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Geschichte Litauens. Regionen, Reiche, Republiken 1009 - 2009

Geschichte Litauens. Regionen, Reiche, Republiken 1009 - 2009

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Lesedauer:
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Herzlich willkommen zu „Angelesen“ dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Mathias Niendorf, Geschichte Litauens. Regionen, Reiche, Republiken 1009-2009 vor. Es erschien im Jahr 2022 im Harrassowitz Verlag. Deutschland unterstreicht seine Entschlossenheit zur Bündnisverteidigung durch die Stationierung einer Brigade in Litauen. Allemal Grund genug, sich über die Geschichte des NATO-Partners und Gastlandes zu informieren. Eine umfassende Möglichkeit dazu bietet das Werk aus der Feder von Mathias Niendorf, der Geschichte Osteuropas an der Universität Greifswald lehrt. Die Herkunft des Landesnamens Litauen ist nicht ganz klar. Die plausibelste Annahme geht davon aus, dass er sich vom Lateinischen Litus für Strand herleitet und auf die Lage des Landes an der Ostsee Bezug nimmt. Im 13. Jahrhundert wurde ein Beistandsabkommen zwischen den hier siedelnden baltischen Stämmen zum Auftakt der Entwicklung Litauens zu einem Staat, der sich im weiteren Verlauf erheblich ausdehnte. Während das zum Großfürstentum aufgestiegene Litauen sich Richtung Westen gegen die Ritter des Deutschen Ordens zu behaupten hatte, gelang in Richtung Südosten eine weitläufige Ausdehnung des Herrschaftsbereichs. Die Litauer brachten große Teile der heutigen Ukraine und Belarus‘ unter ihre Kontrolle. 1320 eroberten sie Kiew. Für das weitere Geschick des litauischen Staates wurde die enge dynastische Verbindung mit Polen bestimmend. Großfürst Jogaila heiratete die Enkelin des letzten polnischen Königs aus der Dynastie der Piasten und wurde 1386 zum König von Polen gekrönt. Er begründete die Dynastie der Jagiellonen. Das Königreich Polen-Litauen war seitdem fester Bestandteil der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatenwelt Europas. Mit vereinten militärischen Kräften gelang es Polen und Litauern 1410, die Truppen des Deutschen Ordens in der Schlacht bei Tannenberg (Polnisch: Grunvald) entscheidend zu schlagen. Unterdessen erwuchs dem Königreich mit dem aufstrebenden Großfürstentum Moskau, das auf Expansionskurs Richtung Westen ging, ein neuer Gegner. Die Dynastie der Jagiellonen erlosch im 16. Jahrhundert. Es gelang keiner der adligen Familien im Königreich, sich als neue Dynastie zu etablieren. Polen-Litauen wurde zur Wahlmonarchie. Die Könige hatten keine große Machtfülle mehr. Ständige Streitigkeiten unter Adelsfraktionen prägten das Bild und schwächten mehr und mehr die Handlungsfähigkeit und schließlich die Selbsterhaltungskraft des polnisch-litauischen Staats. Bei Beginn des 18. Jahrhunderts sah Polen-Litauen mit über 700 000 km2 Fläche auf der Landkarte noch sehr eindrucksvoll aus. Am Ende des Jahrhunderts war es als eigenständiges Territorium von der Landkarte verschwunden. Die Nachbarstaaten Russland, Preußen und die Habsburgermonarchie hatten sich seinen inneren Niedergang zunutze gemacht und es zwischen 1772 und 1795 in mehreren Schritten kurzerhand unter sich aufgeteilt. Das litauische Kernland fiel dabei an Russland, das im 19. Jahrhundert die nationalen Besonderheiten der Litauer mit dem Ziel „einer Vereinheitlichung des Reiches (und einer) Aufhebung (von) Sonderentwicklungen“ unterdrückte. Viele Litauer fanden sich damit nicht ab. Die Aufstände, die 1830 und 1863 im russisch besetzten Teil Polens losbrachen, erfassten daher auch Litauen. Russland schlug sie nieder, gestand seit den 1860er Jahren der bäuerlichen Bevölkerung Litauens allerdings vorteilhaftere Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zu als den Bauern in innerrussischen Gebieten. Man hoffte am Zarenhof, so das historisch gewachsene Bindungsgefühl der litauischen Bauern an Polen allmählich zu verringern. Die Landwirtschaft blieb der bestimmende Wirtschaftsfaktor. Industrialisierung fand kaum statt. Im Jahr 1900 hatte die russische Region Litauen 2,6 Millionen Einwohner. Lediglich 24 000 von ihnen waren Industriearbeiter. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und die politische Unterdrückung trieben viele Litauer aus dem Land. Von 1899 bis 1914 wurden in den USAUnited States of America gut 250 000 Einwanderer als „Lithuanians“ registriert. Den litauischen Bauern ökonomisch Zugeständnisse zu machen, war eine Sache. Keine Nachsicht kannte das Zarenreich, wenn es um das litauische Nationalgefühl ging. Vor allem dessen Stärkung durch Verbreitung der litauischen Sprache sollte verhindert werden. Seit 1864 galt daher ein striktes Verbot, Druckschriften in litauischer Sprache herzustellen. Es wurde durch Schmuggel in großem Umfang unterlaufen. Allein in den Jahren 1900 bis 1902 wurden 56 000 verbotene litauische Druckschriften sichergestellt – wohl nur ein kleiner Teil der tatsächlich eingeschmuggelten Werke. Dauerhaft wirksam unterdrücken ließ sich das Streben nach litauischer Eigenständigkeit offenbar nicht. 1904 fiel das Druckverbot. Die russische Revolution von 1905, die auf Russlands Niederlage im Krieg gegen Japan folgte, gab Forderungen nach Autonomierechten für Litauen Auftrieb, die jedoch unerfüllt blieben. Im Ersten Weltkrieg hatten Litauer drei Jahre deutscher Besatzung zu erdulden, die durch Ausplünderung des Landes und Geringschätzung seiner Bewohner geprägt war.  Bei Kriegsende ergab sich die Gelegenheit zur Errichtung einer unabhängigen litauischen Republik. Sie trat nicht im Einvernehmen mit den Nachbarn ins Leben, denn sowohl Sowjetrussland als auch die neu entstandene Republik Polen erhoben Anspruch auf litauisches Gebiet. So folgten dem Weltkrieg bis 1920 der Litauisch-Sowjetische und der Polnisch-Litauische Krieg. Die junge Republik konnte sich behaupten, wenn sie auch hinnehmen musste, dass Vilnius, die historische Hauptstadt, an Polen fiel. Kaunas wurde zur provisorischen Hauptstadt. Die innere Entwicklung der ersten litauischen Republik verlief in den 1920er und 1930er Jahren ähnlich wie die in vielen der mittelosteuropäischen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Konkursmasse des Zarenreichs und des Habsburgerreichs hervorgegangen waren. Die pluralistische, liberale Demokratie konnte sich nicht festigen. Auf häufig wechselnde, parlamentarisch verantwortliche Regierungen folgten nunmehr autoritäre Regime. In Litauen war der Kipppunkt im Dezember 1926 erreicht. Das Militär putschte und brachte Antanas Smetona an die Macht. Er hatte bereits 1919 als demokratisch gewählter Staatspräsident amtiert und übernahm dieses Amt nun wieder, um es bis 1940 autoritär auszuüben. Sein Regime stützte sich auf die Streitkräfte und auf paramilitärische Wehrverbände. Das Parlament wurde 1927 aufgelöst. Erst 1936 wurde nach den Vorgaben des Regimes ein neues gewählt. Die Streitkräfte profitierten von ihrer starken Stellung im Staat. Bis 1938 stieg der Anteil des Wehretats am Bruttoinlandsprodukt auf 7,3 %. Selbst einige leitende Funktionäre des Regimes hielten das für fragwürdig. Sie gingen davon aus, dass die litauische Armee im Konfliktfall gegen ihre sehr viel größeren Nachbarn ohnehin chancenlos sei und man die entsprechenden Haushaltsmittel besser anderweitig verwenden könne. Mit diesem Argument drangen sie nicht durch, doch gab ihnen der weitere Ablauf der Geschichte recht. Die Sowjetunion und das Großdeutsche Reich erzielten im August 1939 eine Verständigung über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Mittel- und Osteuropa. Dabei wurden die baltischen Staaten der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Damit war auch das Schicksal der Republik Litauen besiegelt. Beistand gegen die absehbare Eingliederung in die Sowjetunion war von keiner Seite zu erwarten. Widerstand schien aussichtslos. Das Kabinett beschloss bei seiner letzten Sitzung, von Kampfhandlungen abzusehen. Im Juni 1940 besetzte die Rote Armee Litauen kampflos. Im August folgte der Beitritt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik zur Sowjetunion. Diese erhielt aus Stalins Hand „huldvoll“ die alte Hauptstadt Vilnius zurück, die 1939 von Polen an die Sowjetunion gefallen war. Moskau nahm sich nun der Bevölkerungsgruppen an, die nach sowjetischer Lesart sog. Volksfeinde darstellten. „Uniformträger aller Art, Geistliche, Geschäftsleute, größere Bauern“ waren ab sofort unerwünscht. Bis Juni 1941 wurden über 20 000 Menschen aus Litauen deportiert, Tausende weitere verschwanden im Gefängnis. Die sowjetischen, brutalen Säuberungen kamen im Juni 1941 durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion abrupt zum Ende. Das Morden im Land jedoch nicht.   In den folgenden drei Jahren deutscher Besatzung bis zum erzwungenen deutschen Rückzug nach Westen 1944 kamen in Litauen mindestens 420 000 Menschen ums Leben, darunter 200 000 litauische Juden und 170 000 sowjetische Kriegsgefangene. Mathias Niendorf stellt fest: „Höchstens 10 000 litauische Juden oder weniger als fünf Prozent erlebten, verstreut in aller Welt, das Kriegsende“. Es gehört zur unverzichtbaren historischen Genauigkeit und bedeutet keine Relativierung deutscher Schuld, wenn Niendorf darauf hinweist, dass die deutschen Besatzer unter den Litauern überzeugte Helfer beim verbrecherischen Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung fanden. Angehörige der 1940 von Exil-Litauern in Berlin gegründeten Litauischen Aktivisten-Front hatten in Kaunas schon mit systematischen Ausschreitungen gegen ihre jüdischen Mitbürger begonnen, bevor die Wehrmacht am 24. Juni 1941 die Stadt erreichte. Die Hoffnung der Aktivisten-Front, solcher Eifer werde die Deutschen dazu bewegen, Litauen eine autonome Verwaltung zuzugestehen, erfüllte sich nicht. Das Land blieb bis 1944 deutsch verwaltetes Generalkommissariat. Als die Aktivisten-Front weiterhin auf Autonomierechte pochte, wurde sie verboten. Ihre leiteten Funktionäre kamen in Konzentrationslager. Dass die Antisemiten in den Reihen der Aktivisten nicht repräsentativ für alle Litauer waren, zeigte sich vielleicht daran, dass 1943 der Versuch scheiterte, einen SSSchutzstaffel-Verband aus Litauern zusammenzustellen. Freiwilligenmeldungen blieben aus. Die Erfahrung der deutschen Besatzung steigerte allerdings in den Augen vieler Litauer keineswegs die Attraktivität eines Lebens im vermeintlichen Sowjetparadies. Als Litauen 1944 wieder sowjetisch wurde, nahmen umfangreiche antisowjetische Partisanengruppen ihre Tätigkeit auf. Die unzugänglichen Waldgebiete des Landes dienten ihnen als Rückzugsräume. Sie töteten bis 1953 rund 11 500 Personen, denen sie Kollaboration mit den Sowjets vorwarfen. Die Rote Armee und Sondertruppen des Moskauer Innenministeriums brauchten bis 1953 um die Partisanen niederzukämpfen. Dabei wurden etwa 20 000 von geschätzten 50 000 Untergrundkämpfern getötet. Das Ende dieser Partisanenbewegung fiel ins selbe Jahr wie der Tod Stalins. Die Verhältnisse gestalteten sich danach weniger repressiv. Und die Sowjets trieben die Industrialisierung Litauens voran. In den 1980er Jahren waren drei Viertel der Erwerbstätigen in der Industrie tätig. Anders als in Lettland und Estland war mit der Industrialisierung keine weitgehende Russifizierung verbunden. Der Anteil der Russen an der Bevölkerung Litauens lag 1989 bei 9,4 %. Bis 2021 sank er auf rund 5 %. Auch über 40 Jahre Zugehörigkeit zur Sowjetunion konnten das Bestreben Litauens nach nationaler Freiheit nicht brechen. Ende der 1980er Jahre bot sich zum zweiten Mal die Chance, den Weg Richtung Eigenstaatlichkeit zu beschreiten. Die Reformpolitik des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow stellte, wenn auch von ihrem Urheber unbeabsichtigt, die Weichen in Richtung Auflösung der Sowjetunion. Das war im Sinne der politischen Kräfte (nicht nur) in Litauen, die aus dem Orbit Moskaus hinausstrebten. Im August 1989 protestierten Hunderttausende mit einer friedlichen Menschenkette, die sich durch die drei baltischen Sowjetrepubliken zog, anlässlich seines 50. Jahrestages gegen den Hitler-Stalin-Pakt bzw. dessen Folge, die Sowjetisierung des Baltikums. Auch die Kommunistische Partei Litauens trug dem sich Bahn brechenden Willen zur Unabhängigkeit Rechnung. Ende 1989 sagte sie sich von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion los. Im Februar 1990 folgten die ersten demokratischen Wahlen seit 1926. Die seit 1988 bestehende Unabhängigkeitsbewegung Sajudis erzielte die absolute Mehrheit. Am 11. März 1990 erklärte das Parlament Litauen für unabhängig. Moskau setzte Litauen daraufhin unter größtmöglichen wirtschaftlichen Druck. Wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtung der sowjetischen Teilrepubliken untereinander verschlechterte sich dadurch die Versorgungslage in Litauen dramatisch. Unter Vermittlung Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland stimmte Vilnius zu, die Unabhängigkeitserklärung zwar nicht zurückzunehmen, jedoch auszusetzen. Daraufhin nahm Moskau die Lieferung lebenswichtiger Wirtschaftsgüter im Juli 1990 wieder auf. Dieser scheinbare Sieg Moskaus konnte den Prozess des Zerfalls der Sowjetunion freilich nicht aufhalten. Auch blutige Gewalt vermochte dies nicht, wie sich im Januar 1991 zeigte. Am 13. Januar gingen sowjetische Truppen auf friedlich Demonstrierende am Fernsehturm in Vilnius los. 14 Zivilisten wurden getötet, Hunderte verletzt. Bis heute sind die Hintergründe dieser Aktion unklar. Das litauische Parlament organisierte als Reaktion im Februar 1991 eine Volksabstimmung, an der sich circa 85 % der Stimmberechtigten beteiligten. 90 % davon sprachen sich für ein unabhängiges und demokratisches Litauen aus. Moskau erkannte das Ergebnis nicht an, konnte aber nicht verhindern, dass in den nächsten Monaten mehr und mehr Staaten Litauens Unabhängigkeit anerkannten, im September 1991 auch die USAUnited States of America. Die Sowjetunion zerbrach und hörte zum Jahresende sogar auf zu existieren. Die Souveränität Litauens, das seit 2004 der NATO und der EU angehört, ist seitdem völkerrechtlich anerkannte Tatsache. Mittlerweile scheint es nicht mehr ausgeschlossen, dass diese Tatsache infrage gestellt werden könnte. Die politische Führung Russlands hält den Zerfall der Sowjetunion für die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Längst kämpft Russland in der Ukraine mit brutaler Gewalt scheinbar am Wiederentstehen des einstigen Imperiums. Anders als der Ukraine hat sie den baltischen Staaten, die sich auf ihre Partner in der NATO verlassen können, bislang nicht offiziell das Recht auf eine souveräne Existenz abgesprochen. Was auch immer die nächsten Schritte Russlands betreffend Litauen sein werden, der Blick in die litauische Geschichte zeigt, dass alle Versuche auswärtiger Mächte sich dieses Land dauerhaft einzuverleiben letztlich am Selbstbehauptungswillen und der Freiheitsliebe der Litauerinnen und Litauer gescheitert sind. Das war eine neue Folge von „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellten wir das Buch von Mathias Niendorf, Geschichte Litauens. Regionen, Reiche, Republiken 1009-2009 vor. Es erschien im Jahr 2022 im Harrassowitz Verlag.

von Christoph Kuhl

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