Feldforschung in der Region Kurdistan - Irak
Feldforschung in der Region Kurdistan - Irak
- Datum:
- Ort:
- Irak
- Lesedauer:
- 5 MIN
Im Mai 2022 begab sich Silvia-Lucretia Nicola auf eine Feldforschungsreise durch die Region Kurdistan-Irak. Die gewonnenen Erkenntnisse des Aufenthaltes sollen in die Fertigstellung der politikwissenschaftlichen Dissertation zum Thema “Deutsch - (irakisch)kurdischer Beziehungen zwischen 1991 und 2020” einfließen. Die Reise wurde durch ein Forschungsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) unterstützt.
Lange Zeit war „Kurdistan“ kein Begriff für den Großteil der deutschen Bevölkerung. Geschichtsinteressierte dürften sich bei der Bezeichnung an die Schriften und Briefe des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke erinnern, der in seiner Funktion als Berater osmanischer Truppen 1838 an einem Feldzug gegen die Kurden auf dem heutigen Gebiet der Türkei teilgenommen hat. Andere Leseratten begleiten Karl Mays Protagonisten, Kara Ben Nemsi, seit dem Ende des 19. Jh bei seinen Abenteuern „Durchs wilde Kurdistan“. Es war jedoch, wie leider so oft, erst ein Krieg, in diesem Fall der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS"Islamischer Staat"), der mehr und mehr Menschen in der deutschen Gesellschaft mit dem Namen „Kurdistan-Irak“ ab 2014 vertraut machte.
Dass die Region Kurdistan-Irak heute bei weitem nicht so „wild“ ist, wie in unseren orientalisierenden Vorstellungen, davon durfte sich Silvia-Lucretia Nicola im Mai 2022 selbst überzeugen. Worauf sie bei Ihrer Reise traf, war viel mehr eine vibrierende Region im Umbruch, in der Tradition und Globalisierung oft Hand in Hand gehen sowie auch einen Partner, der sich zusammen mit Deutschland für den Erhalt einer regel- und wertebasierten multilateralen Weltordnung einsetzt.
Die Region Kurdistan - Irak
Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und dem Aufbau einer neuen, internationalen Sicherheitsarchitektur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden im Nahen und Mittleren Osten staatliche Grenzen neugezogen. Dies führte zur Aufteilung des historischen Siedlungsgebiets ethnischer Kurden an vier „neue“ Nationalstaaten: Irak, Iran, Syrien und die Türkei. Die Beziehungen zwischen der ethnisch kurdischen Bevölkerung und den zentralen Regierungen aller vier Länder bleiben über die Dekaden angespannt. Nicht selten wurden diese von gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt.
Ein vorläufiger Gewalthöhepunkt wurde im Irak Ende der 1980er Jahre erreicht. Durch die acht-stufige Anfal-Operation ergriff das irakische Baath-Regime unter Saddam Hussein genozidale Maßnahmen gegen den kurdischen Teil der eigenen Bevölkerung und gegen weiteren ethnischen und religiösen Minderheiten, welche im Norden des Irak lebten. Besonders grauenvoll war der Chemiewaffenangriff gegen die zivile Bevölkerung der Stadt Halabja am 16 März 1988. Erst 1991 infolge eines weiteren Krieges, der USUnited States-geführten Intervention zur Befreiung Kuweits von der Besatzung durch den Irak, verbesserte sich die Situation der irakischen Kurden schrittweise. Beim Versuch das Ausmaß der eingangs vorherrschenden humanitären Katastrophe abzumildern, beteiligte sich Deutschland mit der „Operation Kurdenhilfe“. Zu dem Zeitpunkt war dies mit Abstand der größte humanitäre Einsatz der Bundeswehr. Eine durch USUnited States-amerikanische, britische und französische Soldatinnen und Soldaten errichtete Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades, schaffte am Boden die notwendigen Bedingungen für den Aufbau einer kurdischen Selbstverwaltung. Das Ziel einer kurdischen Autonomie gewann jedoch erst im Jahr 2005 einen offiziellen Charakter, durch die Verabschiedung einer föderativen irakischen Verfassung nach dem Sturz von Saddam Hussein.
Ziele der Feldforschung
Das neue Fundament des irakischen Staates erwies sich dennoch von Beginn an als sehr fragil. Außerdem ist die Aushandlung der vielen historisch gewachsenen Konflikte zwischen der kurdischen Regionalregierung in Erbil und der Zentralregierung in Bagdad auch in einem föderalen Kontext ein langwieriger Prozess. Zur Transformation dieser Konflikte, der Stabilisierung und der Stärkung der Souveränität eines föderalen Irak trägt auch die Bundesrepublik Deutschland bei. Wie genau das deutsche Engagement vor Ort aussieht und wie sich dieses über die letzten 30 Jahren verändert hat, waren die Hauptfragen, welche Silvia-Lucretia Nicola bei ihrer Feldforschung begleitet haben.
Während des vierwöchigen Aufenthalts wurden auf der Suche nach Antworten die vier größten Städte der Region Kurdistan-Irak bereist: Dohuk im Nordwesten unweit des Tigris Flusses und der syrischen Grenze; die Hauptstadt Erbil im Herzen der Region; die Kulturhauptstadt Sulaimania im Osten sowie auch Halabja in der unmittelbaren Nähe der Grenze zum Iran. Zwei kurze Abstecher rundeten die Forschungsreise ab. In Amedi, eine historische Stadt, 10 km weit weg von der türkischen Grenze, erinnern jüdische und chaldäische Spuren an die Vielfältigkeit der Kulturen im Nahen und Mittleren Osten. Besonders lehrreich war der Besuch des Ortes Lalisch. Hier befindet sich das zentrale Heiligtum der Jesiden, eine der ältesten Volksgruppen der Region. Das Jesidentum ist mittlerweile mit ungefähr 200.000 Mitgliedern die viertgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland. Zusammen mit Expertinnen und Experten sowie auch mit Mitgliedern der Zivilgesellschaft wurde über die Bedeutung und Gestaltung des deutschen Engagements in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik, Außenwirtschaftpolitik sowie auch Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik debattiert.
Ergebnisse und Beobachtungen
Bei den Gesprächen mit irakisch-kurdischen und deutschen Akteurinnen und Akteuren wurde schnell klar, dass Deutschland ein geschätzter Partner in allen drei Bereichen in der Region Kurdistan-Irak ist. Die deutschen Waffenlieferungen aus dem Jahr 2014 an die Peschmerga, die Sicherheitskräfte der kurdischen Regionalregierung, im Kampf gegen den IS"Islamischer Staat", haben sich in das kurdische kollektive Gedächtnis eingebrannt. Kaum jemand, egal ob Politikerin oder Taxifahrer, zweifelt daran, dass diese materielle Hilfe zusammen mit dem Einsatz der Bundeswehr zur Ausbildung der Peschmerga, entscheidend für das Zurückdrängen des IS"Islamischer Staat" waren. Dafür, dass der IS"Islamischer Staat" weiterhin eine ernsthafte Gefahr im Irak bleibt, zeugt der fortdauernde deutsche Bundeswehreinsatz Counter Daesh/Capacity Building Iraq.
Die Folgen der somit geschaffenen Stabilität sind auch mit bloßem Auge zu beobachten. Trotz der erst abebbenden Corona-Pandemie boomt die Bauindustrie an allen Ecken, insbesondere in der Hauptstadt, Erbil. Dennoch waren sich die Gesprächspartnerinnen und -partner uneinig darüber, in wessen Auftrag gebaut wird und woher das Geld stammt. Die seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine steigenden Ölpreise dürften sich positiv auf den Investitionsdurst in der Region Kurdistan-Irak auswirken. Langfristig könnte sich diese Abhängigkeit vom profitablen Ölsektor jedoch eher als Fluch denn als Segen erweisen, da dies keinen Ansporn für eine Diversifikation der lokalen Wirtschaftszweige darstellt. Trotz der Größe und Bedeutsamkeit der deutschen Wirtschaft fallen die deutsch-(irakisch-)kurdischen Handelsvolumen und Wirtschaftsbeziehungen unerwartet bescheiden aus. Besonders geschätzt hingegen ist Deutschlands Partnerschaft im akademischen Bereich. Jährlich finden ungefähr ein Dutzend Austauschprogramme und Projekte zwischen deutschen und kurdischen Partneruniversitäten statt. An der Universität Dohuk können sogar drei deutsch-kurdische Universitätsabschlüsse erlangt werden. Das Masterprogramm am Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie der Universität Dohuk ist nur ein Beispiel erfolgreicher deutsch-kurdischer Kooperation. Heutzutage ist es wichtiger denn je, mehr Verantwortung zu übernehmen und sich für ein geordnetes und verzahntes Miteinander einzusetzen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die gute deutsch-irakisch-kurdische Zusammenarbeit auch in der Zukunft zu pflegen, auszubauen und demokratiefeindlichen Kräften entschieden entgegenzutreten.
Die Autorin
Mehr zur Vita, den Forschungsschwerpunkten und Publikationen von Silvia - Lucretia Nicola M.A.Master of Arts finden sie hier.
Weitere Informationen über den Irak und der Region Kurdistan - Irak bietet außerdem der ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr „Irak und Syrien“ Wegweiser zur Geschichte.