Einführung in Tradition in der Bundeswehr
Einführung in Tradition in der Bundeswehr
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Herzlich Willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch „Einführung in die Tradition der Bundeswehr“ von Donald Abenheim und Uwe Hartmann. Es erschien 2019 im Miles-Verlag. Vermutlich hat jeder Angehörige der Bundeswehr schon einmal vom Traditionserlass der Bundeswehr gehört. Er findet sich in den Anlagen zur allgemeinen Regelung A-2600/1, die den Titel „Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur“ trägt. Die Systematik der Regelungslandschaft bestätigt somit, was schon inhaltlich klar auf der Hand liegt: den engen Zusammenhang zwischen Tradition einerseits und Innerer Führung andererseits. Beide betreffen den innersten Kern des Soldatenberufs: die Frage nach dem Sinn des Dienens. Militärische Traditionen und ihre Pflege gelten vielen Kameraden als ein schwieriges Terrain. Abenheim und Hartmann treten im vorliegenden Werk mit dem Ziel an, „grundlegende Funktionen von Tradition zu erläutern, wichtige Begriffe zu erklären, kritisch auf Brüche und Zäsuren hinzuweisen und Vorschläge für eine verbesserte Praxis zu unterbreiten.„ Die deutsche Geschichte stellt das Rohmaterial dar, den Steinbruch, aus dem sich Tradition gewinnen lässt. Keineswegs darf Geschichte mit Tradition verwechselt werden. Die letztere ist immer eine Auswahl aus den zahllosen Figuren und Ereignissen, die die erstere umfasst. Freilich kann diese Auswahl nicht willkürlich stattfinden. Ihr geht eine Prüfung voraus, die sich laut Traditionserlass vor allem an den Normen und Werten des Grundgesetzes zu orientieren hat. Diese Maßgabe stellt sicher, „dass der Primat der Politik auch für das Traditionsverständnis der Bundeswehr gilt.“ Die Funktion der kritischen Beratung übernimmt in diesem Auswahlprozess die Geschichtswissenschaft, so dass sich Tradition in der Bundeswehr definieren lässt als „eine politisch geleitete und wissenschaftlich überprüfte Auswahl aus der Geschichte.„ Die Art, in der die Geschichtswissenschaft die Erkenntnisse ihrer Forschung präsentiert, ist meist jedoch nicht unmittelbar anschlussfähig für die Truppe. Mit dem sehr speziellen Jargon, der in den Elfenbeintürmen der Universitäten gepflegt wird, kann der durchschnittliche Staatsbürger in Uniform ebenso wenig anfangen wie der durchschnittliche Staatsbürger ohne Uniform. Zurecht betonen Abenheim und Hartmann daher, dass Traditionsvermittlung die Fähigkeit erfordert, „sich prägnant aus[zu]drücken [und] die Sache auf den Punkt zu bringen.“ Das ist – nebenbei bemerkt – ein Ziel, dem sich auch der Podcast „Angelesen“ verpflichtet fühlt. Warum nun überhaupt Traditionspflege? Erstens, so halten die Autoren zurecht fest, ist sie unvermeidlich. Menschen sind mit einem Gedächtnis begabt und haben seit je das Bedürfnis, sich im historischen Zeitfluss sinnstiftend zu verorten. Ganz allgemein gesprochen: Der Mensch ist das Lebewesen, das sich in Traditionslinien stellt. Für Männer und Frauen, die den oft fordernden, am scharfen Ende auch gefährlichen Beruf des Soldaten ergriffen haben, hat Tradition zweitens großen praktischen Wert. Ihre Pflege stärkt nicht nur das Wir-Gefühl in der Truppe. Vor allem dient Tradition der Vertrauensbildung. „In unübersichtlichen Lagen in Kriegen und Einsätzen“ können sich Soldaten und Soldatinnen darauf verlassen, dass sie nichts falsch machen, wenn sie sich bei ihrem Handeln von „den tradierten Werten und Vorbildern„ leiten lassen. Die Kenntnis der Tradition ist somit ebenso wichtig und wertvoll wie die militärische Ausbildung. Dies machen die Autoren beispielhaft durch eine Szene anschaulich, die sich 2010 in Afghanistan zugetragen hat. Während eines schweren Gefechts im Raum Kunduz wurde eine Gefechtspause vereinbart. Während dieser hatte der Gegner Gelegenheit, Gefallene zu bergen und Verwundete vom Gefechtsfeld zu schaffen. Ein gegnerisches Fahrzeug mit Verwundeten musste auf dem Weg zu ärztlicher Versorgung von der Bundeswehr kontrolliertes Gelände passieren. Ein Bundeswehrsoldat berichtet, dass man das Fahrzeug zwar misstrauisch betrachtet, nach gründlicher Durchsuchung aber durchgelassen habe: „Niemand zeigte Häme oder machte sich über den Feind lustig, gleichwohl wir alle in dem Moment uns ihm überlegen fühlten. Achtung vor menschlichem Leben ließ uns Menschen bleiben.“ So bewährt sich in der Stunde des Ernstfalls das durch Tradition – und Innere Führung – verinnerlichte Bewusstsein über die Normen und Werte des Grundgesetzes, an deren Spitze die unverlierbare Menschenwürde steht, die auch jedem Feind zukommt. Dass man die militärische Tradition per Erlass regelt, ist im internationalen Vergleich unüblich, geschieht aber nicht ohne gute Gründe, die in der Zeit von 1933 bis 1945 liegen. Bei der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte führt kein Weg am Dritten Reich vorbei. Es ist eben nicht, wie neuerdings manche Rechtspopulisten tönen, nur ein „Vogelschiss“, sondern der große, unauslöschliche Schandfleck in der Geschichte unserer Nation. Als Angehöriger der Bundeswehr kann man nicht ignorieren, dass die NSNationalsozialismus-Machthaber die klassischen soldatischen Ideale mühelos missbrauchen und die Streitkräfte für die Mitwirkung an monströsen Verbrechen einspannen konnten. Der geltende Traditionserlass von 2018 ist nicht der erste. Er hat den Erlass von 1982 abgelöst, der wiederum den ersten Erlass ersetzte, der 1965 in Kraft getreten war. Dem vorliegenden Werk sind dankenswerterweise alle drei Erlasse im Wortlaut beigefügt. Abenheim und Hartmann zeigen auf, dass Traditionen und Traditionspflege in der Bundeswehr nie eine abstrakte Angelegenheit waren. Das Traditionsverständnis ist eine voraussetzungsreiche Sache, in die aktuelle „sicherheitspolitische Herausforderungen genauso wie gesellschaftspolitische Entwicklungen und innenpolitische Machtverhältnisse, aber auch neue historische Forschungsergebnisse“ mit hineinspielen. Den letzten Anstoß zur schon länger beabsichtigten Überarbeitung des Erlasses von 1982 gab 2017 der Skandal, den das Auffinden von Wehrmachts-Relikten in der Unterkunft des Jägerbataillons 291 in Illkirch ausgelöst hatte. Er gab der Medienlandschaft links der politischen Mitte Gelegenheit, genüsslich ihre altbekannten Vorurteile von der Bundeswehr als rechtsradikalem Haufen auszubreiten. Demgegenüber weisen die Autoren darauf hin, dass eine Bezugnahme auf die Wehrmacht keineswegs zwangsläufig die Identifizierung mit dem Geist bedeutet, der in der Wehrmacht geherrscht hat. Solches Verhalten kann auch „naive Effekthascherei oder unreflektierte Sehnsucht nach emotionaler Bindung“ ausdrücken. Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen dieser unbefriedigten Sehnsucht nach emotionaler Bindung und der verbreiteten Vernachlässigung der Traditionspflege in der Truppe zu sehen. Die Autoren ersparen dem Leser nicht die unangenehme Einsicht, dass beim Thema Tradition ein weit verbreitetes Führungsversagen festzustellen ist. Ausführlich zitieren sie aus dem Erfahrungsbericht eines ehemaligen Kommandeurs eines in Koblenz stationierten und mittlerweile aufgelösten Fernmelderegiments. Mit der Verwendung übernahm er 2001 auch die Teilnahme am Totengedenken, dass jeden Volkstrauertag auf der Kriegsgräberstätte Pfaffenheck in Boppard stattfand. Später erfuhr er, dass ursprünglich der Kommandierende General des dritten Korps an dieser Veranstaltung teilgenommen hatte. 1992 war es aber infolge eines Versehens der Gemeinde, die die Veranstaltung ausrichtete, einem Traditionsverband der Waffen-SSSchutzstaffel gelungen, seinen Kranz im Rahmen der Veranstaltung niederzulegen. Dieses Versehen blieb einmalig. Dennoch war nach 1992 grundsätzlich niemand oberhalb der Ebene Regimentskommandeur mehr zur Teilnahme bereit. Die ernüchternde Schlussfolgerung des betroffenen Kameraden: Bei militärischen Führern, die im tiefsten Frieden vor einer solchen Veranstaltung zurückschrecken, „kann es mit Belastbarkeit, Entschlossenheit und Tapferkeit im Krieg auch nicht weit her sein.“ Auf der politischen Leitungsebene sah es lange nicht besser aus. Angesichts des Fundes in Illkirch 2017 unterstellte die damalige Bundesministerin der Verteidigung kurzerhand der gesamten Truppe ein „Haltungsproblem.„ In ihrer bisherigen Amtszeit hatte sie allerdings kein erkennbares Interesse an militärischen Traditionen gezeigt. Stattdessen ließ sie BMVgBundesministerium der Verteidigung und Bundeswehr in erheblichem Umfang die Unterstützung einer großen Unternehmensberatung zuteilwerden – mit Ergebnissen, die man wohl eher als zweifelhaft bewerten muss. Streitkräfte sind eine staatliche Institution sui generis. Sie sind nicht irgendein Betrieb, der nach betriebswirtschaftlichen Regeln zu managen und mit den Weisheiten von McKinsey und Konsorten zu optimieren ist. In dieser Hinsicht, schreiben Abenheim und Hartmann, ist das Traditionsverständnis eine „Prüfinstanz, durch die Vorschläge aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem der Wirtschaft, hindurch müssen, um den Tauglichkeitstest für die Streitkräfte zu bestehen.“ Die Tradition schleifen zu lassen, wie es – nicht nur unter der besagten Ministerin – lange geschehen ist, hat nach Überzeugung der Autoren fatale Folgen: „Wer als Minister die Traditionen einer Armee nicht kennt, der verliert seine Soldaten und zivilen Mitarbeiter.„ Langfristig könne eine solche Entwicklung nur in „einem Führungsdesaster“ enden. Dass unter diesen Umständen immer wieder, vor allem in den Kampfverbänden, Soldaten ihr Interesse der Wehrmacht zuwenden, scheint bei oberflächlicher Betrachtung nicht unplausibel. Schließlich lässt sich kaum bestreiten, dass der Kampf der eigentliche Wesenskern des Soldatenberufs ist, und die Wehrmacht war die bislang letzte deutsche Streitmacht, die in ihrer Gesamtheit im Kampf gestanden hat. Entscheidend ist aber die Erkenntnis, dass Kampf kein Selbstzweck sein kann. Streitkräfte sind immer ein Instrument in der Hand einer politischen Führung. Daher lässt sich der Kampf nie getrennt von den politischen Zielen betrachten, die durch ihn erreicht werden sollen. „Kampf und militärisches Handwerk allein dürfen niemals als das wertvollste Gut aufgefasst werden.“ Kämpfe, die man als Aggressor in einem illegalen Angriffskrieg führt und/oder die mit systematischen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung einhergehen, können auch dann nicht vorbildlich sein, wenn sie handwerklich im Hinblick auf strategische, operative oder taktische Entscheidungen bemerkenswert sein mögen. In ihrer 2019 erschienenen Arbeit sehen die Autoren die Probleme auf dem Feld der Traditionspflege als ein Symptom für den insgesamt nicht sonderlich guten Zustand der Bundeswehr. In ihrem Fazit halten sie folgerichtig fest, dass „viele in Politik, Gesellschaft und Militär daran mitwirken [müssen], dass die Bundeswehr wieder auf die Beine kommt.„ In Traditionsfragen empfehlen sie dringend, den Fokus der Betrachtung auf die eigene lange Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr zu legen. Im Untertitel ihres Werks greifen die Autoren eine Formulierung des Journalisten Josef Joffe auf und sprechen von der Bundesrepublik als dem besten Deutschland, das es je gab. Das ist weder gelogen noch übertrieben. Deutschland und seine Streitkräfte brauchen ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Auf die 35 Jahre, in denen sie ihren hochwirksamen Beitrag im Zentrum der NATO-Anstrengungen zur Abschreckung des Ostblocks geleistet hat, kann die Bundeswehr stolz sein. Auf die anschließenden 30 Jahre, in denen sie als Armee im Einsatz im Rahmen der Vereinten Nationen und der NATO an weltweiten Bemühungen um die Sicherung von Frieden und Stabilität mitgewirkt hat, kann die Bundeswehr stolz sein. Wer nach traditionsstiftenden Vorbildern für tapfere, professionelle Pflichterfüllung im Kampf sucht, findet sie hier, in der Geschichte der Armee im Einsatz. Aus der Besinnung auf bundeswehreigene Traditionen folgt unvermeidlich „eine intensivere Beschäftigung mit der Inneren Führung. Innere Führung gibt die Leitkategorien für Tradition vor.“ Dies sind insbesondere Westbindung statt west-östlicher Schaukelpolitik, feste Einbettung der Streitkräfte in die bundesdeutsche Gesellschaft und eine Führungskultur, die allen Bundeswehrangehörigen Raum und Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung eröffnet. Besonders heben die Autoren die zentrale Rolle hervor, die den militärischen Vorgesetzten zukommt. An sie, die die Kernzielgruppe des Buches bilden, richten Abenheim und Hartmann den Appell, trotz vieler anderer Aufgaben und der leidigen, zu viel Zeit fressenden Bürokratie die nötige Zeit in Tradition und Innere Führung zu investieren. Sich um die Traditionspflege im unterstellten Bereich zu kümmern, ist heute noch wichtiger als in früheren Jahrzehnten. Soldatinnen und Soldaten sind in der heutigen Medienlandschaft einer ständigen Gefährdung durch „geschichtsrevisionistische Verführungen und vereinfachende mediale Aufbereitungen“ ausgesetzt, der entgegengewirkt werden muss. In diesem Zusammenhang ermutigen die Autoren Vorgesetzte, in der Traditionsarbeit die vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zur Verfügung gestellte Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Wenn Unklarheit über die Eignung bestimmter Personen als traditionswürdige militärische Vorbilder besteht, kann hier die Ansprechstelle für militärhistorischen Rat durch entsprechende Prüfung weiterhelfen. Kommandeure und Chefs sollten das Thema Tradition auch bei Übergabegesprächen immer auf der Liste haben. Wo immer möglich sollte der Austausch zwischen den verschiedenen Soldatengenerationen gefördert werden. Die Generation Einsatz blickt vor dem Hintergrund ihrer Gefechtserfahrung anders auf das Thema, ist für Pathos in der Traditionspflege aufgeschlossener als die Generation Kalter Krieg. Ein gemeinsames Verständnis zu fördern ist wichtig. „Keine Generation darf das vergessen, was der anderen als Erfahrungsschatz am Herzen liegt.„ Auch der Dialog mit Interessierten außerhalb der Truppe sollte aktiv geführt werden. Nicht den nächsten vermeintlichen oder tatsächlichen Skandal um Wehrmachtsrelikte abwarten, sondern in den Diskurs mit der Öffentlichkeit treten im Bemühen, sie für die Besonderheiten und Gefahren des Soldatenberufs zu sensibilisieren. Ihr das daraus resultierende Bedürfnis von Soldatinnen und Soldaten nach Traditionen verständlich machen; dass das nicht leicht ist, ist den Autoren klar. Sie wissen, dass „die Frage nach soldatischen Werten und Vorbildern für die breite Masse der Bürger kaum noch Relevanz hat.“ Das liegt an der „abnehmenden Präsenz der Streitkräfte im nationalen Alltag, die ihren Tiefpunkt mit der Aussetzung der Wehrpflicht erreichte.“ Immerhin ist, was das betrifft, eine Trendumkehr zu verzeichnen. Die Gesellschaft bringt der Bundeswehr seit dem russischen Überfall auf die Ukraine erkennbar mehr Interesse entgegen als zuvor, und auch in Sachen Wehrpflicht dürfte das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch „Einführung in die Tradition der Bundeswehr“ von Donald Abenheim und Uwe Hartmann. Es erschien 2019 im Miles-Verlag.