Michael Galbas: "Pflichterfüllung"-Transkript
Michael Galbas: "Pflichterfüllung"-Transkript
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Michael Galbas relativ neue Studie aus dem Jahr 2022 handelt vom Stellenwert der russischen Erinnerung an den sowjetischen Krieg in Afghanistan, der von 1979-1989 andauerte. Um die daraus in Russland entstandene Gedenkkultur der sogenannten Afghancy, der Afghanistanveteranen verstehen zu können, gilt es den Ursprung und Verlauf dieses Krieges zunächst näher zu beleuchten: Die Interessen der UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken an Afghanistan waren in den 1970er Jahren nicht primär expansionistischer Natur. Vielmehr sollte eine Art prosowjetischer Pufferstaat an der Südgrenze der Sowjetunion entstehen. Afghanistan hatte bereits seit den 1920er Jahren politische, militärische und wirtschaftliche Beziehungen zu seinem sowjetischen Nachbarn im Norden aufgebaut. Nach 1945 war das Land dann der Bewegung der Blockfreien Staaten beigetreten und stand in enger Kooperation mit Moskau. Aus Sicht des Politbüros war Afghanistan ein vergleichbarer Bündnispartner wie Kuba. Im Jahr 1978 gelangte die kommunistische Demokratische Volkspartei Afghanistans mit sowjetischer Hilfe durch einen Putsch an die Macht. Die neue Regierung begann das Gebiet am Hindukusch nach sozialistischen Prinzipien politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich umzugestalten. Dazu zählten nicht nur die Einführung planwirtschaftlicher Elemente und die Entmachtung lokaler Stammesführer. Es gab auch Ambitionen zur Entwicklung des Landes, die denen der späteren Koalition der NATO-Mitglieder im Kern durchaus ähnelten. So beabsichtigte Moskau, den Analphabetismus zu reduzieren, ethnische Diskriminierungen aufzuheben sowie die rechtliche Gleichstellung der Frau einzuführen. Erwartungsgemäß trafen diese Modernisierungsvorstellungen insbesondere in ländlichen Gebieten diametral auf eine feudal-patriarchalische Stammesordnung. Die Neuerungen führten alsbald zu Ablehnung und wachsendem Widerstand. Statt jedoch Kompromisse einzugehen und auf die landestypischen Eigenheiten Rücksicht zu nehmen, reagierte die kommunistische Regierung mit Zwangsmaßnahmen, Folter und Terror. Da die Kommunisten in der breiten Bevölkerung ohnehin kaum Rückhalt genossen, breiteten sich Aufstände und Gegenwehr wie ein Flächenbrand über das gesamte Land aus. Die bewaffneten Auseinandersetzungen und der fehlende Legitimitätsglaube gegenüber dem kommunistischen Regime führten schließlich sogar dazu, dass ganze Großverbände der Armee desertierten und die Regierung bald kurz vor einem Zusammenbruch stand. Moskau hatte Hilfegesuche aus Kabul nach militärischer Unterstützung zunächst abgelehnt. Es dauert jedoch nicht lange, bis sich der Kreml zu einem direkten Eingreifen gezwungen sah. Im sowjetischen Außenministerium fürchtete man nicht nur den bevorstehenden Sturz der Kabuler Regimes, sondern die Expansion der Aufstandsbewegung auf die ethnisch und kulturell mit Afghanistan verbundenen, zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Somit ordnete das Moskauer Zentralkomitee im Dezember 1979 die Entsendung eines sogenannten Begrenzten Kontingents von 80000 bis 110000 Soldaten an, um die afghanische Regierung unmittelbar vor Ort militärisch zu unterstützen. Indes sollte das sowjetische Expeditionskorps anfangs noch keinen Kampfauftrag erfüllen und auch keine abtrünnigen Gebiete zurückerobern, sondern mit seiner Präsenz lediglich das Kabuler Regime stützen und neuralgische Punkte des Landes schützen. Im Kreml hoffte man, allein mit der Anwesenheit sowjetischer Truppen zur Stabilisierung des Landes beitragen zu können. Ähnlich der späteren, westlichen Mission ISAFInternational Security Assistance Force lag dem sowjetischen Einsatz ein „zivilisatorisches“ Ziel der „Demokratisierung“ des Landes zugrunde, wenngleich Moskau darunter in erster Linie den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und Volksdemokratie verstand. Der Rückhalt der Kabuler Zentralregierung sollte insofern gestärkt werden, als zivile Facharbeiter und Ingenieure vor Ort Aufbau und Entwicklungshilfe leisten und Wissen und Technologien in das unterentwickelte Land bringen sollten. Auch dies ähnelte dem späteren Einsatz der NATO am Hindukusch. Sogar den Bau polytechnischer Oberschulen hatte Moskau geplant. Ähnlich der späteren westlichen Koalition fehlten den sowjetischen Handlungsträgern aber fundierte Kenntnisse über die tatsächliche Situation im Land. Ebenso mangelte es an wechselseitiger Abstimmung zwischen den einzelnen Ministerien und Nachrichtendiensten. Ressortegoismen erschwerten eine koordinierte Zusammenarbeit. Wie auch die Vertreter des Westens dies später taten, tendierten die sowjetischen Handlungsträger dazu, Lageberichte zu beschönigen und die realen Verhältnisse vor Ort zu verkennen. Anders als beim westlichen Engagement kam jedoch noch erschwerend hinzu, dass die sowjetischen Berater in keiner Weise im Umgang mit der afghanischen Kultur geschult waren und die Gegebenheiten ausschließlich durch ihre ideologisch verzerrte, marxistisch-leninistische Brille betrachteten. Wie allerdings später auch die NATO im Jahr 2021, überschätzte die Moskauer Staats- und Parteiführung die Kampfkraft und -Moral der afghanischen Streitkräfte im Kampf gegen die Aufständischen. Auch unterschätzte sie die Stärke des innerafghanischen Widerstandes. Davon abgesehen erhielten die aufständischen Mudjaheddin, die afghanischen Guerilla-Gruppierungen materielle, organisatorische und finanzielle Militärhilfen aus den USAUnited States of America, aber auch aus Pakistan und China. Ähnlich den späteren Koalitionsstreitkräften der NATO setzten die sowjetischen Interventionstruppen anfangs auf defensiven Einsatz, sahen sich aber zunehmend direkten Angriffen der Mudjaheddin ausgesetzt und daher schließlich gezwungen, aktiv und offensiv gegen die Aufständischen vorzugehen. Im Gegensatz zur NATO agierten die sowjetischen Kräfte jedoch nicht besonnen, sondern von Anfang an mit großer Brutalität und Grausamkeit und nahmen dabei wenig Rücksicht auf unbeteiligte Zivilpersonen. Häufig begingen sowjetische Kommandoeinheiten gezielt Kriegsverbrechen und zerstörten mitunter ganze Dörfer mit dem Ziel, den Widerstandswillen des Feindes brachial zu brechen. Der völkerrechtswidrige Einsatz von Minen gegen die Zivilbevölkerung und die Nutzung chemischer Waffen war dabei keine Seltenheit. Die Missachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung militärischer Mittel sowie die Verletzung völkerrechtlicher Grundsätze war in schriftlichen Operationsbefehlen teilweise sogar ausdrücklich befohlen. Dementsprechend reagierten auch die Aufständischen gleichfalls ohne Skrupel. Die Spirale der Gewalteskalation führte schließlich dazu, dass wechselseitige Rache- und Vergeltungsakte beider Seiten zunehmend die eigentlichen strategisch-operativen Kriegsziele verdrängten. Unzureichende Vorbereitungen der zumeist jungen sowjetischen Rekruten auf den Einsatz, mangelnde Ausrüstung und Versorgung sowie eine, innerhalb des sowjetischen Militärs strukturell ausgeprägte Gewaltkultur verschärfte sich unter den Bedingungen des Afghanistaneinsatzes noch zusätzlich. Drogen- und Alkoholkonsum, gewalttätiger Rassismus unter den verschiedenen sowjetischen Ethnien, Diebstahl, Mord und sonstige Verbrechen und Vergehen nahmen innerhalb der sowjetischen Kontingente immer mehr zu, je mehr sich der Krieg in die Länge zog. Die Entgrenzung der Gewalt zeigte sich somit nicht nur im Umgang mit dem militärischen Feind, sondern gleichermaßen zwischen den eigenen Armeeangehörigen. Unter dem Dogma einer „Afghanisierung“ des Krieges, sprich: der zunehmenden Übertragung der Sicherheitsverantwortung und Kampfbeteiligung auf die afghanischen Streitkräfte, suchte die Sowjetführung schließlich nach einem Ausweg aus dem Dilemma. Der ruhmlose sowjetische Truppenabzug im Jahr 1989 unterschied sich im Ergebnis fundamental vom angestrebten Bild des ruhmreichen sowjetischen Siegers von 1945. Letzten Endes führte die sowjetische Exit-Strategie nur zum Zusammenbruch des Kabuler Regimes und den daraus resultierenden, langfristigen Folgen der Entwicklung Afghanistans bis zu ersten Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996. Wir kommen jetzt im zweiten Teil auf die Veteranenkultur in der zerfallenden UdSSRUnion der Sozialistischen Sowjetrepubliken und im späteren Russland zu sprechen: Die rund 600000 Kriegsheimkehrer mussten sich mit den Auswirkungen des Einsatzes in den 1980er und 1990er Jahren weitgehend alleine auseinandersetzen. Fehlende Reintegration und eine fehlende Aufarbeitung des Einsatzes, ebenso eine fehlende Behandlung posttraumatischer Belastungssyndrome der Betroffenen führten zu materieller Not, Massenarbeitslosigkeit, Alkoholismus und Drogenkonsum. Daraus wiederum resultiereten zahlreiche Raub- und Gewaltdelikte, die in der von der Mafia dominierten Ära der 1990er Jahre ohnehin das tägliche Leben der Menschen prägten. Verschärft wurden diese Entwicklungen durch eine wachsende gesellschaftliche Kritik am Afghanistankrieg sowie eine distanzierte Haltung der russischen Bevölkerung der 1990er Jahre gegenüber den Afghanistan-Veteranen. Im Gegensatz zu den scheinbar strahlenden Helden des Großen Vaterländischen Krieges mussten die Afghancy um Anerkennung und materielle Unterstützung kämpfen, bis diese endlich im Jahr 1995 gesetzlich verankert wurde. Allerdings führte die wirtschaftliche Schwäche des russischen Staates dazu, dass zahlreiche staatliche Fürsorgeprogramme unterfinanziert waren. Die Veteranenverbände griffen daher oftmals auf in Afghanistan erlernte Verhaltensweisen zurück und suchten die ausstehenden materiellen Hilfen mit gewalttätigen und kriminellen Mitteln zu erlangen. Dieses Vorgehen verstärkte wiederum die gesellschaftliche Abneigung gegenüber den Afghancy und führte letztendlich dazu, dass staatliche Stellen zahlreiche Privilegien und Zuwendungen wieder strichen. Auch in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung trafen unterschiedliche Wahrnehmungen diametral aufeinander. 1989 hatte der sowjetische Volksdeputiertenkongress den Afghanistankrieg noch offiziell als Fehler der sowjetischen Außenpolitik eingestanden und öffentlich verurteilt. Im Russland der 1990er Jahre versuchten staatliche Stellen jedoch, eine „geschichtspolitische Wende“ zu vollziehen, den Einsatz zu verklären und seine Teilnehmer nachträglich einfach zu heroisieren. Dies traf bei den Afghancy jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung. Stattdessen verfolgten viele von ihnen einen patriotism of despair, eine von Selbstmitleid getragene Vaterlandsliebe, in der sie sich selbst als Opfer, als victim der staatlichen Politik wahrnahmen. Diese unterschiedlichen Perzeptionen führten mitunter zu offenen Konflikten und Konfrontationen. Zahlreiche Veteranenverbände blickten mit Verachtung auf staatliche Stellen und die russische Regierung und auch auf die Gesellschaft, von der sie sich ausgestoßen fühlten. Unter Wladimir Putin änderte sich seit den 2000er Jahren die Situation jedoch grundlegend. Der neue russische Präsident verstand sich darauf, die Nöte und Bedürfnisse der Veteranen ernst zu nehmen, sich als Wohltäter und Fürsprecher der Afghancy zu inszenieren, um diese dann gezielt für seine neue nationale, russländische Idee zu instrumentalisieren. Mit dem verstärkten Bau von Denkmälern zum Afghanistankrieg und der Einführung eines nationalen Gedenktages für die russländischen, also sowohl die ethnisch russischen, als auch für die anderen Staatsbürger der Russischen Föderation legte er dafür einen bedeutsamen Grundstein. In Anbetracht des wirtschaftlichen Aufschwungs erhöhte er die staatlichen Zuwendungen und Renten für die Afghancy erheblich, begann deren Einsatz – vor dem Hintergrund des begonnenen Engagements der NATO im Jahr 2001 - als Kampf gegen internationalen Terrorismus und Drogenanbau hochzustilisieren. Auch lehnte Putin das Selbstbild der Afghancy als victim nicht ab, sondern gab ihm eine neue Bedeutung, die viele ehemalige Afghanistankämpfer bereitwillig akzeptierten. Putin verwandelte den Begriff des victim in ein sacrifice. Das Opfer wurde unter dem Stichwort eines glorifizierenden, traditionswürdigen und selbstlosen Opfergangs zum Helden-Opfer, verkörperte also fortan sinn- und identitätsstiftend ein Vorbild für die übrige Bevölkerung, die nicht am Hindukusch gekämpft und gelitten hatte. Putin konstruierte für die Afghancy ein neues (Opfer-)Heldennarrativ, vergleichbar dem Mythos der Verteidiger des belagerten Leningrads aus dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Narrativ fand bei den Veteranenverbänden regen Zuspruch und äußerte sich in der Folge in einer willkommenen, treuen Anhängerschaft gegenüber dem Präsidenten. Dementsprechend ließen sich die Veteranenverbände auch leicht für die neue russische Außen- und Sicherheitspolitik instrumentalisieren. So wirkten die Veteranenvereinigungen 2014 aktiv bei der Durchführung des international geächteten Unabhängigkeitsreferendums der Krim mit und waren im Jahr 2015 Mitbegründer der Anti-Maidan-Bewegung. Die einst kritische Perzeption vom sowjetischen Afghanistankämpfer erfuhr in der russischen Bevölkerung schrittweise eine erhebliche Wandlung zum traditionsreichen Opferhelden. Maßgeblich trug dazu nicht zuletzt die staatlich gelenkte russische Filmindustrie bei. Die 2005 entstandene russisch-ukrainisch-finnische Produktion des Kriegsfilms Die 9. Kompanie, russisch: 9. Rota, stellt eine Mischung aus Stanley Kubricks Antikriegsfilm Full Metal Jacket aus dem Jahr 1987, Mel Gibsons Vietnamkriegsepos We were Soldiers aus dem Jahr 2002 und zahlreichen Verfilmungen der Schlacht von Dien Bien Phu aus dem Französischen Indochinakrieg dar. Anders als bei Stanley Kubrick hinterfragt der im russischen Sprachraum bis heute äußerst beliebte Film allerdings zu keinem Zeitpunkt den Sinn und Nutzen des Krieges, sondern stellt ausschließlich den heldenhaften Einsatz und das Opfer, das sacrifice der im Film dargestellten russischen Fallschirmjäger dar. Selbst einige Verbände der Afghancy äußerten zaghafte Kritik an der Verzerrung der tatsächlichen Ereignisse dieser Schlacht, ohne den Film aber abzulehnen. Insgesamt kann sich der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem Erfolg, den Afghancy einen Platz in der Mitte der russischen Gesellschaft geschaffen zu haben, deren fortgesetzter, treuer Anhängerschaft auch im Angriffskrieg gegen die Ukraine weitgehend sicher sein.
Fazit: Die deutsche Politik und Gesellschaft sollten aus den russischen Erfahrungen der 1990er Jahre ihre eigenen Schlüsse ziehen und die deutschen Veteranen des Afghanistaneinsatzes, aber auch anderer Auslandseinsätze der Bundeswehr, nicht alleine lassen. Stattdessen sollte man auch ihnen in der Mitte der deutschen Gesellschaft eine nüchterne, angemessene Würdigung zuteilwerden lassen, ohne sie aber künstlich zu Opfer-Helden hochzustilisieren, wie dies in Russland geschehen ist. Eine solche Würdigung darf keinesfalls nur auf private oder kommunale Initiativen zurückgehen, sondern stellt eine besondere Aufgabe und Verantwortung für die Bundespolitik dar. Die Veteranen der Bundeswehr sollten von der politischen Spitze her das Gefühl erhalten, von der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen und mit ihrem reichen Schatz an Lebenserfahrungen gebraucht zu werden. Nicht zuletzt gilt es in diesem Zusammenhang unbedingt zu verhindern, dass die Veteranen von der Gesellschaft ignoriert und dadurch für Narrative radikaler oder extremistischer Bewegungen empfänglich werden.