Deutsche Krieger- Transkript
Deutsche Krieger- Transkript
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Sönke Neitzel bricht mit liebgewonnenen Denkgewohnheiten. Er fragt, warum Politik und Gesellschaft es empörend finden, in Kasernen der Kampftruppen der Bundeswehr auf Wehrmachtsdevotionalien zu stoßen. Und im Unterschied zu dem Diktum der Himmeroder Denkschrift von 1950, wonach die Bundeswehr etwas „grundlegend Neues“ sein sollte, stellt Sönke Neitzel die Frage: „Was haben ein Leutnant des Kaiserreichs, ein im Nationalsozialismus sozialisierter junger Wehrmachtsoffizier und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 gemeinsam?“
Diese Fragen leiten Sönke Neitzels Längsschnittstudie zum kaiserlichen Heer, zur Reichswehr, zur Wehrmacht und schließlich zur Bundeswehr. Die Bundeswehrgeschichte unterteilt er in die Verteidigungsarmee der Bonner Republik während des Kalten Krieges und die Einsatzarmee der Berliner Republik danach. In der deutschen Militärgeschichte seit 1871 findet er Brüche, aber auch überraschende Kontinuitäten. Manche Erkenntnisse wie beispielsweise die Lernunfähigkeit der Wehrmacht ab 1942 irritieren. Sie öffnen neue Wege gerade auch im Umgang mit Tradition.
Angesichts der Zeitenwende in der deutschen Sicherheits- und Militärpolitik ist Sönke Neitzels Buch auch zwei Jahre nach Erscheinen hochaktuell. Politik, Zivilgesellschaft und Militär können viel über sich und ihre Beziehungen untereinander lernen.
Kernaussagen in 7 Abschnitten:
1 Das kaiserliche Heer
2 Die Reichswehr
3 Die Wehrmacht
4 Die Bundeswehr des Kalten Krieges
5 Die Bundeswehr als Einsatzarmee
6 Folgerungen für Führungskultur und Selbstverständnis
7 Resümee
Das kaiserliche Heer
Sönke Neitzel stellt das kaiserliche Heer als eine taktisch hoch effektive und „erstaunlich lernfähige“ Streitkraft dar, die auf den Kriegsschauplätzen im Westen und im Osten unterschiedliche Kriegsführungsstrategien anwandte. Das an der Westfront anspruchsvollste taktische Problem, wie tiefgestaffelte Grabensysteme eines Gegners überwunden werden können, löste das Heer u.a. durch die Einführung von Sturmbataillonen. Vorbildlich sei auch die hohe Kohäsion innerhalb der Truppe gewesen. Es bedurfte, so Sönke Neitzel, schwerer strategischer Fehler der politischen und militärischen Führung, um den Ersten Weltkrieg zu verlieren. Die verbreitete Charakterisierung der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff als „Militärdiktatur“ hält er für falsch. Kaiser und Kanzler hätten weiterhin Einfluss auf die Militärstrategie gehabt, diesen aber nur zaghaft genutzt. Zudem blieb die Verfassung des Staates unverändert. Gleichwohl sei damals das Primat der Politik durch das des Militärs ersetzt worden.
Die Reichswehr
Die Bezeichnung der Reichswehr als „Staat im Staate“ sei unzutreffend. Zwar fremdelte diese mit Politik und Gesellschaft; Putschpläne habe es allerdings zu keinem Zeitpunkt gegeben. In Politik, Gesellschaft und Militär herrschte breites Einvernehmen, dass die durch die Auflagen des Versailler Vertrages bedingte Wehrlosigkeit Deutschlands beendet werden müsse. Das, was die Reichswehr im Geheimen ausprobierte, sei auch Politikern bekannt gewesen. Zum Untergang der Weimarer Republik hätten vor allem die Wähler sowie der damalige Reichspräsident Hindenburg beigetragen. Allerdings habe die Reichswehrführung nichts für den Schutz der Demokratie getan. Eine „demokratische Vorzeigearmee“ sei sie nicht gewesen.
Die Wehrmacht
Die Wehrmacht beschreibt der Autor als eine „Armee der Extreme“. Ihre Gewaltbereitschaft sei historisch beispiellos. Militärfachlich sei sie längst nicht so gut gewesen, wie es im zeitgenössischen Urteil und in der Legendenbildung nach dem Zweiten Weltkrieg behauptet wurde. Im Laufe des Krieges habe sie an Professionalität stark eingebüßt. Ursache dafür sei nicht nur die nachlassende Qualität des Personalersatzes gewesen, sondern auch die fehlende Lernfähigkeit der höchsten militärischen Führung. Die Generalität habe nicht erkannt, dass die Voraussetzungen für ihren perfektionierten Bewegungskrieg ab 1942 nicht mehr gegeben waren. Der Blitzkrieg verwandelte sich in einen allumfassenden Abnutzungskampf. Als „schneller Sprinter“ konzipiert, wurde die Wehrmacht in einem „Marathonlauf“ aufgerieben. Ihre Angriffsoperationen endeten schnell im massiven Feuer ihrer Gegner. Statt wie das kaiserliche Heer zu lernen und eine Alternative zum Bewegungskrieg zu entwickeln, hielt die Generalität an ihrem vermeintlichen Erfolgsrezept fest. Dass die Wehrmacht trotz der Überlegenheit ihrer Gegner so lange weiterkämpfte, lag an ihrer hohen horizontalen und vertikalen Kohäsion, was dazu führte, dass sie zum Opfer ihrer selbst wurde. Auch ihre tiefe Einbindung in Staat und Gesellschaft habe dazu beigetragen. Hitler sei nicht der Dilettant gewesen, wie er gerade auch in den Erinnerungen von Wehrmachtsgeneralen dargestellt wurde. Sein Einfluss sei nicht übermäßig hoch gewesen. Zudem hätten sich viele Generale nicht an seine Haltebefehle gehalten.
Die Bundeswehr des Kalten Krieges
Die Bundeswehr war, so Sönke Neitzel, von Anfang an ein außen- sowie innenpolitisches Projekt. Kampfkraft stand für die Politik dabei nicht im Vordergrund. Ihr Zweck war vielmehr, das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber seinen Verbündeten zu erhöhen, ohne dabei zur Gefahr für die weitere Demokratisierung von Politik und Gesellschaft zu werden. Dazu dienten das Narrativ von der Reichswehr als einem „Staat im Staate“ sowie ein „Gesellschaftsvertrag“ mit der militärischen Führungsspitze. Diese konnte sich auf ihre militärische Arbeit konzentrieren und musste dafür auf Einfluss in der Politik verzichten. Der Aufbau der Bundeswehr dauerte deutlich länger als geplant, was auch daran lag, dass der Personalbedarf weder quantitativ noch qualitativ gedeckt werden konnte. Personelle und materielle Defizite hatten massive Auswirkungen auf die Umsetzung des anspruchsvollen Reformkonzepts der Inneren Führung. Das hochgesteckte Erziehungsziel des „guten Soldaten“, der gleichzeitig ein „überzeugter Staatsbürger und Demokrat“ ist, stieß sich hart an der Realität in der Truppe, vor allen an den „kulturellen Identitäten“, den tribal cultures der Truppengattungen. Zudem wurde über dieses Leitbild intensiv und öffentlich gestritten – unter jungen Offizieren und auch innerhalb der militärischen Führungsspitze. Das Offizierskorps war innerlich zerrissen, was seiner Kohäsion nicht guttat. Nicht wenige bewerteten den Verfassungspatriotismus, der den Soldaten als „Ersatzvaterland“ angeboten wurde, als Untergrabung der Verteidigungsfähigkeit. Als die Bundeswehr zu Beginn der 1980er Jahre den Höhepunkt ihrer Schlagkraft erreichte und zur „besten Wehrpflichtarmee der NATO“ aufstieg, sank der gefühlte Druck, vielleicht wirklich einmal kämpfen zu müssen. Bequemlichkeit und Verteidigungsbeamtenmentalitäten nahmen überhand.
Die Bundeswehr als Einsatzarmee
Für die neue Bundeswehr, so der Autor, war der Erhalt ihrer Kampfkraft nicht mehr wichtig. Ganz im Gegenteil. Sie wurde zu einem Instrument für die Erreichung zweier außenpolitischer Ziele: Zum einen ging es darum, den Nachbarn die Angst vor einem nationalistischen Deutschland zu nehmen, indem die verkleinerte Bundeswehr zunehmend in multinationale Strukturen eingebunden wurde. Zum anderen sollte das außenpolitische Gewicht Deutschlands in NATO und EU gestärkt werden. Als Instrument einer Strategie, welche die Anwendung bewaffneter Gewalt einschloss, kam sie der Politik nicht in den Sinn. Damit war auch ein Lernen von der NVANationale Volksarmee, die eine deutlich höhere Einsatzbereitschaft besessen hatte, nicht erforderlich.
Im Zuge der Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen kam es zu drei aufeinander abgestimmten Entwicklungen: (1) die erneute Reduzierung der Kampf- und Kampfunterstützungstruppen und damit ihrer Feuerkraft, (2) die weitere Verstärkung der strikten politischen Kontrolle der Streitkräfte und (3) die Erstellung eines neuen Leitbildes: Die Soldaten der Bundeswehr sollten Streetworker, Streitschlichter und Retter sein. Den Deutschen, so Sönke Neitzel, gefiel dies; der Einsatz der Soldaten in den damaligen Peacekeeping-Missionen fand weithin Anerkennung.
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan markierte das Scheitern dieser Militärpolitik. Ab 2007 musste die Feuerkraft der Einsatzverbände Schritt für Schritt erhöht werden. Die politische Kontrolle nahm ab, was auch daran lag, dass es jenseits der Vorgaben für Kontingentgröße und -ausstattung keine politischen Ziele gab, deren Einhaltung hätte überwacht werden können. Der deutschen Politik ging es vor allem darum, Gewicht und Stimme in der NATO zu haben und nicht so sehr darum, den Einsatz zu einem Erfolg zu führen. Die politische Mahnung, vorsichtig zu sein, stand im Widerspruch mit tradierten Führungsgrundsätzen, die Initiative und Risikobereitschaft forderten. Die Einsatzsoldaten erlebten hautnah die Logik des Krieges: die Gewalt mit ihren Eskalationsdynamiken. Die Bundeswehr bewies, dass sie zu kämpfen bereit und in der Lage war. Auch die deutsche Politik zeigte Zuverlässigkeit. Ein vorzeitiger Abzug wurde trotz der Verluste und fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung nicht in Erwägung gezogen.
Vor allem die Kampftruppen betonten nunmehr ihre tribal cultures, wie es auch bei verbündeten Streitkräften der Fall war. Sie entwickelten einen „transnationalen Kriegerhabitus“, der nach Rückkehr aus dem Einsatz in den Kasernen weiter gepflegt wurde. Die politische Leitung und die höhere militärische Führung zeigten dafür wenig Verständnis. „Wozu die Einsätze gut seien, welche soldatische Identität man habe, welche Vorbilder und Traditionen gelten sollten – mit solchen Fragen wurden die Soldaten vielfach allein gelassen“, stellt der Autor fest. Mehrere Führungsentscheidungen hätten dazu geführt, dass das Vertrauen zwischen Truppe, militärischer Führung und Politik vollends zerstört wurde. In diese Kommunikations- und Vertrauenskrise stießen rechte Parteien und Netzwerke mit ihren Deutungs- und Wertschätzungsangeboten, wie es bereits in den 1960er Jahren der Fall gewesen war.
Der Einsatz in Afghanistan leitete, so Sönke Neitzel, auch das Ende der Landesverteidigung ein. Die Bundeswehr verlor nicht nur ihre personelle Aufwuchsfähigkeit, sondern auch die Befähigung zum Großkampf. Heute sei die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr so gering wie der der Wehrmacht im vorletzten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs. Dabei sei, so schreibt der Historiker, „… bemerkenswert, dass sich der Niedergang der Bundeswehr so reibungslos vollziehen konnte.“ Eine allzu stark ausgeprägte Loyalität gegenüber der Politik sowie die nicht vorhandene Debattenkultur auch innerhalb der Bundeswehr seien hierfür Gründe.
Folgerungen für Führungskultur und Selbstverständnis
Das Buch „Deutsche Krieger“ liefert wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Inneren Führung. Beginnen wir mit dem Traditionsverständnis der Bundeswehr.
Sönke Neitzel erklärt den gesellschaftspolitischen Kontext, der über Jahrzehnte hinweg ein paradoxes Phänomen ermöglichte: Einerseits vertrat die Bundeswehr den Anspruch, Neues zu wagen und freiheitlich-demokratische Werte zum Fundament ihrer Führungskultur und ihres Selbstverständnisses zu machen. Andererseits wahrte sie kaum Distanz zur Wehrmacht, deren militärische Leistungsfähigkeit vor allem in den Kampftruppen des Heeres glorifiziert wurde. Erst das Ausscheiden der letzten kriegsgedienten Soldaten aus der Bundeswehr in den 1980er Jahren, dann die öffentliche Debatte über die Beteiligung der Wehrmacht an Völkermord und an Kriegsverbrechen in den 1990er Jahren und schließlich die neuen Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen des internationalen Krisenmanagements erleichterten ihre offizielle Distanzierung von ihrer unmittelbaren Vorgängerarmee. Zwischen den Zeilen liest der Leser Sönke Neitzels Erstaunen darüber, dass die Bundeswehr den Mythos der professionellen Wehrmacht bis heute unkritisch tradiert. Eine Analyse der De-Professionalisierung der Wehrmacht in der zweiten Kriegshälfte sei eine noch zu erledigende Aufgabe für die historische Bildung in der Bundeswehr. Sie dürfte zudem den Weg freimachen für eine intensivere Beschäftigung mit der bundeswehreigenen Geschichte, die der Potsdamer Militärhistoriker dringend anmahnt – nicht zuletzt deshalb, weil absehbar sei, dass Angehörige des Widerstandes gegen das Nazi-Regime und der Aufbaugeneration der Bundeswehr aus dem Kreis überlieferungswürdiger Personen entfernt werden.
Fahren wir nun mit der Kohäsion und Identifikation der Truppe fort. Sönke Neitzel fordert dazu auf, den Zusammenhalt als Voraussetzung für die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte zu stärken. Seine vergleichenden Analysen über die horizontale und vertikale Kohäsion in den verschiedenen deutschen Armeen mahnen an, diesen Faktor von Schlagkraft noch stärker zu betonen. Akuten Handlungsbedarf sieht er bei der vertikalen Kohäsion. Damit meint er das Vertrauen der Truppe in die politische Leitung und militärische Führung, die unter der Kriegführung in Afghanistan gelitten habe. Recht deutlich weist er darauf hin, dass die militärische Führung künftig die berechtigten Belange der Truppe stärker gewichten und dafür auch den Konflikt mit der politischen Leitung suchen muss.
Die Identifikation des Soldaten mit seiner Teilstreitkraft und Truppengattung wurde zuletzt im neuen Traditionserlass betont. Die Waffen- bzw. Truppengattungen seien, so Sönke Neitzel, in allen deutschen Armeen der wichtigste Bezugspunkt für das soldatische Selbstverständnis gewesen. Hier und nicht so sehr im politischen Überbau lägen wichtige Voraussetzungen für die Kampfkraft der Truppe und die Widerstandsfähigkeit des einzelnen Soldaten.
Im Hinblick auf die politische Bildung weist Sönke Neitzel darauf hin, dass alle deutschen Staaten ihren Soldaten politische Deutungsangebote gemacht hätten. Diese zeigten dafür allerdings kaum Interesse. Für Vorgesetzte und Unterstellte stand die handwerkliche Ausbildung im Vordergrund. Auch nach 1945 hätten weder die „Erlebnistherapie“ in der Bundeswehr noch die „Rotlichtbestrahlung“ in der NVANationale Volksarmee nachhaltige Wirkung bei den Grundwehrdienstleistenden erreicht. Andererseits sei die militärische Forderung, die Gesellschaft habe „fertige Staatsbürger in Uniform an den Kasernentoren abzuliefern“, naiv gewesen. Sind damit die anspruchsvollen Konzepte der Bundeswehr für die Persönlichkeitsbildung eine Illusion? Heute sind die Rahmenbedingungen für die politische, historische und ethische Bildung besser als in den Wehrpflichtarmeen vor 1945 und der Bundeswehr zwischen 1955 und 2011: Die Führerdichte ist deutlich höher, und Mannschaften verpflichten sich auf viele Jahre.
Resümee
Sönke Neitzels vergleichende Militärgeschichte bietet einen tiefen Einblick in das Beziehungsgeflecht von Politik, Gesellschaft und Militär. Er zeigt uns, wie die Bundeswehr versuchte, von ihren Vorgängerarmeen zu lernen und den veränderten sicherheits- und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Kontinuitäten sieht er insbesondere in der hohen Bedeutung der militärfachlichen Ausbildung und der soldatischen Tugenden für das Selbstverständnis sowie der horizontalen und vertikalen Kohäsion für die Schlagkraft. Hinzu kommen die Auftragstaktik als komparativer Vorteil sowie das Primat der Beweglichkeit vor der Feuerkraft. In der alten sowie der neuen Bundeswehr hatten personelle und materielle Defizite einen negativen Einfluss auf die politischen Einstellungen der Soldaten sowie auf deren Einbindung in Staat und Gesellschaft.
In seinen umfangreichen Ausführungen über die Bundeswehr als Einsatzarmee ergreift der Potsdamer Historiker Partei für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Er etabliert sich damit als Stimme einer Bevölkerungsgruppe, die sich nicht selten unverstanden fühlt und von der militärischen Führung nicht ausreichend öffentlich repräsentiert wird.