Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg

Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg

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Herzlich willkommen zu „Angelesen“, dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute stellen wir das Buch von Gerhard P. Groß „Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg“ vor. Es erschien 2022 im Verlag Walter de Gruyter. Der Erste Weltkrieg stand jahrzehntelang im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Den meisten erschien er als weit entrückter Vorgang ohne nennenswerten Bezug zur Gegenwart. Das hat sich mittlerweile geändert. Nach dem Ende der Blockkonfrontation bildete sich ab 1990 eine multipolare internationale Ordnung heraus. Sie weist Parallelen zur internationalen Ordnung der Zeit vor 1914 auf. Dies hat in Verbindung mit dem 100 Jahrestag des Kriegsausbruchs 2014 zu einem anhaltenden gesteigerten Interesse an Ursachen, Verlauf und Auswirkungen dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts geführt. Dem trägt auch Gerhard Groß mit dieser Untersuchung zur deutschen Befehlszentrale des Ersten Weltkriegs Rechnung. Eine Einrichtung wie das Große Hauptquartier ist in zweierlei Hinsicht von Interesse. Zum einen in organisatorischer Hinsicht; wer war hier institutionell vertreten? Wie liefen die Entscheidungsprozesse ab? Zum andern kommen soziologisch und alltagsgeschichtlich interessante Aspekte in Betracht. Im Großen Hauptquartier befand sich eine Reihe von Personen, die man alltagssprachlich als Alpha-Tiere bezeichnen würde. Wo solche in nennenswerter Zahl auf engem Raum agieren, sind Machtkämpfe beinharter Art zu erwarten. Die gab es auch reichlich. Doch bevor wir zu den Intrigen kommen, die den Alltag in der „Schlangengrube“ des Großen Hauptquartiers maßgeblich bestimmten, werfen wir zunächst einen Blick auf den historischen Hintergrund und die Binnenorganisation der Institution. Das „Große Hauptquartier seiner Majestät des Kaisers und Königs“ – so die amtliche Bezeichnung – stellte keineswegs eine Behörde dar. Vielmehr war es „eine Ansammlung verschiedener politischer und militärischer Dienststellen und Stäbe“. Vertreten waren neben Oberster Heeresleitung (OHL) und Marineleitung auch die politische Reichsleitung, d.h. der Reichskanzler und das Auswärtige Amt, insbesondere aber der Kaiser mit Funktions- und Würdenträgern seines Hofes. Gemäß den Grundsätzen der preußischen Militärmonarchie, die 1871 Eingang in die Reichsverfassung gefunden hatten, war der König von Preußen als deutscher Kaiser die maßgebliche Figur. Artikel 63 der Reichsverfassung bestimmte ihn zum Inhaber der Kommandogewalt. Dass Wilhelm II. nicht in Berlin blieb, sondern sich mit dem Großen Hauptquartier in relative Nähe zum Kampfgeschehen begab, entsprach der Tradition. Sein Großvater Wilhelm I. hatte es 1870/71 ebenso gehalten. Bis 1918 wurde das Große Hauptquartier an wechselnde Standorte verlegt. Der erste war Koblenz, das man seinerzeit noch mit C schrieb. Die gewachsene technische Komplexität des Militärwesens ließ sich daran ablesen, dass 1914 etwa doppelt so viele Züge für den Eisenbahntransport des Großen Hauptquartiers nötig waren wie 1870. Am 2. August 1914 übertrug der Kaiser dem Generalstabschef des Feldheeres die Befugnis, operative Befehle in seinem Namen zu geben. Auch hierin folgte man dem Vorbild des Deutsch-Französischen Kriegs. Die entscheidende Stellung Wilhelms II. wirft zwangsläufig die Frage nach seiner persönlichen Eignung und Befähigung auf: „Konnte er führen?“ Bei der Beantwortung dieser Frage kann Groß auf umfangreiche Vorarbeiten zurückgreifen. In der geschichtswissenschaftlichen Literatur wurden schon tausende Seiten mit Betrachtungen zum Charakter des letzten deutschen Kaisers gefüllt. Das Bild, das sich ergibt, ist nicht vorteilhaft. Die Befunde verdichten sich zur Erkenntnis, dass der letzte regierende Hohenzoller ein arroganter Maulheld war, der zudem schwache Nerven hatte. Er hatte in jungen Jahren eine militärische Ausbildung erhalten, die sich Großteils in Offizierskasinos und Ballsälen abgespielt hatte. Zur strategischen Leitung eines Millionenheers war er nicht imstande. Wegen seiner schwachen Nerven enthielt man ihm zudem ungünstige Meldungen grundsätzlich vor. Aus der militärischen Entscheidungsfindung wurde er bald nach Kriegsbeginn ausgeklammert. Die anfangs noch häufigen Lagevorträge, die ihm die OHL hielt, wurden seltener. Wilhelm machte seinem Ärger darüber gelegentlich in Gesprächen mit seiner engsten Umgebung Luft. Im November 1914 sagte er: „Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren“. Er unternahm jedoch nichts, um auf eine stärkere Einbindung zu drängen. Völlig ignorieren konnte man den Herrscher von Gottes Gnaden freilich nicht. Bis zuletzt behielt er die Entscheidungsbefugnis auf dem zentralen Feld der Personalpolitik. Ernennung und Entlassung aller militärischen und zivilen Amtsträger oblagen allein ihm. Die unmittelbare Umgebung des Kaisers im Großen Hauptquartier bildeten zahlreiche Kammerherren und Adjutanten sowie insb. die drei Kabinettchefs, also die Leiter des Zivilkabinetts, des Militärkabinetts und des Marinekabinetts. Die Kabinette bestanden in Preußen traditionell als persönliche Sekretariate des Königs. Sie berieten den Monarchen und bereiteten Personalentscheidungen vor. Ihr Einfluss war nicht unerheblich, auch nicht unumstritten. Laut Verfassung war der einzige verantwortliche politische Ratgeber des Kaisers der Reichskanzler. Die in der Verfassung gar nicht vorgesehenen Kabinette waren mit diesem Anspruch des Reichskanzlers nicht vereinbar. Im Verlauf des Krieges nahmen OHL und Marineleitung vermehrt Anstoß am Einfluss der Kabinettchefs auf den Obersten Kriegsherrn und waren bestrebt, einzelne Kabinettchefs aus ihrer Position zu entfernen. Die vom Kaiser erwähnten Spaziergänge waren übrigens für viele Akteure im Großen Hauptquartier ein Element, das den Tagesablauf strukturierte. Hier fanden sich Gleichgesinnte zusammen, um „ungestört und unbelauscht…Informationen auszutauschen und zu gewinnen, Themen von Brisanz zu erörtern sowie Bündnisse und Intrigen zu schmieden“. Die Kabinettchefs flanierten regelmäßig gemeinsam, während Hindenburg in der Regel mit ausgewählten Gästen und Besuchern spazieren ging. Reichskanzler Bethmann Hollweg und Außenminister Jagow waren in den ersten Kriegsmonaten im Großen Hauptquartier anwesend. Als sich abzeichnete, dass der Krieg sehr viel länger dauern würde als beabsichtigt, kehrten sie wieder nach Berlin zurück. Dort war ihr Platz, dort hatten sie sich mit den Fraktionen des Reichstags auseinanderzusetzen. Ins Große Hauptquartier reisten sie nur noch relativ selten. Als ihr ständiger Vertreter wirkte dort der Diplomat Karl Georg von Treutler. Er hatte in den 1880er Jahren im selben Regiment gedient wie der Kaiser und war von daher mit diesem persönlich gut bekannt. Das Klima im Großen Hauptquartier war wesentlich vom Unverständnis geprägt, das zwischen zivilen und militärischen Funktionsträgern herrschte. Den Zivilbeamten erschienen die Generalstabsoffiziere wie „arrogante Halbgötter, für jene waren die Beamten verweichlichte, arme Gestalten“. Die Militärführung war verfassungsmäßig ausschließlich dem Kaiser verantwortlich. Daher setzte sie die zivile Reichsleitung über das Kriegsgeschehen zumeist kaum ins Bild. So kam es nie dazu, dass militärische und politisch-diplomatische Strategie hinreichend aufeinander abgestimmt wurden. Die militärischen Funktionsträger waren mit der Wahrnehmung ihrer Aufgaben in der Regel mehr als ausgelastet. Bei den zivilen und insb. den höfischen Funktionsträgern war dies eher nicht der Fall. Schon vor dem Krieg war das Leben bei Hofe von Langeweile und Leerlauf geprägt gewesen. Da der Kaiser den Krieg nicht selbst führte, änderte sich für die Höflinge, die ihn ins Große Hauptquartier begleiteten, daran praktisch nichts. Die erhaltenen Selbstzeugnisse belegen, dass niemand, der Wilhelm II. Tag für Tag Gesellschaft zu leisten hatte, daran Vergnügen fand. So klagte etwa der Chef des Militärkabinetts, Generaloberst von Lyncker, in Briefen an seine Frau, die Abendgesellschaften mit dem Monarchen seien „furchtbar“, und der Dienst im Großen Hauptquartier gleiche in seiner Monotonie einem „Gefängnisleben“. Die in militärischer Hinsicht wesentliche Komponente des Großen Hauptquartiers war der Generalstab des Feldheeres, den zunächst Generaloberst Helmuth von Moltke leitete. Im Generalstab kam die größte Bedeutung der Operationsabteilung zu. Hier wurden gemäß den Absichten der OHL die konkreten Operationspläne ausgearbeitet. In dieser Abteilung waren ganze 14 Generalstabsoffiziere im Dienstgrad Oberleutnant bis Major eingesetzt. Ein Umfang, den Groß im Vergleich mit höchsten Führungsstäben unserer Tage zurecht als erstaunlich gering bezeichnet. Moltke, dessen Nerven schon vor Kriegsausbruch angegriffen gewesen waren, war den Belastungen der Kriegsführung nicht gewachsen. Nach der deutschen Niederlage an der Marne im September 1914 brach er völlig zusammen und musste abgelöst werden. Seine Nachfolge trat der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn an. Er führte die OHL knapp zwei Jahre bis August 1916. Sein Sturz war Folge von Intrigen. Diese spielten im Alltag des Großen Hauptquartiers eine so erhebliche Rolle, dass Groß ihnen ein ganzes Kapitel widmet. Gegen Falkenhayn formierte sich eine Koalition, deren Angehörige unterschiedliche Motive hatten, auf seine Ablösung hinzuwirken. Falkenhayn hatte wenig Talent für Verbindlichkeit im Umgang. Sein schroffes Auftreten machte ihn unbeliebt. Manche Akteure schlossen sich der Intrige daher aus rein persönlicher Abneigung an. Das galt etwa für Kaiserin Auguste Viktoria, die ihrem Gatten die Entlassung Falkenhayns sogar schriftlich nahelegte. Andere wollten Falkenhayn loswerden, weil sie seinen strategischen Ansatz nicht guthießen. Die Abschätzung der eigenen und der gegnerischen Potentiale hatte Falkenhayn zu der Überzeugung geführt, dass ein deutscher Sieg nicht möglich sei. Er setzte auf einen Separatfrieden mit Russland und auf eine Ermattungsstrategie gegenüber Frankreich und Großbritannien gemäß der Maxime: „Wenn wir den Krieg nicht verlieren, haben wir ihn gewonnen“. Das sahen Hindenburg und Ludendorff, die die deutsche Propaganda seit dem Erfolg der Schlacht bei Tannenberg zu Nationalhelden stilisierte, ganz anders. Hinter den Kulissen taten sie alles, um Falkenhayn als kompromisslerischen Feigling darzustellen. Auch Reichskanzler Bethmann Hollweg wies seinen Vertreter Treutler an, gegen Falkenhayn zu arbeiten. Der Kanzler hielt dessen Lageeinschätzung für viel zu pessimistisch. Ziel der Intrige war, Falkenhayn durch Hindenburg zu ersetzen. Die beträchtlichen militärischen Erfolge, die 1915 an der Ostfront erzielt wurden, stärkten jedoch Falkenhayn. Wilhelm II. war nicht bereit, ihn zu entlassen. Im Jahr darauf folgten der Misserfolg von Verdun und die Kriegserklärung des bislang verbündeten Rumäniens an Deutschland. Erst jetzt war die Position des Chefs des Generalstabs derart geschwächt, dass Wilhelm keine Wahl mehr hatte. Er gab dem hartnäckigen Drängen der Intriganten nach. Hindenburg wurde Chef des Generalstabs, Ludendorff als seine rechte Hand Erster Generalquartiermeister. Wilhelm II. hatte sich nicht von Ungefähr lange gegen diese Ernennung gesträubt. Hindenburg konnte ihm als Drahtzieher des Sturzes Falkenhayns nur als skrupelloser Intrigant erscheinen. Zudem hatte er mit Unbehagen die Popularität Hindenburgs registriert, die nicht zuletzt auf Kosten seiner eigenen enorm angewachsen war. Ludendorff, der ein brutaler Machtmensch war, verabscheute der Kaiser wegen dessen herrischen Auftretens. „Wenn ich nur diese Feldwebelfresse nicht mehr sehen müsste“, soll er über Ludendorff gesagt haben. Hindenburg war kein weniger brutaler Machtmensch als Ludendorff, verfügte im Gegensatz zu diesem jedoch über eine im gesellschaftlichen Umgang hilfreiche Glätte. Anders als sein Vorgänger Falkenhayn verkehrte er regelmäßig mit Politikern und Journalisten, um seine Ansichten zu verbreiten und seinen Feldherrnmythos zu pflegen. Diese seit August 1916 amtierende dritte und letzte OHL wirkte energisch auf größeren Einfluss hin und wurde zum dominierenden Faktor im Großen Hauptquartier. Wann immer Hindenburg und Ludendorff bestimmte Personalentscheidungen für geboten hielten, die Wilhelm II. nicht ohne weiteres befürwortete, drohten sie mit Rücktritt. Der Monarch wusste genau, dass er sich wegen der großen Popularität dieser OHL ihre Entlassung nicht erlauben konnte. Ihm blieb nur das Nachgeben. So 1917 im Fall des Reichskanzlers Bethmann Hollweg; als es im Jahr zuvor gegen Falkenhayn gegangen war, war der Kanzler Hindenburg als Verbündeter gerade recht gewesen. Mittlerweile hatte er sich durch seine Ablehnung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs und eine vermeintlich zu liberale Haltung in einigen innenpolitischen Fragen in den Augen der OHL disqualifiziert. Im Januar 1918 traf es den Chef des Zivilkabinetts, Geheimrat von Valentini. Er musste weichen, weil er als Anhänger Bethmann Hollwegs galt. Die Marineleitung war deutlich weniger einflussreich als die OHL. Das lässt sich wohl darauf zurückführen, dass die Marine im Kriegsverlauf bei weitem keine so große Rolle spielte wie das Heer. Der Leiter der Marinekabinetts, Admiral von Müller, war der Marineleitung wegen seiner Bedenken gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ein Dorn im Auge. Alle Bemühungen ihn aus dem Amt zu hebeln blieben aber erfolglos. Während die Intrigenspiele im Großen Hauptquartier Mustern folgten, die in den Zirkeln der Macht seit Jahrhunderten gängig waren, waren die Methoden der Truppenführung auf dem neuesten Stand der Technik. Ludendorff führte per Telefon. Sein Arbeitstag bestand im Wesentlichen aus Telefonaten mit den 15 Armeeoberkommandos. Eine moderne Kommunikationsanlage mit 2000 Fernsprechanschlüssen und 45 Telegrafen- und Fernsprechleitungen machte dies möglich. Ob Ludendorff nach der schweren Niederlage bei Amiens im August 1918 einen Nervenzusammenbruch hatte oder nicht, ist in der Literatur umstritten. Fest stand jedenfalls nach Amiens, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Die OHL schenkte der zivilen Reichsleitung diesbezüglich allerdings erst Ende Oktober reinen Wein ein. Als Anfang November die Revolution ausbrach, drängte Hindenburg den Kaiser, sich möglichst schnell in die Niederlande abzusetzen. Man könne in der unübersichtlichen revolutionären Lage leider nicht für seine Sicherheit garantieren. Der sang- und klanglose Abgang Wilhelms des Letzten am 10. November 1918 markiert das Ende des Großen Hauptquartiers. In seinem Fazit hebt Groß die heterogene Zusammensetzung der Institution hervor. Von Einheitlichkeit der Führung konnte keine Rede sein, vielmehr herrschte ein „polykratisches Chaos“. Das Neben- und Gegeneinander militärischer und ziviler Führung, die durch die monarchische Staatsspitze nicht effizient verklammert wurden, war das zentrale Problem der deutschen Führungsorganisation. Heute besteht dieses Problem nicht mehr. Die Bundeswehr ist ein Instrument in der Hand der demokratisch legitimierten zivilen Führung. Die Befehls- und Kommandogewalt liegt beim Bundesminister der Verteidigung. Sollte der Verteidigungsfall eintreten, wird sie nach Artikel 115b des Grundgesetzes vom Bundeskanzler übernommen. Er würde in diesem Fall mit den Staats- und Regierungschefs der anderen NATO-Mitgliedstaaten eine abgestimmte politisch-diplomatische sowie militärische Strategie beschließen und umsetzen. Die Zeit der Pickelhaube, in der die Leitungszentrale eines großen europäischen Staates wegen unzureichender Führungsqualitäten eines fragwürdigen Blaublüters zum Intrigantenstadl verkommen konnte, liegt erfreulicherweise hinter uns. Das war „Angelesen“, das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Gerhard P. Groß „Das Große Hauptquartier im Ersten Weltkrieg“. Es erschien 2022 im Verlag Walter de Gruyter.

von Christoph Kuhl