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Herzlich willkommen zu Angelesen! Dem Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.

Heute stellen wir das Buch von Marco Sigg „Der Unterführer als Feldherr im Taschenformat. Theorie und Praxis der Auftragstaktik im deutschen Heer 1869 bis 1945“ vor. Es erschien 2014 im Verlag Ferdinand Schöningh in der vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegebenen Reihe „Zeitalter der Weltkriege, Band 12“.

Der Führungsgrundsatz der Auftragstaktik hat in der deutschen Militärgeschichte Furore gemacht. Mitunter wurde er als die „speziell deutsche Antwort auf die chaotischen Bedingungen des modernen Gefechts“ betrachtet. Marco Sigg geht in der vorliegenden Arbeit der Auftragstaktik nach. „Wie wurde Auftragstaktik im deutschen Heer definiert? In welchem Ausmaß wurde auf taktischer Stufe nach Auftragstaktik geführt?“. Dies sind die Leitfragen dieser Abhandlung, mit der Sigg zum Dr. phil. promoviert wurde.    

Eingangs stellt der Autor fest, dass es nicht die eine verbindliche Definition des Begriffs Auftragstaktik gibt. Sein wissenschaftlicher Ansatz besteht darin, zunächst die Vorschriftenlage ab 1869 auszuwerten. So sollen die verschiedenen Aspekte des Konzepts Auftragstaktik gleichsam aus den Vorschriften herausdestilliert und zu einem Modell verdichtet werden. Anschließend wird anhand des Beispiels dreier Divisionen aus dem Kriegsjahr 1942/43 untersucht, inwieweit in der Wehrmacht auf Divisionsebene im Gefecht tatsächlich auftragstaktisch geführt wurde. Dass der Autor Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg wählt, ist durch den Wunsch bedingt, eine Forschungslücke zu schließen. Frühere Arbeiten zur praktischen Bedeutung von Auftragstaktik in Kriegen hatten den Zweiten Weltkrieg zumeist ausgespart.  

Historisch lässt sich der Anstoß zur Entstehung der Auftragstaktik auf Carl von Clausewitz zurückführen. Im 18. Jahrhundert war das Gefechtsfeld noch vom vergleichsweise behäbigen angeleiteten Feuer der Linieninfanterie geprägt. Im französischen Revolutionsheer wurde erstmals die Division als maßgebliche Organisationsgröße eingeführt. Sie ermöglichte zuvor ungekannte Geschwindigkeit und Mobilität in der Gefechtsführung und trug erheblich zu den militärischen Erfolgen Frankreichs unter Napoleon I. bei.

In Preußen zog man daraus im frühen 19. Jahrhundert die Konsequenz, die Heeresorganisation ebenfalls auf Divisionen umzustellen. Die theoretischen Konsequenzen aus der Dynamisierung des Geschehens auf dem Gefechtsfeld zog General von Clausewitz in seinem umfangreichen Werk „Vom Kriege“, das in den 1830er Jahren erschien. Hier wies er nachdrücklich darauf hin, dass Kriegführung nicht einfach das Abarbeiten eines zuvor aufgestellten Operationsplans sein könne. Ein einmal begonnener Krieg, so Clausewitz, bringe in seinem Fortgang grundsätzlich und immer zahlreiche Unwägbarkeiten und Zufälle mit sich.   

1857 wurde Hellmuth von Moltke Generalstabschef des preußischen Heeres. Er war als der militärisch Leitende für den Erfolg in den Reichseinigungskriegen zwischen 1864 und 1871 verantwortlich und wurde zur einflussreichsten Figur der deutschen Militärgeschichte des 19. Jahrhunderts. Moltke teilte Clausewitz‘ Ansichten weitgehend. Er blieb über 30 Jahre Generalstabschef und hatte in dieser Funktion großen Einfluss auf die Gestaltung der Führungsvorschriften des Heeres. Sigg hält fest, dass es zu Moltkes Verdiensten gehört, dabei „die Erkenntnisse Clausewitz‘ weiterentwickelt und sie den technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts…angepasst“ zu haben.      

In den zahlreichen Führungsvorschriften des preußischen bzw. deutschen Heeres aus der Zeit zwischen 1869 und 1945, die Sigg analysiert, identifiziert er durchgehend sieben Elemente, die zusammengenommen die Auftragstaktik ausmachen.

Dies sind Entschlossenheit, Offensivdenken, Selbstständigkeit, Gehorsam, Einheitlichkeit des Handelns, Urteilsvermögen sowie der Führungsvorgang. Sigg befasst sich insbesondere mit dem Spannungsfeld zwischen der Einheitlichkeit des Handelns und der Selbstständigkeit von Unterführern. Der Begriff Unterführer bezeichnet je nach Betrachtungsebene Kommandeure unterstellter Verbände ab der Divisionsebene abwärts oder Einheits- und Teileinheitsführer.

Als Moltke den Verlauf des gewonnenen Kriegs gegen Österreich von 1866 auswertete, stellte er fest, dass die Kommunikation zwischen den Führungsebenen auf dem Gefechtsfeld zu wünschen übriggelassen hatte. Die Einheitlichkeit des Handelns hatte sich oft nicht sicherstellen lassen. Unterführer hatten oft keine Kenntnis von den Absichten ihrer übergeordneten Führung erhalten. Dies wurde zumeist durch selbstständiges Handeln der Unterführer wettgemacht. Dennoch schrieb Moltke im Rückblick, dass „für die Zukunft ein direktes Eingreifen der obersten Leitung während der Schlacht unbedingt notwendig“ sei. Als es knapp fünf Jahre später zum Waffengang gegen Frankreich kam, handelte er allerdings nicht dementsprechend. Wie 1866 hatten auch diesmal die Unterführer im Gefecht große Spielräume für selbstständiges Handeln.

Später führte dies zu einem Phänomen, das Sigg als Kult der Selbstständigkeit bezeichnet. Das selbstständige Vorgehen von Unterführern hatte einen wichtigen Beitrag zu den Siegen in den Reicheinigungskriegen geleistet.

Infolgedessen verbreitete sich die Neigung, „Auftragstaktik praktisch mit selbstständigem, von der obersten Führung losgelöstem Handeln“ gleichzusetzen.

Zwischen 1871 und 1914 wurde der Aspekt der Selbstständigkeit in der Offiziersausbildung auf Kosten der übrigen Aspekte der Auftragstaktik sehr hervorgehoben. Nach dem Ersten Weltkrieg äußerte eine Reihe ehemaliger Offiziere in der Rückschau deutliche Kritik daran. Dennoch wirkte der Kult der Selbstständigkeit weiter fort.

Der schnelle Erfolg im Frankreichfeldzug von 1940 ging wesentlich darauf zurück, dass einzelne Generale der Panzertruppe eigenmächtig sehr weit vom Operationsplan abwichen. Bei einem Mann wie Heinz Guderian sorgte 1940 einzig der Erfolg seines Vorgehens dafür, dass „seine mehrfachen und eklatanten Verstöße gegen den militärischen Gehorsam nachträglich gutgeheißen wurden“.  

Anders als die kultartige Übertreibung suggerierte, bedeutete Auftragstaktik eben nicht, dass jeder Unterführer eigenständig tun solle, was er nach rein subjektivem Gutdünken für richtig hielt. Das Konzept der Auftragstaktik forderte vom Unterführer diszipliniertes Mitdenken im Sinne der übergeordneten Führung. Sigg zitiert etwa aus Ausbildungsunterlagen, die 1942 an der Heeresschule für Bataillonsführer im nordfranzösischen Mourmelon verwendet wurden. Hier wurden prägnant die Fragen auf den Punkt gebracht, die sich ein Unterführer zu stellen hatte, wenn er auftragstaktisch handeln musste: „Wie würde der vorgesetzte Führer befehlen, wenn er zur Stelle wäre? Wie wird dem Ganzen am meisten genützt?“ Die erste dieser Fragen verdeutlicht, dass erfolgreiche Auftragstaktik Führungspersonal voraussetzte, das durch längerfristige Zusammenarbeit bereits aufeinander eingespielt war.

Kannten Unterführer und vorgesetzter Führer einander kaum, war es für den Unterführer schwer zu ermessen, was der vorgesetzte Führer befehlen würde. Die ausfallbedingte hohe Personalfluktuation in Kriegen sprach demnach eher gegen auftragstaktisches Vorgehen.

Zudem weist Sigg mit Recht darauf hin, dass auftragstaktisches Vorgehen nur mit bewährtem Personal erfolgversprechend war. „Unerfahrene, schlecht ausgebildete Führer mussten notwendig enger geführt werden und…detailliertere Befehle erhalten“. Unter den Rahmenbedingungen des Krieges war die nötige Vorbereitungs- und Ausbildungszeit für das Führungspersonal oft nicht vorhanden.

Die Ausbildung fand dann sozusagen „on the job“ in ständiger Feindberührung statt. Nicht von ungefähr wird in einem Bericht der Infanteriedivision „Großdeutschland“ vom Oktober 1942 der „auffallend hohe Kompanieführer-Ausfall“ auf genau diesen Umstand zurückgeführt.  

Die besagte Infanteriedivision „Großdeutschland“ ist neben der 385. Infanteriedivision und der 10. motorisierten Infanteriedivision der dritte Großverband, den Sigg exemplarisch betrachtet. Die drei Divisionen werden für den Zeitraum 1942/43 näher untersucht. Alle drei waren im Untersuchungszeitraum an der Ostfront eingesetzt. Sie unterschieden sich nicht unbeträchtlich voneinander. So war etwa die 10. motorisierte Infanteriedivision bereits lange vor Kriegsbeginn mit der ersten Aufstellungswelle im Jahr 1934 gebildet worden. Motorisiert wurde sie allerdings erst deutlich später. Die 385. Infanteriedivision gehörte hingegen zur 18. Aufstellungswelle und bestand erst seit Januar 1942. Auch beim Ausstattungssoll der Großverbände gab es beträchtliche Unterschiede. Die Infanteriedivision „Großdeutschland“ war als ausgesprochener Eliteverband deutlich stärker bewaffnet als andere Infanteriedivisionen.

Generalmajor August Schmidt, Kommandeur der 10. motorisierten Infanteriedivision, charakterisierte in dieser Hinsicht die Angehörigen seiner Division im Vergleich als „arme Leute“.   

Bei allen Unterschieden zwischen den Divisionen kann der Autor im Gang der Untersuchung jedoch zeigen, dass die Auftragstaktik bei allen dreien im Gefecht nur als seltene Ausnahme zum Tragen kam. Der Regelfall war eine straffe Führung durch den Divisionskommandeur. Besonders konsequent praktizierte sie der Kommandeur der 385. Infanteriedivision, Generalmajor Karl Eibl. Er war sichtlich darum bemüht, möglichst nichts dem Zufall zu überlassen. Eine sehr detaillierte Befehlsgebung sollte sicherstellen, dass den Unterführern in der Division praktisch kaum Spielraum für eigenständige Entscheidungen blieb.

So heißt es etwa in einem Befehl, den eines der Regimenter der Division in Vorbereitung eines Angriffs erhielt: „Die Inbesitznahme der Höhe 224 hat durch umfassenden Angriff aus der Mulde nördlich Bol Werchina von Süden her zu erfolgen“. Detaillierter kann man kaum befehlen.

Die enge Führung beschränkte sich nicht auf Befehlsgebung. Die Vorschriftenlage verlangte vom militärischen Führer im Gefecht „dauernde persönliche Fühlung“ mit dem unterstellten Bereich. Auch für den Divisionskommandeur, so hieß es in der Vorschriftsprosa, sei „Selbstsehen das Beste“. Karl Eibl beherzigte dies. Den Divisionsgefechtsstand ließ er möglichst weit vorne einrichten. Im Gefecht eilte er stets an die jeweiligen Brennpunkte und griff persönlich ein. Dieses konsequente und laut Vorschriftenlage erwünschte Führen von vorne kostete ihn 1943 das Leben.      

Mit leichten Abweichungen ist das gleiche Führungsverhalten auch bei den beiden anderen hier betrachteten Divisionskommandeuren erkennbar – wenn auch beide den Krieg überlebten und friedlich als Pensionäre in der Bundesrepublik starben. Generalmajor August Schmidt legte für die 10. motorisierte Infanteriedivision im Gegensatz zu Eibl zwar Wert darauf, seinen Unterführern auch die Fähigkeit zum selbstständigen Handeln zu vermitteln. Sein Führungsverhalten sorgte aber dafür, dass diese von dieser Fähigkeit kaum Gebrauch zu machen brauchten. Die 10. motorisierte Infanteriedivision befand sich im Untersuchungszeitraum lange Zeit im Stellungs- und Verteidigungskampf. Diese Situation machte besonders straffe Führung nötig. Der Kommandeur der Infanteriedivision „Großdeutschland“, Generalmajor Walter Hörnlein, stellte klar, dass auftragstaktisches Vorgehen nur ausnahmsweise erwünscht war. Sollte ein Regiment keine Befehle haben und eigenständig vorgehen müssen, so Hörnlein im Juni 1942, sei „das Befohlene der Division baldmöglichst zu melden, um eine Abstimmung der Befehle zu erreichen“.     

Dem Aspekt der Einheitlichkeit des Handelns wurde nicht nur in der Vorschriftenlage, sondern auch praktisch eine erheblich größere Bedeutung beigemessen als dem des selbstständigen Handelns. Eine zentrale Rolle kam dabei der Kommunikation auf dem Gefechtsfeld zu. Auf diesem Gebiet hatte es seit Moltkes Zeiten erhebliche technische Fortschritte gegeben.

Die drahtlose Kommunikation war zum Standard geworden. Sie bot den großen Vorteil, dass sie nicht durch gegnerisches Feuer unterbrochen werden konnte und stellte den kontinuierlichen Informationsfluss sicher.

Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen kam es vor, dass Einheiten oder Teileinheiten im Gefecht ihre Befehle nicht übermittelt werden konnten. In diesen Fällen waren sie meistens durchaus imstande, eigenständig und im Sinne des jeweiligen Operationsplans zu handeln. Dafür gibt Sigg Beispiele von Leutnanten und Oberleutnanten, die für ihr selbstständiges Handeln anschließend sogar Auszeichnungen erhielten. Offenbar war auf den unteren taktischen Ebenen trotz der Gewöhnung an enge Führung aufgrund entsprechender Ausbildung ein „Vorverständnis für auftragstaktisches Handeln“ vorhanden. Dieses Vorverständnis ließ sich im Bedarfsfall schnell aktivieren.  

Sigg zeigt überzeugend auf, dass die deutsche Besonderheit militärischen Führens allerdings nicht in der Selbstständigkeit von Unterführern lag. Der Mehrwert des deutschen Führungsverfahrens ergab sich vielmehr aus dem ständigen engen Austausch zwischen Führungsebenen. Informationen flossen eben nicht nur in Form von Befehlen von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. In der Planungsphase sämtlicher militärischer Unternehmen konnten sich die Unterführer „aktiv einbringen“.

Zum Schluss darf ein wichtiger Gesichtspunkt nicht unerwähnt bleiben. Die Auftragstaktik ist nicht nur ein hinter uns liegendes historisches Phänomen. Unter der abgewandelten Bezeichnung „Führen mit Auftrag“ ist sie bis heute das zentrale Führungsprinzip in der Bundeswehr. Auch in der Bundeswehr soll der Unterführer befähigt sein, selbstständig über die bestmögliche, zweckmäßigste Art und Weise der Ausführung eines Auftrags zu entscheiden. Darüber hinaus soll er selbständig von Befehlen abweichen, falls sich die Lage vor Ort grundlegend verändert und mit der Lagebeurteilung in der Befehlsgebung nicht mehr übereinstimmt.     

Wie Sigg nachweist, war dies bei den von ihm näher betrachteten Divisionen in den Kriegsjahren 1942/43 nur ausnahmsweise gewünscht. Der Regelfall war enge Führung mit sehr ausführlicher Befehlsgebung. Die technischen Kommunikationsmittel erlaubten dies.

Höhere Vorgesetzte duldeten im Ausnahmefall auftragstaktisches Vorgehen, wenn das Abweichen vom Befehl sich im Nachhinein als richtig erwies.

In der Bundeswehr hingegen ist das Führen mit Auftrag nicht als Ausnahme, sondern als erwünschtes und gefordertes Standardverfahren etabliert. Die Allgemeine Regelung zur Truppenführung bezeichnet Führen mit Auftrag als „leitendes Prinzip“. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass Feldzüge und Einsätze von Ungewissheit, Zufällen und allgegenwärtigen Friktionen geprägt und keineswegs planbar sind. Eine weitere wichtige Begründung liegt darin, dass diese Art zu führen besser als jede andere dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht. In der Bundeswehr wird Innere Führung großgeschrieben. Offiziere und Offizierinnen der Bundeswehr sind Staatsbürger in Uniform. Als gut ausgebildete militärische Profis verteidigen sie ein freiheitliches Gemeinwesen. Ein vordemokratisches Führungsverständnis, das sie zum sklavischen Befolgen einer bis in kleinste Einzelheiten gehenden Befehlsgebung zwingen würde, ist damit nicht vereinbar. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für eine noch konsequentere Umsetzung des „Führens mit Auftrag“ aussprechen und in Befragungen ihre Bereitschaft bekunden, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Das war „Angelesen! Das Buchjournal des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Heute zum Buch von Marco Sigg „Der Unterführer als Feldherr im Taschenformat“.

Text: Christoph Kuhl
Gelesen von: Heiner Möllers

von Christoph  Kuhl

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