Genosse General! Transkript

Genosse General! Transkript

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„Ich glaube, dass mir die Nato 18-jährige Generale nicht abnehmen wird.“ Konrad Adenauers berühmtes Bonmot war seine schlagfertige Antwort auf die Frage eines Journalisten, ob „die Generale Adolf Hitlers auch die Generale Konrad Adenauers sein“ werden. 18-jährige Generale gab es auch in den DDRDeutsche Demokratische Republik-Streitkräften nicht, dafür aber einen 32-jährigen General. In der Geschichte der Bundeswehr waren die jüngsten Brigadegenerale im Zeitpunkt ihrer Ernennung in den 1960er und 1970er Jahren 43 Jahre alt. Der mit 32 Jahren in der DDRDeutsche Demokratische Republik zum Generalmajor ernannte war Heinz Keßler. Am 1. Oktober 1952 wurde Keßler Chef der sogenannten Volkspolizei-Luft, der noch getarnten Vorgängerorganisation der Luftstreitkräfte. Sie gehörte zum Innenministerium, unter deren Dach die sogenannte kasernierte Volkspolizei im Geheimen den Aufbau regulärer Streitkräfte vorantrieb. Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir den Sammelband „Genosse General! Die Militärelite der DDRDeutsche Demokratische Republik in biographischen Skizzen“, herausgegeben von Hans Ehlert und Armin Wagner, vor. Es erschien im Jahr 2002 im Christoph Links-Verlag Berlin. Darin werden 19 Biographien von Generalen der anderen deutschen Armee vorgestellt: elf aus der sogenannten „Gründergeneration“, fünf unter ihnen mit einer Offizierskarriere in Reichswehr und Wehrmacht, sechs waren Altkommunisten. Am Aufbau der NVANationale Volksarmee wirkten rund 220 frühere Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands oder der SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands vor 1933 nun in Uniform mit, aber nicht alle als Offizier oder gar General. Keßler war Arbeiterkind, Maschinenschlosser, Kommunist - und wurde im Alter von 20 Jahren 1940 in die Wehrmacht einberufen. 1941 lief Keßler an der Ostfront bei erster Gelegenheit zur Roten Armee über. Nach Kriegsende baute er mit Erich Honecker die kommunistische Jugendorganisation FDJFreie Deutsche Jugend in der sowjetischen Besatzungszone auf. 1950 trat Keßler im Auftrag der herrschenden Staatspartei SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands in die sogenannten Bewaffneten Organe der DDRDeutsche Demokratische Republik ein. Seine Aufgabe war der geheime Aufbau der neuen Luftstreitkräfte. 1955 bis 1957 absolvierte Keßler die Generalstabsausbildung in Moskau. In dieser Zeit stand mit Generalmajor Heinz-Bernhard Zorn ein ehemaliger Major der Luftwaffe der Wehrmacht an der Spitze der NVANationale Volksarmee-Luftstreitkräfte. Wie sein Vorgesetzter Keßler, war auch Heinz-Bernhard Zorn am 1. Oktober 1952 zum Generalmajor ernannt worden. Er war damals 40 Jahre alt. Der ehemalige Wehrmachtoffizier und der Arbeitersohn, Kommunist und Wehrmachtdeserteur – sie beide gehörten zu den ersten Generalen der DDRDeutsche Demokratische Republik. Dass die sich selbst als „sozialistische Armee neuen Typs“ bezeichnenden Streitkräfte alte Wehrmachtsgenerale in neuer Uniform in ihren Reihen hatte, wurde in der offiziellen Geschichte der NVANationale Volksarmee später wenn überhaupt nur versteckt am Rande kurz erwähnt und lieber ganz verschwiegen. Zum Selbstbild passten die alten nicht. Für den Aufbau einer neuen Armee waren deren Fachwissen und Erfahrung aber dringend nötig. So wie auch in der Bundeswehr. Auch in der NVANationale Volksarmee waren es erstaunlich viele: knapp 500 frühere Wehrmachoffiziere, darunter neun alte Generale. So sehr die alten Wehrmachtoffiziere auch in der NVANationale Volksarmee gebraucht wurden, so sehr begegnete der Staat und sein Überwachungsapparat ihnen mit Misstrauen. Der personelle Mittelbau der neuen Armee stützte sich vor allem auf die Erfahrung von 1600 Unteroffiziers- und 2600 Mannschaftsdienstgraden der Wehrmacht ab. Wobei hier in der Bewertung zu berücksichtigen ist, dass die meisten von ihnen im Weltkrieg zur Wehrmacht eingezogen wurden. Unter ihnen waren selbstverständlich auch Kommunisten und Sozialdemokraten, was wiederum die strikte Kategorisierung nach Schubladen oder Karteikarten hier Kommunist, da Wehrmachtsoldat ad absurdum führt. Auch der eingangs erwähnte junge Heinz Keßler war beides. Weitere acht von ihnen für ihr Buch ausgewählte Generalsbiographien ordnen die Herausgeber der zweiten Generation, der sogenannten „Aufbaugeneration“ der NVANationale Volksarmee, zu. Darunter befindet sich auch Keßler, dessen biographische Skizze von Matthias Uhl zutreffend mit „Honeckers politischer General“ betitelt wurde. Fraglich ist aber die Zuordnung Keßlers zur „Aufbaugeneration“. Wie eingangs erwähnt, gehörte er 1952 zu den allerersten Generalen der neuen Streitkräfte und damit zweifelsohne zu deren „Gründergeneration“. Auch für nicht übermäßig an der NVANationale Volksarmee-Geschichte, sondern mehr an der der Reichswehr und Wehrmacht Interessierte, bietet der Sammelband spannende Lektüre. Exemplarisch sollen an dieser Stelle kurz die militärischen Lebenswege zweier Generale vorgestellt werden, die in der NVANationale Volksarmee und zuvor schon in der Wehrmacht Generale waren. Der bekannteste frühere Wehrmachtgeneral in NVANationale Volksarmee-Uniform war Vincenz Müller. „Vollblutbayer, intelligent, selbstbewußt und ehrgeizig, machte ihm sein kaum zu bändigendes, impulsives Temperament viel zu schaffen“, so charakterisierte ihn Ulrich de Maizière. Der spätere Generalinspekteur der Bundeswehr und der erste Chef des Hauptstabes der NVANationale Volksarmee kannten sich aus gemeinsamer Zeit nach dem Sieg über Frankreich im Stab der Heeresgruppe C in Dijon. Oberst im Generalstab Vincenz Müller war dort Ia, also der Erste Generalstabsoffizier, unter Generaloberst Ritter von Leeb. Im Zuge der Vorbereitung des Feldzuges gegen die Sowjetunion übernahm Müller dann die Aufgabe des Chefs des Generalstabs der neu aufzustellenden 17. Armee unter General Carl-Heinrich von Stülpnagel, später an der Front unter Generaloberst Hermann Hoth. Im September 1943 übernahm Müller als Generalleutnant das Kommando über die 56. Infanteriedivision im Verband der 4. Armee. Ab Januar 1944 befehligte er nacheinander drei Armee- bzw. Panzerkorps, weiterhin innerhalb der 4. Armee. Als große Teile dieser Armee im Mittelabschnitt der Ostfront im Juli 1944 eingekesselt wurden, gab Müller den Befehl, den Kampf einzustellen. Er selbst begab sich in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Torsten Diedrich beschreibt in seinem gut zu lesenden biographischen Essay die „umgehende“ schnelle Wandlung des „eben noch pflichtbewußten Generals“ zum „Gegner des NSNationalsozialismus-Regimes“: „Kaum in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – und das ist ebenfalls relativ einmalig – war es Müller, der sich selbst dem Nationalkomitee ´„Freies Deutschland“´ und dem Bund Deutscher Offiziere anbot – schon einen Tag nach Gefangennahme“. Diedrich fragt, warum Müller sich dazu entschloss: „War es die Hoffnung auf bessere Behandlung in Gefangenschaft?“ –Zeitsprung– Ab 1952 wurde Müller von der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands mit der militärischen Organisation des Neuaufbaus der DDRDeutsche Demokratische Republik-Armee beauftragt. Der Generalleutnant erhielt seinen alten Dienstgrad wieder und wurde später Chef des Hauptstabs der NVANationale Volksarmee, also des Generalstabs, der nicht so heißen durfte. Er wurde sogar Stellvertretender Verteidigungsminister. Müller war damit der in Dienststellung und Rang höchste Wehrmachtoffizier in NVANationale Volksarmee-Uniform. Er war mit seinem Fachwissen der unersetzliche Organisator der neuen Armee. Alt- und Jungkommunisten in der NVANationale Volksarmee kritisierten Müller für die Nutzung von Wehrmachtvorschriften, mussten aber deren Zweckmäßigkeit anerkennen. 1957 entschied die SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands, sich von den alten Wehrmachtoffizieren baldmöglichst zu trennen. Anfang 1958 schrieb Müller sein Entlassungsgesuch - offiziell aus gesundheitlichen Gründen. Er starb im Mai 1961 aus sehr wahrscheinlich eigenem Entschluss durch Sturz vom Balkon. Nach Müller der in Rang und Bedeutung für die NVANationale Volksarmee zweitwichtigste frühere Wehrmachtgeneral war Arno von Lenski. In seiner kurzweilig geschriebenen Vorstellung des Lebens des Generals beschreibt ihn Rüdiger Wenzke als „eleganten und ritterlichen Sportsmann, dessen graumelierter Kopf wunderbar unter einen friderizianischen Dreispitz gepasst hätte“. Der im ländlichen Ostpreußen an der russischen Grenze 1893 geborene von Lenski verkörperte die „Traditionen der preußischen Kavallerie“ und den „Inbegriff des preußischen Offiziers adlig-elitärer Herkunft“, so Wenzke. Im Januar 1943 im Kessel von Stalingrad zum Generalleutnant befördert, endete für den Divisionskommandeur von Lenski der Krieg am 2. Februar 1943. Anders als Müller lief von Lenski nicht innerhalb eines Tages mit fliegenden Fahnen auch politisch zu den Sowjets über. Der „tiefe Prozess des Nachdenkens“ dauerte mehr als ein Jahr, ehe sich der General 1944 zur Mitarbeit im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und im Bund Deutscher Offiziere entschloss. Wie Müller einst Generalleutnant zog von Lenski 1952 als Generalmajor der Kasernierten Volkspolizei wieder die Uniform an,. Seine Aufgabe war der Aufbau der Panzertruppe, erst als Chef der Verwaltung Motorisierung, dann nach offizieller Gründung der NVANationale Volksarmee kurz und knapp als deren „Chef Panzer“. Eine weitere Beförderung blieb ihm wie Müller verwehrt. Wie Müller wurde auch von Lenski 1958 aus dem aktiven Dienst verabschiedet. Wenn die DDRDeutsche Demokratische Republik-Propaganda der Bundeswehr deren Wehrmachtgeneräle vorwarf, antwortete die westdeutsche Presse gern mit dem Namen Arno von Lenski. Er war das Paradebeispiel für den „bruchlosen Weg von der ´brauen´ zur ´roten´ Diktatur“. Rüdiger Wenzke fasst dessen Leben mit einem treffenden knappen Satz zusammen: „Sein Leben lang war Arno von Lenski vor allem Soldat.“ Er starb 1986 im Alter von 93 Jahren. Auch dem eingangs erwähnten Generalmajor Heinz-Bernhard Zorn blieb eine weitere Beförderung verwehrt. Dabei diente er noch 22 Jahre in den DDRDeutsche Demokratische Republik-Luftstreitkräften. Nach seiner Zurruhesetzung 1974 wurde er durch den Militärischen Aufklärungsdienst der NVANationale Volksarmee für nachrichtendienstliche Tätigkeiten in Westeuropa angeworben. In die Schlagzeilen geriet der pensionierte General, als er 1980 auf Spionagemission in Frankreich verhaftet wurde und dort zwei Jahre in einem Gefängnis saß, ehe er im Alter von 70 Jahren im Rahmen eines Agentenaustauschs in die DDRDeutsche Demokratische Republik zurückkehrte. Heinz Keßler blieb dagegen keine Beförderung verwehrt. „Honeckers politischer General“ stieg 1985 zum Verteidigungsminister auf, verbunden mit der Beförderung zum höchsten Dienstgrad Armeegeneral. Da war er schon 65 Jahre alt. Als Bundeswehrgeneral wäre er längst im Pensionsalter gewesen. Die DDRDeutsche Demokratische Republik hatte während der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands-Herrschaft in 35 Jahren nur drei Verteidigungsminister – und einen vierten im letzten Jahr der Nach-Wende-DDRDeutsche Demokratische Republik. Die Bundesrepublik hatte im gleichen Zeitraum zehn Verteidigungsminister und – da der Minister in der DDRDeutsche Demokratische Republik zugleich höchster General war – hier auch der Vollständigkeit des Vergleichs wegen erwähnt: neun Generalinspekteure. Im Alter von 69 Jahren trat Keßler im November 1989 als Minister zurück – unfreiwillig, denn in der DDRDeutsche Demokratische Republik hatte die friedliche Revolution die SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands-Herrschaft beendet. Ohne diesen historischen Einschnitt wäre Keßler sicher noch viele Jahre an der Spitze der DDRDeutsche Demokratische Republik-Streitkräfte geblieben. Stattdessen wurde er 1993 in den Mauerschützenprozessen zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe wegen der Anstiftung zum Totschlag verurteilt. 1998 wurde Keßler im Alter von 88 Jahren aus gesundheitlichen Gründen auf Bewährung aus der Haft entlassen. Der dereinst mit gerademal 32 Jahren General gewordene Keßler starb 2017 im Alter von 97. Die Nationale Volksarmee der DDRDeutsche Demokratische Republik hat ihren Platz in der deutschen Militärgeschichte. Aber ist sie deshalb traditionswürdig für die Bundeswehr heute? Tradition ist immer Auswahl aus dem Angebot der Geschichte. Und bei weitem nicht alles in der deutschen Militärgeschichte kann und darf heute für uns Soldaten der Bundeswehr traditionswürdig sein. Und die NVANationale Volksarmee ist es auch nicht, so legt es der Traditionserlass fest. Die NVANationale Volksarmee definierte sich selbst als „sozialistische Klassen- und Parteiarmee“. „In ihrem eigenen Selbstverständnis war sie Hauptwaffenträger einer sozialistischen Diktatur. Sie war fest in die Staatsideologie der DDRDeutsche Demokratische Republik eingebunden und wesentlicher Garant für die Sicherung ihres politisch-gesellschaftlichen Systems“ der DDRDeutsche Demokratische Republik, so stellt der Traditionserlass in deutlichen Worten fest. Grundsätzlich öffnet der Traditionserlass jedoch die Möglichkeit, nach Einzelfallbetrachtung NVANationale Volksarmee-Soldaten in das Traditionsgut der Bundeswehr aufzunehmen, wenn sie „vorbildlich oder sinnstiftend in die Gegenwart“ wirken, „etwa die Auflehnung gegen die SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands-Herrschaft oder besondere Verdienste um die Deutsche Einheit“. Bei den hier exemplarisch vorgestellten Generalen der DDRDeutsche Demokratische Republik war dies sicher nicht der Fall. Das war „Angelesen.“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, heute zum Buch „Genosse General! Die Militärelite der DDRDeutsche Demokratische Republik in biographischen Skizzen“.

von Dr. Klaus Storkmann