgenden Jahrzehnten nahm der Einfluss der seit 1957 im Dachverband Bund der Vertriebenen (BdV) zusammengeschlossenen Vertriebenenverbände ab. Als sich 1989/90 plötzlich und unerwartet die Chance ergab, das grundgesetzliche Wiedervereinigungsgebot zu erfüllen, keimte bei den organisierten Vertriebenen die Hoffnung auf, in diesem Prozess ließen sich Korrekturen der Oder-Neiße-Grenze erreichen. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die Regierung Kohl wusste genau, dass es auf internationaler Bühne sehr befremdlich gewirkt hätte, wenn sie eine Auseinandersetzung mit Polen um die Zugehörigkeit von Stettin eröffnet hätte. So die Chance zur deutschen Einheit aufs Spiel zu setzen, wäre unverantwortlich gewesen. Nachdem seine Ansprüche auf Rückkehr in die frühere Heimat sich erledigt hatten, widmete sich der BdV besonders der Betreuung deutschstämmiger Spätaussiedler aus Polen, Rumänien und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, denen das Bundesvertriebenengesetz das Recht auf Übersiedlung in die Bundesrepublik einräumt. Zudem ist der Verband bis heute ein wichtiges Instrument der Pflege gutnachbarlicher Beziehungen besonders zu Polen und Tschechien. Bezüglich der Frage, welche Lehren sich aus dem Umgang der Bundesrepublik mit den Vertriebenen für Migrationsbewegungen unserer Tage ziehen lassen, plädieren die Autoren für eine deutliche Verstärkung der Bemühungen um die Integration von Migranten. Hier springen manche Unterschiede ins Auge. Die damaligen Vertriebenen hatten in der Regel das deutsche Schul- und Ausbildungssystem durchlaufen, was bei heutigen Migranten nicht der Fall ist. Auch spielte bei Ost- und Westpreußen, Schlesiern und Sudetendeutschen das Thema Spracherwerb aus naheliegenden Gründen keine Rolle. Solche Faktoren machen die Integrationsarbeit unter Umständen heute mühsamer, als sie seinerzeit war. Ein entscheidender Unterschied ist: damals waren es Deutsche aus Deutschland, die in einen Teil Deutschlands geflohen sind. Den Vertriebenenverbänden attestieren die Autoren, „zu den langjährigen Integrationsexperten in Deutschland [zu] gehören“. Ihre Schlussfolgerung, die Verbände sollten sich für Menschen mit Fluchterfahrung öffnen, die keine deutschen Wurzeln haben und ihren Erfahrungsschatz in Sachen Integrationsarbeit verstärkt dieser Personengruppe zugutekommen lassen, erscheint bedenkenswert. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch „Schuld und Leid: 1945/2022- Das Trauma von Flucht und Vertreibung“ von Werner Sonne und Thomas Kreutzmann. 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von Christoph Kuhl

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