Gemeinsamer Workshop der ERGOMAS Working Group "From the Cold War to the War in Ukraine"
Gemeinsamer Workshop der ERGOMAS Working Group "From the Cold War to the War in Ukraine"
- Datum:
- Ort:
- Potsdam
- Lesedauer:
- 9 MIN
Vom 18. bis zum 20. Oktober 2023 fand am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) in Potsdam der gemeinsame Workshop der ERGOMAS (European Research Group on Military and Society) Working Group „Public Opinion, Mass Media, and the Military“ und des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr statt. Unter dem Titel „From the Cold War to the War in Ukraine“ wurden bedeutende Entwicklungen von der Zeit des Kalten Krieges bis zum aktuellen Konflikt in der Ukraine diskutiert.
Russlands Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 hat in vielen Ländern zu historisch nahezu beispiellosen Veränderungen ihrer Außen- und Sicherheitspolitik geführt, die in der deutschen Debatte als „Zeitenwende“ bezeichnet werden. Andere Ereignisse oder Umbrüche wie das Ende des Kalten Krieges, die Terroranschläge des 11. September 2001 oder die Covid 19-Pandemie haben ähnlich dramatische Effekte im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderungen und politische Entscheidungen gehabt.
„From the Cold War to the War in Ukraine“
Der langfristige Einfluss dieser (und anderer) epochaler Wendepunkte auf die öffentliche Meinung und die Haltungen der Bürgerinnen und Bürger ist in der politikwissenschaftlichen und soziologischen Forschung bisher wenig untersucht worden. Ein Grund für diese Leerstelle in der Forschung könnte sein, dass es weder ein theoretisch eindeutiges Konzept noch ein objektives empirisches Messinstrument für eine Zeitenwende gibt, die genutzt werden könnten, um die Veränderung der politischen Haltungen der Bürgerinnen und Bürgern zu bestimmten Politikbereichen zu klassifizieren und zu bewerten. Ein anderer Grund könnte das Fehlen geeigneter Zeitreihen- oder Paneldaten sein, die überhaupt erst eine langfristige Betrachtung der (kausalen) Wirkungen von epochalen Wendepunkten, externen Schocks oder anderen Ereignissen erlauben.
Vor diesem Hintergrund fand vom 18. bis 20. Oktober 2023 am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr ein gemeinsamer englischsprachiger Workshop der ERGOMAS Working Group „Public Opinion, Mass Media, and the Military“ und des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Konzept der Zeitenwende und dem Zeitenwende-Charakter von Veränderungen der öffentlichen Meinung im Politikfeld Außen- und Sicherheitspolitik statt.
In insgesamt 13 Vorträgen wurde das Thema des Workshops betrachtet und aus verschiedenen Perspektiven analysiert. Dazu zählten unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen (Geschichte, Politikwissenschaft, Psychologie, Anthropologie, (Militär-)Soziologie)), methodische Ansätze und Datenquellen (Bevölkerungsbefragungen, Inhaltsanalysen, Tiefeninterviews und Feldforschung durch teilnehmende Beobachtung), genauso wie der Blick auf einzelne Länder (Deutschland, Lettland, Norwegen, Polen, Österreich, Schweiz, Ukraine) sowie vergleichende Analysen zwischen verschiedenen Ländern. Im Fokus der vortragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren die Auswirkungen unterschiedlicher Ereignisse. Im Schwerpunkt ging es aber in den meisten Beiträgen um die Konsequenzen des 2022 begonnenen Ukrainekriegs für die Haltungen der Bürgerinnen und Bürger zu außen- und sicherheitspolitischen Themen.
„Zeitenwende“ oder „Wendezeiten“
Frank Reichherzer vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam beschäftigte sich ausführlich mit dem „Zeitenwende“-Begriff und der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022. Er diskutierte verschiedene Synonyme und Begriffe für „Zeitenwende“ wie Zäsur, Epochenbruch, Paradigmenwechsel oder externer Schock und arbeitete heraus, dass all diese Begriffe dazu dienen, den Lauf historischer Ereignisse zu strukturieren und letztendlich eine menschliche Konstruktion zur Sinnstiftung und Herstellung von Ordnung zwischen einer Welt „davor“ und einer Welt „danach“ sind. Als analytisches Instrument für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung sei der Begriff „Zeitenwende“ daher möglicherweise nur begrenzt geeignet.
Markus Steinbrecher, ebenfalls vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, machte in seinem Vortrag einen Vorschlag für ein Instrument, um Zeitenwenden in der öffentlichen Meinung zu messen. Er hob hervor, dass es erstens zu einem massiven Umschwung der Haltungen der Bevölkerung bei einem Thema oder einer Frage kommen müsse (z.B. vorher: mehrheitliche Ablehnung, nachher: mehrheitliche Zustimmung). Zweitens müsse die Veränderung eine gewisse Stärke aufweisen. Dafür könne eine Referenzvariable oder -frage als Vergleichsmaßstab herangezogen oder ein fester Grenzwert von z.B. zehn Prozentpunkten festgelegt werden. Drittens sollte die festgestellte Veränderung von Dauer sein, sich also über mehrere Jahre halten. Daher sei es noch zu früh, eine Einschätzung hinsichtlich einer Zeitenwende in der deutschen öffentlichen Meinung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 abzugeben. Für das Jahr 2014, in dem der erste russische Angriff stattfand, lasse sich nur eine themenspezifische Zeitenwende identifizieren: Die Haltungen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Deutschland hätten sich nicht dauerhaft verändert, sehr wohl aber unterstütze seitdem eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben.
Zeitenwende in der Schweiz
Thomas Ferst von der Militärakademie (MILAK) an der Eidgenössische Technische Hochschule Zürich untersuchte in seinen beiden Beiträgen die Rolle von Ereignissen und ihrer Einflüsse für die Haltung der Schweizerinnen und Schweizer zu den Vereinten Nationen (VN) und zur NATO. Er konnte zeigen, dass es 1997 tatsächlich eine Zeitenwende in der öffentlichen Meinung in der Schweiz im Verhältnis zu den VN gegeben habe: Seitdem werde sowohl die Mitgliedschaft in den VN allgemein wie im VN-Sicherheitsrat von einer Mehrheit der Schweizer Bevölkerung unterstützt. Ereignisse wie der Kosovo-Krieg oder die Anschläge des 11. September 2001 hätten für einen ereignisbedingten Anstieg der Zustimmung gesorgt. Im Hinblick auf eine Annäherung der Schweiz an die NATO zeigten sich ebenfalls Effekte des Kosovo- wie des Ukrainekriegs 2022. In der Folge gab es jeweils deutlich stärkere Zustimmung für eine Annäherung an die NATO wie für einen NATO-Beitritt der Schweiz. Allerdings sei dieser Effekt nach dem Kosovokrieg wieder verpufft und die Veränderung nicht langfristig gewesen. Ähnliches sei zu erwarten, wenn der Ukrainekrieg irgendwann ende bzw. in den Medien nicht mehr so präsent sei. Das Jahr 2022 sei daher für die Schweiz möglicherweise eher ein „Zeitenwendli“ als eine umfassende Zeitenwende.
Dass es in Polen keine Zeitenwende in der öffentlichen Meinung aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 gab, konnten zwei Beiträge eindrucksvoll darlegen. Marek Rohr-Garztecki vom Institute for Educational Research in Warschau, Polen verglich die Entwicklung der öffentlichen Meinung zu Russland zwischen Polen und Deutschland. Bereits in den 2010er-Jahren nahm die große Mehrheit der Polinnen und Polen Russland als Bedrohung wahr und sprach sich für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine aus. Zudem seien auch die politischen Eliten in Polen in keiner Weise vom russischen Angriff überrascht worden. Für Deutschland hingegen sprach Rohr-Garztecki von einer massiven Überraschung für die meisten Angehörigen der politischen Elite und einem möglichen neuen „Bad Godesberg“-Moment für die SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands.
Meinungsumschwung in Polen bereits in Folge des russischen Angriffs 2014
Der Vortrag von Slawomir Nowotny aus der Kanzlei des polnischen Ministerpräsidenten in Warschau lieferte einige zusätzliche geschichtliche Hintergründe zu den polnischen Haltungen zu Russland und zum Ukrainekrieg. Aufgrund der vielfältigen negativen historischen Erfahrungen mit russischer Aggression und Besatzung in den letzten 300 Jahren habe man sich in Polen nie Illusionen über Russland gemacht. 2022 sei daher in Polen keine Zeitenwende in der öffentlichen Meinung zu Sicherheits- und Verteidigungspolitik allgemein und in Bezug auf Russland oder die Ukraine im Speziellen gewesen. Vielmehr zeige sich in den polnischen Befragungsdaten ein Meinungsumschwung zu Russland und zum Ukrainekrieg bereits in Folge des ersten russischen Angriffs im Jahr 2014.
Aus einer gänzlich anderen Perspektive blickte Nina Hellum vom Norwegian Defence Research Establishment in Kjeller, Norwegen auf die Zeitenwende. Sie präsentierte Ergebnisse ihrer teilnehmenden Beobachtung durch Feldforschung unter norwegischen Soldatinnen und Soldaten. Schwerpunkt ihrer Ausführungen waren Befunde zu Veränderungen hinsichtlich soldatischer Motivation und Kampfmoral. Sie konnte zeigen, dass patriotische und wertebezogene Motive für den Dienst in den letzten Jahren und insbesondere seit dem Jahr 2022 für die Angehörigen der norwegischen Streitkräfte wichtiger geworden seien. Das generelle Motivationsniveau in den Streitkräften sei gestiegen, weil klarer geworden sei, warum und wofür man als Soldat oder Soldatin diene.
Öffentliche Meinung in Lettland zwischen 2018 und 2022
Toms Rostoks von der Latvian National Defence Academy in Riga richtete seinen Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung in Lettland zwischen 2018 und 2022 und analysierte die Unterschiede in den Haltungen der lettischen Mehrheitsbevölkerung und der russischsprachigen Minderheit. Vor dem Jahr 2022 zeige sich bei Haltungen zur NATO, zur Bündnisverteidigung und zu Russland eine massive Lücke zwischen beiden Gruppen, die sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine deutlich verkleinert habe. Bei einigen Fragen ergebe sich sogar eine Angleichung der Einstellungen. Die Angehörigen der russischsprachigen Minderheit sähen Russland jetzt genauso wie die Letten als Bedrohung. Bei Haltungen zur NATO und zur Bündnisverteidigung zeige sich bei dieser Gruppe eine deutlich größere Unterstützung als zuvor. Allerdings würden manche Maßnahmen wie die Präsenz USUnited States-amerikanischer Truppen immer noch kritisch gesehen.
Victoria Tait-Signal von Defence Research and Development Canada in Ottawa konzentrierte sich auf geschlechtsbezogene Perspektiven und Narrative im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Sie analysierte die Handlungen und Motive der beiden Kriegsparteien aus einer Genderperspektive und arbeitete die große Bedeutung von Maskulinität für die russische Politik und Kriegsführung heraus. Auf ukrainischer Seite würden gezielt Geschlechter-Narrative eingesetzt, die auf ein Publikum in den Ländern der westlichen Welt abzielten, um dort die umfassende Unterstützung zu erhalten. Zudem präsentierte sie ihre Ergebnisse von Inhaltsanalysen verschiedener klassischer und sozialer Medienkanäle und konnte zeigen, dass sich gerade auf ukrainischer Seite der Blick auf das Verhältnis zwischen Frauen, sexuellen Minderheiten und dem Militär seit dem Beginn des Krieges 2014 massiv verändert habe.
In Österreich keine Zeitenwende in der öffentlichen Meinung
Den Fokus auf die Entwicklung der öffentlichen Meinung zu Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Österreich richtete Wolfgang Prinz vom österreichischen Bundesministerium für Landesverteidigung in Wien. Für viele Haltungen zeigten sich bei den Bürgerinnen und Bürgern in Österreich nur geringfügige Änderungen, lediglich bei den Bedrohungswahrnehmungen sei es seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs 2022 zu deutlichen Verschiebungen gekommen. Hinsichtlich der Haltungen zu Neutralität und zur NATO habe es nur graduelle Anpassungen gegeben, die Unterstützung für höhere Verteidigungsausgaben und eine Vergrößerung des Bundesheers sei weiterhin vorhanden. Dementsprechend könne man für Österreich nicht von einer Zeitenwende in der öffentlichen Meinung sprechen.
Morten Brænder von der Universität Aarhus in Dänemark weitete den Blick weg vom Politikfeld Sicherheits- und Verteidigungspolitik und betrachtete den Effekt des Ukrainekriegs auf politische Effektivitäts- und Wirksamkeitsüberzeugungen in verschiedenen europäischen Ländern. Er machte sich dabei für seine Analysen zunutze, dass die Datenerhebung in einigen Teilnehmerländern des European Social Survey den Beginn des Krieges einschloss und somit ein quasi-experimentelles Forschungsdesign verwirklicht werden konnte. Seine Analyseergebnisse zeigten, dass sich nach dem Kriegsausbruch Wahrnehmungen der eigenen politischen Wirksamkeit und der Responsivität des politischen Systems in den meisten der betrachteten Länder verschlechtert haben – vermutlich weil durch den Kriegsausbruch die eigene politische Ohnmacht deutlich wurde.
Ist die Zeitenwende messbar?
Matthias Mader von der Universität Konstanz legte umfassende konzeptionelle Überlegungen hinsichtlich der Messbarkeit von Zeitenwenden in der öffentlichen Meinung dar. Neben Dauer und Stärke der gemessenen Veränderungen war für ihn die Unterscheidung zwischen grundsätzlichen Einstellungen zur Außen und Sicherheitspolitik wie Internationalismus, Militarismus und Multilateralismus, den sogenannten außen- und sicherheitspolitischen Grundhaltungen, und spezifischen Einstellungen zu konkreten Fragen und Themen von Bedeutung. Erst, wenn sich die Grundhaltungen änderten, könne von einer Zeitenwende in der öffentlichen Meinung gesprochen werden. Auf Basis komparativer Analysen für zehn europäische Länder konnte er zeigen, dass es aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine in einigen Ländern zu entsprechenden Verschiebungen gekommen sei. Für endgültige Schlussfolgerungen hinsichtlich einer möglichen Zeitenwende sei es aber aus verschiedenen Gründen zu früh.
Eine mit den Ausführungen von Matthias Mader eng zusammenhängende Fragestellung untersuchte Timo Graf vom ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in seinem Vortrag. Er betrachtete die Relevanz und Stärke der Effekte der außen- und sicherheitspolitischen Grundhaltungen für die Erklärung von Einstellungen zu spezifischen außen- und sicherheitspolitischen Fragen in Deutschland im Vergleich zwischen 2021 und 2022. Für den Zusammenhang mit geänderter Bedrohungslage und Ausmaß des subjektiven Informationsniveaus im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik zeigten sich in seinen Analysen keine systematischen Zusammenhänge. Die Wirkungen der außen- und sicherheitspolitischen Grundhaltungen seien demnach unabhängig vom konkreten Bedrohungsniveau und dem individuellen Wissen über spezifische sicherheitspolitische Maßnahmen.
Zum Workshop ist ein englischsprachiger Sammelband geplant.