Die große Illusion - Transkript

Die große Illusion - Transkript

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Der Erste Weltkrieg stellt in zweifacher Hinsicht einen Epochenbruch dar. Zum einen im Hinblick auf die politischen und sozialen Umwälzungen, die sich in seiner Folge ergaben. Scheinbar festgefügte soziale Ordnungen wurden über den Haufen geworfen, Monarchen reihenweise vom Thron gestürzt, die Landkarte Europas weitgehend neu gezeichnet. Zum andern war er auch im engeren militärischen Sinne ein Epochenbruch, da kein Krieg zuvor auch nur annähernd so viele Menschen das Leben gekostet hatte wie dieser. Bis zum Ersten Weltkrieg war es in Europa üblich gewesen, in Friedensverhandlungen bei Ende eines Krieges keine Betrachtungen über die Frage anzustellen, ob manche Kriegsparteien mehr als andere für den Ausbruch des Kriegs verantwortlich gewesen seien. Darauf zu verzichten diente dem Zweck, ein Wiederaufflammen von Streitigkeiten zu vermeiden. Conze verweist auf das Beispiel der Friedensverhandlungen von 1814/15 bei Ende der Napoleonischen Kriege. Frankreich war besiegt, saß jedoch bei den Verhandlungen als gleichberechtigte Macht mit am Tisch. Das Ergebnis war eine europäische Friedensordnung, die immerhin fast 40 Jahre Bestand hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg war ein vergleichbares Vorgehen nicht mehr möglich. Das Zeitalter der Kabinettspolitik, in dem sich Obrigkeiten miteinander verständigen konnten ohne dabei die öffentliche Meinung zu berücksichtigen, war schon Jahrzehnte vor 1914 vorbei gewesen. Der Weltkrieg hatte nur infolge der technischen Möglichkeiten der Massenmobilisierung in diesem Umfang und unter Inkaufnahme so hoher Verluste geführt werden können. Um die Massen bei der Stange zu halten, um die großen Anstrengungen und Verluste, die der Krieg mit sich brachte, zu rechtfertigen, hatten alle kriegführenden Staaten im Lauf des Krieges zwei Dinge getan: Erstens mit allen Mitteln moderner Propaganda die „öffentliche Kriminalisierung des Gegners“ betrieben. Aus dem jeweiligen Gegner wurde der Feind, der Ausdruck des absoluten Bösen. War die Vorstellung akzeptabel, dass das absolute Böse gleichberechtigt bei Friedensverhandlungen mit am Tisch sitzen könne? Wohl kaum; zweitens hatten viele kriegführende Staaten während des Kriegs ihre Kriegsziele deutlich ausgeweitet. Im deutschen Fall etwa hatten die Zielvorstellungen im September 1914 hauptsächlich Gebietserweiterungen Richtung Westen vorgesehen. Unter dem Eindruck des erfolgreichen Verlaufs des Kriegs gegen Russland waren erst erheblich später auch weitgehende Annexionsziele Richtung Osten hinzugekommen. Frankreich trat mit dem Hauptziel der Rückgewinnung des 1871 an das neue Deutsche Reich verlorenen Elsass-Lothringen in den Krieg ein. Bei Kriegsende war das Ziel deutlich weiter gesteckt: Man wollte alle linksrheinischen Gebiete von Deutschland dauerhaft abtrennen. Die Kriegsziele der Kriegsverlierer waren bei Kriegsende freilich ohnehin Makulatur. Für den Gang der Friedensverhandlungen war allerdings entscheidend, dass „auch die divergierenden Friedensziele der Siegermächte…ein Abrücken von Maximalforderungen“ unausweichlich machten. Doch wollen wir nicht vorgreifen und uns an die Chronologie halten. Über den Ausgang des Kriegs entschied bekanntlich der Kriegseintritt der USAUnited States of America aufseiten der britisch- französischen Entente 1917. Dem Zustrom der riesigen materiellen wie personellen Ressourcen der USUnited States-Army hatten die abgekämpften Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn nicht mehr viel entgegenzusetzen. Bei Kriegsausbruch 1914 hatten sich die USAUnited States of America für neutral erklärt. Von strikter Neutralität konnte aber keine Rede sein, da die Beziehungen zwischen der amerikanischen und der britischen Geschäftswelt extrem eng waren. „Amerikanische Geldgeber und Investoren hofften auf einen Sieg der Entente, ja sie brauchten ihn angesichts ihrer Renditeerwartungen“. Woodrow Wilson, Südstaaten-Demokrat und seit März 1913 USUnited States-Präsident, war an der Aufrechterhaltung der Fassade der Neutralität interessiert. Das musste er schon mit Blick auf seine Wiederwahl sein, da ein Kriegseintritt in der Bevölkerung alles andere als populär gewesen wäre. Nach seiner Wiederwahl 1916 bot Wilson den Kriegsparteien Anfang 1917 seine Dienste als Friedensvermittler an. Deutschland lehnte sofort ab. Plausibel urteilt Conze, dass dies ein Fehler war. Hätte Deutschland die Annahme des Angebots erklärt, „dann wäre es für die Entente schwer geworden, sich Friedensgesprächen…zu entziehen“. So aber schloss sich das Fenster der Gelegenheit sehr schnell wieder. Kurz darauf wurde das sog. Zimmermann-Telegramm bekannt, das die Briten abgefangen und entschlüsselt hatten. Es enthielt die Weisung des Auswärtigen Amts an den deutschen Botschafter in Washington, ein militärisches Bündnis mit Mexiko für den Fall anzubahnen, dass es zu Krieg zwischen den USAUnited States of America und Deutschland käme. Diese Nachricht entfachte in der amerikanischen Öffentlichkeit heftige antideutsche Stimmung. Am 6. April 1917 erklärten die USAUnited States of America Deutschland den Krieg. Unmittelbar wirkte sich das auf dem Schlachtfeld nicht aus, weil Mobilisierung und Verlegung der USUnited States-Streitkräfte noch Zeit in Anspruch nahmen. Im Januar 1918 erläuterte der Präsident vor dem Kongress seinen berühmt gewordenen 14-Punkte-Plan. Unter dem Eindruck der revolutionären Umwälzungen in Russland legte Wilson dar, wie er sich die Grundzüge einer Nachkriegsordnung in Europa und der Welt vorstellte. Neben Punkten allgemeiner Bedeutung wie der Freiheit der Meere enthielt dieser Plan auch die erste Andeutung dessen, was später unter der Bezeichnung Völkerbund zum Vorläufer der Vereinten Nationen werden sollte. Das wesentliche Prinzip, das dem Plan zugrunde lag, war das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Alle als solche anerkannten Völker sollten die Möglichkeit erhalten, frei von Fremdherrschaft ihre politischen Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Die Völker, die in den Kolonialreichen europäischer Staaten lebten, waren dabei natürlich nicht eingeschlossen, wie später in den Versailler Friedensverhandlungen klar wurde. Die Vorstellung, dass Afrikaner oder Asiaten sich selbst regieren sollten, fand Wilson, der ein zutiefst überzeugter beinharter Rassist war, überhaupt nicht naheliegend. Europa betreffend wurde in den 14 Punkten unter anderem die Räumung aller von Deutschland besetzten Gebiete verlangt. Deutschland verwarf die 14 Punkte zwar nicht insgesamt, wies aber die Forderung nach Räumung besetzter Gebiete zurück. Tatsächlich sah es nicht so aus, als habe Deutschland Anlass, Wilsons Vorstellungen entgegenzukommen, schienen sich die Dinge doch speziell in Osteuropa militärisch sehr gut zu entwickeln. Lenins Bolschewiken akzeptierten im März 1918 im Frieden von Brest-Litowsk Bedingungen, die für Deutschland außerordentlich vorteilhaft waren. Das taten sie notgedrungen. Lenin wollte unter allen Umständen Russlands Beteiligung am Weltkrieg beenden. Die russische Armee war nicht mehr kriegstüchtig. Die deutsche Seite nutzte diesen Umstand weitestmöglich aus, Russland musste umfangreiche Gebietsverluste hinnehmen. Treffend nennt Conze den Frieden von Brest-Litowsk „ein deutsches Diktat“. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die, die sich einige Jahre später so bitter über das „Diktat von Versailles“ beklagten, hier selbst einen Diktatfrieden ins Werk setzten, als sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Im weiteren Verlauf des Jahres trübte sich die im März 1918 für Deutschland scheinbar noch so günstige Lage bekanntlich ein. Anfang Oktober sahen die Oberste Heeres- und die Reichsleitung keine andere Möglichkeit mehr, als eine Note an Wilson zu richten, in der Deutschland um Waffenstillstand bat. Im folgenden deutsch-amerikanischen Notenwechsel, der bis Anfang November dauerte, erkannte die deutsche Seite von Anfang an das Programm der 14 Punkte als Basis künftiger Friedensverhandlungen an. Das kam Wilson zupass. Frankreich und Großbritannien zeigten nämlich nicht viel Begeisterung für die 14 Punkte. Der Ansatz, die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker werde die Welt „für die Demokratie sicher machen“, wie es in einem bekannten Ausspruch Wilsons hieß, war von einem spezifisch amerikanischen Idealismus inspiriert. Er stieß auf Skepsis bei den in rein interessengeleiteter Realpolitik geübten alten europäischen Großmächten. Jetzt konnte Wilson „mit Verweis auf die Deutschen…seine europäischen Bundesgenossen auf die amerikanische Linie bringen oder dies zumindest versuchen“. Wie jeder einzelne der 14 Punkte im Detail auszulegen sei, wurde in dem Notenwechsel indes nicht verbindlich festgelegt. Es blieben Spielräume der Interpretation. Eine Verständigung auf präzise Inhalte hätte viel Zeit beansprucht, die man nicht hatte, weil sowohl die USAUnited States of America als auch Deutschland möglichst bald den Waffenstillstand wünschten. Er wurde am 11. November 1918 unterzeichnet. Seitdem bereiteten Sieger wie Besiegte sich auf die Friedensverhandlungen vor. Aus den genannten Gründen war dabei klar, dass die Zeichen nicht auf Versöhnung standen: „Nicht die Stunde der Versöhnung war 1918 gekommen, sondern die Stunde der Rache, nach der die aufgepeitschten Öffentlichkeiten in den Siegerstaaten nun verlangten“. Conze liegt richtig mit seinem Hinweis, dass es nicht anders gewesen wäre, wenn die Mittelmächte den Krieg gewonnen hätten. Interessant ist auch sein Hinweis, dass es auf die Stellungnahme Deutschlands in dieser Situation nicht ankam. Natürlich rechnete man in Deutschland damit, die Alleinschuld am Kriegsausbruch zugesprochen zu bekommen. Die Mitte November unter Leitung des Auswärtigen Amts eingerichtete „Kommission zur Vorbereitung von Friedensverhandlungen“ füllte viel Papier, um die Plausibilität dieser Alleinschuldzuweisung zu bestreiten. In der Tat gibt es gute Gründe sie zu bestreiten, wie man etwa in Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ oder in Rainer F. Schmidts Werk „Kaiserdämmerung“ nachlesen kann. Doch auch „wenn Berlin…die Botschaft eines deutschen Mea Culpa ausgesandt hätte“, hätte das auf die Haltung der Siegermächte keinen Einfluss gehabt: „In der hoch aufgeladenen Stimmung nach dem Sieg war das moralische Urteil eindeutig“. Die deutsche Delegation – mit einer großen Zahl ausführlicher Memoranden bestens präpariert für die erwarteten Verhandlungen mit den Siegermächten – wurde Ende April 1919 nach Versailles einbestellt. Über den Ablauf der Verhandlungen hatte die Delegation zu diesem Zeitpunkt noch keine Informationen erhalten. Auch in Versailles ließ man sie diesbezüglich tagelang im Unklaren. Am 7. Mai wurde ihr das fertige Vertragswerk vorgelegt, auf das die Sieger sich untereinander verständigt hatten. Weitere Verhandlungen waren nicht vorgesehen. Die Verhandlungen unter den Siegern waren kompliziert gewesen. Nur mit Mühe hatte man sich auf Vertragsbestimmungen verständigt, die für alle akzeptabel waren. Bezüglich der Behandlung Deutschlands hatte sich gezeigt, dass die Auffassungen Frankreichs und Großbritanniens deutlich voneinander abwichen. Frankreich hatte sich unter dem Eindruck der schweren Verwüstungen, die es hinzunehmen gehabt hatte, für möglichst harte Friedensbedingungen ausgesprochen. Großbritannien hatte zwar im Krieg auch erheblichen Blutzoll gezahlt, doch waren ihm wegen seiner Insellage Kriegsschäden auf eigenem Boden erspart geblieben. So taten die Briten sich leichter damit, für weniger harte Friedensbedingungen zu plädieren, wobei ihnen die USAUnited States of America sekundierten. Für Deutschland unannehmbare Bedingungen, so fürchtete London, könnten das Land dauerhaft politisch destabilisieren und schließlich den Kommunisten in die Arme treiben. Der von den Alliierten mühsam erreichte Kompromiss wäre gefährdet worden, wenn man nun auch noch mit den Deutschen darüber verhandelt hätte. Für diese waren die zur Annahme vorgelegten Bedingungen dennoch schwer erträglich: Elsass-Lothringen fiel wieder an Frankreich. Große Gebiete mussten an den neuen polnischen Staat abgetreten werden, wodurch die Provinz Ostpreußen zur Exklave wurde. Die linksrheinischen Gebiete wurden von alliierten Truppen besetzt, die deutschen Streitkräfte auf bescheidene 100 000 Mann zurechtgestutzt. Zudem wurde aus der ausschließlich Deutschland zugeschriebenen Schuld am Weltkrieg die Pflicht zur Zahlung von Reparationen abgeleitet. Deren Gesamthöhe sollte eine alliierte Kommission ermitteln. 1921 wurde sie auf 132 Milliarden Goldmark festgesetzt. Alle politischen Lager in Deutschland erklärten diese Bedingungen für unannehmbar. Der SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands-Politiker Philipp Scheidemann nannte sie einen „Mordplan“ gegen Deutschland. Die von Scheidemann geführte Reichsregierung trat aus Protest gegen die Friedensbedingungen zurück. Da die Alliierten für den Fall der Nichtannahme die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen androhten, blieb de facto jedoch keine Wahl. Nachdem die Nationalversammlung den Bedingungen zugestimmt hatte, unterzeichnete die deutsche Delegation am 28. Juni 1919 den Versailler Vertrag. In dieser Besprechung befassen wir uns aus naheliegenden Gründen hauptsächlich mit Deutschland als Vertragspartner, oder sollte man eher sagen: Gegenstand des Versailler Vertrags. Dass der Anspruch der Versailler Friedensordnung darüber weit hinausging, dass mit ihr die gesamte Weltordnung neu gestaltet werden sollte, bleibt davon unberührt. Im globalen Maßstab trifft Conzes Beschreibung dieser neuen Ordnung als einer „von den Mächten des globalen Nordens gestaltete[n] und von ihren Machtinteressen bestimmte[n]“ Ordnung zu. Dass sie sich sehr schnell als nicht tragfähig erwies, ist bekannt. Als Gründe dafür benennt Conze zum einen den völlig neuen Charakter der Situation, in die die Friedensmacher gestellt waren. Der Erste Weltkrieg hatte als erster totaler Krieg alles bisher Bekannte in den Schatten gestellt. Für den Friedensschluss nach einem derartigen Krieg gab es keine Erfahrungswerte, an denen die Akteure sich hätten orientieren können. Es kam entscheidend hinzu, dass der neuen Weltordnung von Anfang an der Garant fehlte. Für diese Stellung kamen nach Lage der Dinge nur die USAUnited States of America in Frage. Hier hatten Wilsons Demokraten bei den Kongresswahlen im November 1918 die Mehrheit an die Republikaner verloren. Die hielten nichts von der Idee, die USAUnited States of America um der Versailler Ordnung willen in Konflikte im Ausland zu verstricken. Nach Wilsons zweiter Amtszeit stellten die Republikaner von 1921 bis 1933 auch durchgehend die USUnited States-Präsidenten. Der Völkerbund konnte ohne die entschiedene Mitwirkung der USAUnited States of America nur ein zahnloser Papiertiger werden. Fest steht, dass die nach dem Ersten Weltkrieg etablierte Friedensordnung den zweiten nicht verhindert hat. Conze hat recht, wenn er schreibt, dass „die Assoziationskette Versailles – Nationalsozialismus – Zweiter Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis…der Welt fest etabliert ist“. Ob dies zurecht so ist, ist die Frage. Dass Versailles den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern konnte, muss ja nicht zwangsläufig heißen, dass es ihn verursacht habe. Natürlich haben die harten Friedensbedingungen eine politische Annäherung der Weltkriegsgegner jahrelang sehr erschwert. Dauerhaft unmöglich gemacht haben sie sie aber nicht. Davon zeugt der Vertrag von Locarno, in dem sich 1925 Frankreich und Deutschland auf die Unverletzlichkeit der Grenzen in Westeuropa verständigten. Auch das Problem der von Deutschland zu zahlenden Reparationen, das rechte Agitatoren in Deutschland dankbar aufgriffen, war nicht unlösbar. Auf der Konferenz von Lausanne wurde 1932 dafür eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung gefunden. Hitler und seinesgleichen hetzten die ganzen 1920er Jahre hindurch gegen den Versailler Vertrag, und doch blieb die NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei bloß Splitterpartei. Den Durchbruch zur politischen Bedeutsamkeit schaffte sie erst im Herbst 1930 bei der ersten Reichstagswahl nach Beginn der Weltwirtschaftskrise. Wenn die Agitation gegen den Vertrag eine Rolle beim Aufstieg Hitlers zur Macht spielte, dann offenbar nicht die entscheidende. Bliebe die Frage, ob sich aus der Friedenskonferenz von Versailles bzw. der Tatsache, dass die in sie gesetzten Hoffnungen sich nicht erfüllten, für unsere Zeit hilfreiche Schlüsse ziehen lassen. Im Epilog seines 2018 erschienenen Werks macht Conze „innerhalb wie außerhalb Europas eine Tendenz zur Relativierung völkerrechtlicher Normen und zur Remilitarisierung der Politik“ aus. Es lässt sich nicht übersehen, dass diese Tendenz sich in der Zwischenzeit noch deutlich verstärkt hat. In Europa steht wieder Krieg auf der Tagesordnung. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Allianz zwischen Russland und China gefestigt, das seinerseits in Asien auf Expansionskurs zu gehen droht. Der Westen, der seine historischen Wurzeln als politische Handlungseinheit auch in der Versailler Friedenskonferenz hat, sollte sich seiner Bedeutung als Gegenkraft gegen derartige Entwicklungen bewusst sein. Die mangelnde Bereitschaft der großen westlichen Staaten, sich auf Multilateralismus einzulassen und sich für und in Strukturen kollektiver Sicherheit zu engagieren brach der Versailler Friedensordnung das Genick. Nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg hatte es für die Entente nahe gelegen, den Krieg als große Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien zu betrachten. Dieses Gegensatzpaar hat sich auch in unseren Tagen noch nicht erledigt. So kann man nur auf einen möglichst engen politischen Zusammenhalt des Westens hoffen – und insbesondere darauf, dass in Washington nicht die außenpolitischen Fehler der 1920er Jahre wiederholt werden.

von Christoph Kuhl

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