Deutsche Militärgeschichte in Europa
Deutsche Militärgeschichte in Europa
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Herzlich willkommen zu Angelesen. dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das von Jörg Echternkamp und Christoph Nübel herausgegebene Buch „Deutsche Militärgeschichte in Europa 1945-1990“ vor. Es erschien 2022 im Ch. Links Verlag. Dieser Band versammelt Vorträge, die auf der im September 2019 vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ausgerichteten 60. Internationalen Tagung für Militärgeschichte gehalten wurden. Auf dieser Tagung wurde die deutschen Militärgeschichte zwischen 1945 und 1990 transnational vor allem unter den Aspekten der Repräsentation, Organisation und Tradition betrachtet. Den Auftakt machen einige Vorträge, die in der Sektion „Annäherungen“ zusammengefasst wurden. Hier ist besonders der Vortrag der finnischen Historikerin Sari Autio-Sarasmo von Interesse. Sie befasst sich mit der Interaktion, die während des Kalten Krieges zwischen West und Ost auf wirtschaftlichem Gebiet stattfand. Unabhängig von Meinungsverschiedenheiten auf dem Feld des Politischen funktionierte diese über die Jahrzehnte weitgehend reibungslos. Autio-Sarasmo untersucht Finnland und die Bundesrepublik als Handelspartner der Sowjetunion. Die Wirtschaftsbeziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion wurden in der Zeit der sozialliberalen Koalition ab 1969 massiv ausgebaut. Die Sowjets begrüßten diese Entwicklung als Möglichkeit, mit Hilfe der westlichen Geschäftspartner ihr technisches Knowhow zu verbessern und ihre wirtschaftliche Infrastruktur zu modernisieren. Für die bundesdeutsche Seite passte dies einerseits gut zur politischen Vorstellung von „Wandel durch Annäherung“, welche die Regierung Brandt verfolgte. Andererseits und vor allem war die Kooperation mit dem Osten „auf wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet“. Das Paradebeispiel sind die seit 1970 gemachten Röhren-Erdgas-Geschäfte. Mit Krediten westdeutscher Banken kaufte die Sowjetunion von westdeutschen Firmen Röhren und sonstige Bauteile, die ihr die Schaffung einer modernen Transport-Infrastruktur für Erdgas erlaubten. Nach deren Fertigstellung floss Erdgas in großen Mengen in die Bundesrepublik. Hier war es eine willkommene, relativ kostengünstige Möglichkeit, die Abhängigkeit von Energielieferanten aus dem Nahen und Mittleren Osten zu verringern. Erst in jüngster Zeit zwangen die Entwicklungen in Osteuropa Deutschland dazu, das russische Energieangebot wieder durch nahöstliches zu ersetzen. Die Beiträge in der Sektion „Repräsentation“ fragen danach, wie deutsche Streitkräfte „von Soldaten, Politikern oder der Zivilbevölkerung anderer Länder wahrgenommen wurden“. Die amerikanische Historikerin Kathleen Nawyn befasst sich mit der Wahrnehmung der vormaligen Generale und Generalstabsoffiziere der Wehrmacht durch die amerikanischen Besatzungsbehörden zwischen 1945 und 1949. Unmittelbar nach Kriegsende gab es Überlegungen, diese als höchst gefährlich eingestufte Gruppe kollektiv ins Exil zu schicken. Ende 1945 nahm man davon Abstand. Man erkannte, dass die Befürchtungen, die man gehegt hatte, nicht begründet waren. 1946 lehnte der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg es ab, den Generalstab der Wehrmacht als verbrecherische Organisation einzustufen. Danach kamen die noch internierten Generalstabsoffiziere sukzessive frei. Es setzte sich schließlich die Auffassung durch, diese qualifizierten und in der Regel politisch nicht vorbelasteten Männer nicht als Gefahr zu betrachten, sondern als „Menschen, die beim Aufbau des neuen Deutschlands helfen konnten“. Der Schweizer Historiker Michael Olsansky untersucht die Wahrnehmung der Bundeswehr durch das Schweizerische Offizierskorps in den 1960er Jahren. Die Schweizer entsandten regelmäßig Offiziere zu den Generalstabslehrgängen an der Führungsakademie der Bundeswehr. Die Berichte, die die Eidgenossen nach Hause schickten, konstatierten bei den bundesdeutschen Kameraden keine sehr straffe Haltung und Sprache im Dienst. Das überkommene Klischee vom „zackigen“ deutschen Soldaten fanden sie in der Realität nicht bestätigt. Die Schweizer werteten dies als Ausdruck der erfolgreichen Umsetzung des Konzepts der Inneren Führung. Sie konnten sich allerdings nicht dazu entschließen, die Innere Führung als vorbildlich anzusehen. Inwiefern dies mit der immerwährenden Neutralität zusammenhing, die ihnen die Verwicklung in den Zweiten Weltkrieg erspart hatte, kann man nur mutmaßen. Jedenfalls galt, dass „die meisten Schweizer Offiziere jener Zeit das Militär vom Kriege und nicht von der Gesellschaft her“ dachten. Die Militärsoziologen Heiko Biehl und Timo Graf widmen sich in ihrem Beitrag Datenerhebungen des Zentralinstituts für Jugendforschung der DDRDeutsche Demokratische Republik aus dem Jahr 1981. Das Institut erhob regelmäßig Daten zur Verteidigungsbereitschaft von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren, die Biehl und Graf mit heutigen Untersuchungsmethoden auswerten. 69 % der Befragten gaben 1981 an, „vollkommen bereit“ zu sein, die DDRDeutsche Demokratische Republik im Fall eines Angriffs unter Einsatz ihres Lebens zu schützen. Gut 30 % gaben Antworten, „die als nicht systemkonform gelten können“. Im weiteren Verlauf der 80er Jahre war die Verteidigungsbereitschaft rückläufig. Abgeleisteter Wehrdienst in der NVANationale Volksarmee erhöhte sie bezeichnenderweise nicht. Tatsächlich wurde sie weniger durch die offiziell eingetrichterten Feindbilder beeinflusst als durch Faktoren wie Heimatverbundenheit, die ebenfalls rückläufig war, Kontakte in die Bundesrepublik oder „negative Erfahrungsberichte von NVANationale Volksarmee-Angehörigen“. Der Beitrag des Berliner Historikers Jan Hansen und seines Marburger Kollegen Lukas Mengelkamp befasst sich mit der Ablehnung, auf die der NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik stieß. Dabei betrachten sie herausragende Figuren wie General a.D. Gerd Bastian. Dieser ließ sich wegen des Doppelbeschlusses 1980 vorzeitig pensionieren. Anschließend gründete er die vom Ministerium für Staatssicherheit der DDRDeutsche Demokratische Republik (MfS) mitfinanzierte Aktionsgruppe „Generale für den Frieden“ und gehörte seit 1983 der Bundestagsfraktion der Partei Die Grünen an, die ebenfalls vom MfS unterwandert war. Weniger prominente Bundeswehrangehörige kamen 1983 im bis heute bestehenden Arbeitskreis „Darmstädter Signal“ zusammen. Sie forderten und fordern den Abzug aller Atomwaffen aus der Bundesrepublik. Gegründet wurde der Arbeitskreis von 20 Personen. Er kam in einer Bundeswehr von seinerzeit ca. 500 000 Mann über eine dreistellige Zahl von Mitgliedern nie hinaus. Die Autoren werten seine Existenz dennoch als Nachweis dafür, dass „auch die Bundeswehr Prozessen der…Pluralisierung und Fragmentierung ausgesetzt“ war. Sie folgern, dass „das Konstrukt einer Grenze zwischen Militär und Gesellschaft“ schon in den 80er Jahren fragwürdig war. In der Sektion „Organisation“ setzt sich der Beitrag des Leiters des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr, Rudolf Schlaffer, mit der militärischen Spitzengliederung von Bundeswehr und NVANationale Volksarmee auseinander. Das maßgebliche Gremium in der DDRDeutsche Demokratische Republik war der Nationale Verteidigungsrat, kurz NVR. Er entschied über die Personalauswahl in den Streitkräften und war befugt, allen Behörden und Parteigliederungen Weisungen im Hinblick auf Verteidigungszwecke zu erteilen. Der Generalsekretär der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands war zugleich Vorsitzender des NVR. Zudem war er Vorsitzender des Staatsrats der DDRDeutsche Demokratische Republik, der die Mitglieder des NVR berief. Somit war die „umfassende parteipolitische Durchdringung der Militärorganisation“ institutionell sichergestellt. Die für die Bundeswehr charakteristische Trennung zwischen militärischer Führung und politischer Leitung wäre mit dem diktatorischen Herrschaftsanspruch der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands nicht vereinbar gewesen. Die Bundeswehr diente unter dem Primat wechselnder, immer demokratisch legitimierter politischer Leitung ausschließlich zur Landes- und Bündnisverteidigung. Die NVANationale Volksarmee war Parteiarmee und Herrschaftsinstrument der SEDSozialistische Einheitspartei Deutschlands-Diktatur. Der Beitrag von Thorsten Loch spürt der geistesgeschichtlichen Grundierung der unterschiedlichen militärischen Führungsphilosophien in Bundesrepublik und DDRDeutsche Demokratische Republik nach. Die westliche Führungsphilosophie gründet im idealistisch geprägten Zeitgeist der Zeit um 1800. Hier ging man grundsätzlich von unberechenbaren Verhältnissen aus. Der militärische Führer muss demnach imstande sein, mittels der „schöpferischen Kraft der Ideen“ auf unvorhersehbare Lagen im Sinne des Operationsziels zweckmäßig zu reagieren. Auf die Spitze getrieben kommt diese Führungsphilosophie in dem Begriff „Feldherrngenie“ prägnant zum Ausdruck. Das Mindset jenseits des Eisernen Vorhangs basierte auf ganz anderen Annahmen. Auf der Grundlage des von Marx und Lenin ausbuchstabierten historischen Materialismus wähnte man sich im Besitz privilegierter Einblicke in die Bewegungsgesetze der Geschichte. Daher hielt man die Welt für berechenbar, die Zukunft und grundsätzlich auch Kriege für planbar. Zentralistische Planwirtschaft war nicht nur in der ökonomischen Sphäre, sondern auch auf dem Gefechtsfeld das Mittel der Wahl. Loch bringt den Unterschied auf den Punkt, indem er die westliche Philosophie als organisch, die sozialistische als mechanistisch bezeichnet. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Ausbildung der militärischen Eliten. In der Bundeswehr wurde großer Wert darauf gelegt, Generale zur eigenständigen Operationsführung zu befähigen. In der NVANationale Volksarmee fand man hingegen den „Typus des hoch spezialisierten, aber fremdbestimmten Generals“. In der Sektion „Tradition“ beleuchtet der Beitrag John Zimmermanns die unterschiedlichen Ansätze der Traditionsbildung in den Streitkräften der beiden deutschen Staaten. Die NVANationale Volksarmee nahm für sich in Anspruch, in der Tradition alles aus sozialistischer Sicht „Progressiven und Revolutionären in der deutschen Militärgeschichte“ zu stehen. Dabei hatte man den Bauernkrieg der 1520er Jahre ebenso im Blick wie die preußischen Militärreformen im frühen 19. Jahrhundert und die Kämpfe der Arbeiterbewegung. Stechschritt und Uniformierung in Wehrmachts-Optik behielt man bei, um sich von der Bundeswehr abzugrenzen. Die war laut DDRDeutsche Demokratische Republik-Propaganda schließlich keine deutsche Armee, sondern eine amerikanisierte Söldnertruppe Washingtons. Auch in der Bundeswehr wurden die preußischen Reformer gewürdigt. Zieht man die geistesgeschichtlichen Unterschiede in Betracht, die Thorsten Loch in seinem Beitrag darlegt, kann man wohl sagen, dass sie in Bonn mit größerem Recht als traditionsstiftend galten als in Ost-Berlin. Zudem berief man sich in der Bundeswehr auf den militärischen Widerstand gegen Hitler und machte sich daran, mit der Inneren Führung ein neuartiges Verständnis von Militär und Menschenführung zu etablieren. Beides stieß lange auf erheblichen Beharrungswiderstand vieler in der Wehrmacht sozialisierter Kameraden. Erst 1971 erschien eine verbindliche Zentrale Dienstvorschrift zur Inneren Führung. In der NVANationale Volksarmee kannte man nichts dergleichen. Auch das Attentat vom 20. Juli 1944 firmierte hier nur als „reaktionärer Junkeraufstand“. Interessant ist auch der Hinweis auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgang mit den Streitkräften. In der Bundesrepublik war, wie Zimmermann schreibt, die bewaffnete Macht „mehr geduldet als erwünscht“. Sieht man von öffentlichen Gelöbnissen ab, die oft genug von zivilgesellschaftlichen Protestkundgebungen begleitet waren, trat die Bundeswehr nicht massiv in der Öffentlichkeit in Erscheinung. In der DDRDeutsche Demokratische Republik hingegen wurde alljährlich die „Woche der Waffenbrüderschaft“ mit viel militärischem Pomp zelebriert. Auch in Schulen und Betrieben wurde der „Tag der NVANationale Volksarmee“ offiziell begangen. In seinem Fazit stellt Zimmermann fest, dass Bundeswehr wie NVANationale Volksarmee daran interessiert waren, „ihren Bürger auf der Basis der eigenen Staatsform zum überzeugten und hochmotivierten Verteidiger zu modifizieren“ . Die in den 70er und 80er Jahren konstant hohen Zahlen von Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik sowie die im Beitrag von Heiko Biehl und Timo Graf dargelegte sinkende Verteidigungsbereitschaft der Jugend in der DDRDeutsche Demokratische Republik belegen, dass beide dabei allenfalls mäßig erfolgreich waren. Jörg Echternkamp untersucht in seinem Beitrag die seit 1984 gezeigte Wanderausstellung „Aufstand des Gewissens“ im Hinblick auf militärische Traditionsstiftung. Die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt gestaltete Ausstellung hatte den militärischen Widerstand gegen Hitler zum Inhalt. Bei ihrer Eröffnung sagte Verteidigungsminister Wörner 1984, das Anliegen der Attentäter vom 20. Juli sei in der Bundesrepublik „Wirklichkeit geworden…in einer rechtsstaatlichen und sozial verpflichteten Demokratie“. Eine Aussage, die beim heutigen Kenntnisstand fragwürdig erscheint. Die Attentäter waren nun einmal keine lupenreinen Demokraten. Hätten sie Erfolg gehabt, wäre das Ergebnis ihres Unterfangens wohl kein von einer freiheitlichen Grundordnung geprägter deutscher Staat gewesen. Ist die Aussage geschichtswissenschaftlich fragwürdig, illustriert sie doch die geschichtspolitische Agenda, die Politiker wie Wörner mit der Ausstellung verfolgten. Es ging offensichtlich darum, den Bogen zur Bundeswehr zu schlagen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung angeblich genau das verteidigte, was schon Stauffenberg und seine Mitstreiter gewollt hatten. Über die geschichtspolitische Hauptfunktion hinaus war die Ausstellung nützlich zur Betonung des guten kooperativen Verhältnisses zwischen Bundeswehrverbänden und Stationierungskommunen. Oft waren die Bürgermeister der Stationierungsgemeinden bei der Ausstellungseröffnung zugegen, mitunter machten Städte gar Werbung für die Ausstellung. Wenn auch der offizielle Zweck die politisch-historische Bildung der Truppe war, war die Ausstellung doch auch der Öffentlichkeit zugänglich. Man schätzt, dass bis Ende der 90er Jahre 30000 bis 40000 Besucher pro Jahr die Ausstellung gesehen haben. Die in Gästebüchern dokumentierten Reaktionen der Besucher drücken oft Hochachtung und Anerkennung für die Widerstandskämpfer sowie Mitgefühl für ihr Schicksal nach Misslingen des Attentats aus. Oft wird auch Unverständnis dafür zum Ausdruck gebracht, dass Täter wie z. B. Marinerichter Dr. Hans Filbinger nach 1945 nicht zur Verantwortung gezogen wurden, sondern im Gegenteil beeindruckende Karrieren machen konnten. Nach der Wiedervereinigung wurde die Ausstellung auch in den neuen Bundesländern gezeigt. Hier kam als spezifische Reaktion von in der DDRDeutsche Demokratische Republik sozialisierten Besuchern häufig Kritik daran zum Ausdruck, dass der kommunistische Widerstand nicht angemessen abgebildet sei. Dabei ging es etwa um die führenden deutschen Mitglieder der Internationalen Brigaden, die sich im Spanischen Bürgerkrieg Franco entgegengestellt hatten. Die NVANationale Volksarmee hatte Kasernen nach ihnen benannt. In der Ausstellung kamen sie nicht vor. Da der dem Rezensenten zugestandene Raum begrenzt ist, können leider im Rahmen dieser Besprechung nicht alle Beiträge des vorliegenden Sammelbandes angemessen gewürdigt werden. Als Fazit lässt sich festhalten, dass es dem Band überzeugend gelingt, die Fruchtbarkeit des Ansatzes der Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte für die deutsche und europäische Militärgeschichte zwischen 1945 und 1990 zu demonstrieren.