Zugehört 80 - Transkript

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Lesedauer:
32 MIN

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Major Gutzeit: Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserer neuen Zugehört-Folge zur Geschichte Litauens. Heute bei mir im Studio ist Professor Dr. Tauber. Er war bis zuletzt der Direktor des Nordost-Institutes der Universität Hamburg. Mein Name ist Michael Gutzeit, ich bin Major und Leiter der Informationsarbeit am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Herzlich willkommen Herr Professor. 

Professor Tauber: Ja, vielen herzlichen Dank für die Einladung Herr Major. Ich freue mich sehr, heute hier über Litauen berichten zu können, über eine tausendjährige Geschichte eines kleinen baltischen Staates. 

Gutzeit: Ein kleiner Staat, ein kleines Land mit einer so großen Geschichte, mit einer so großen Bedeutung. Wenn es um die Geschichte geht, möchte ich meine erste Frage stellen zur Identifikation. Also wenn man zum Beispiel in unsere Geschichte schaut, finden wir immer wieder Identifikationsfiguren. Gibt es denn sowas zum Beispiel auch in der litauischen Geschichte? 

Tauber: Ja, und zwar ist die litauische Geschichte an verschiedenen Stellen etwas komplizierter fasst als die deutsche Geschichte, weil von litauischer Geschichte kann man nur sprechen, wenn man in den verschiedenen Jahrhunderten anschaut, welche Region und welche Menschen sich mit dem Begriff Litauen identifizieren lassen. Es gibt zwei zentrale Bereiche des ein ist das mittelalterliche Litauen, ein selbstständiger Staat, das berühmte Großfürstentum Litauen. Heute würde man sagen ein größerer Player in Ost-Mitteuropa und die Identifikationsfiguren aus heutiger Sicht sind einige der Großfürsten, die also heute auch insofern weiterhin eine große Bedeutung haben. Sie erkennen es daran, dass viele litauische Jungennamen heute noch nach den Großfürsten benannt sind. Das ist also erst mal Mindaugas, das ist einer der berühmtesten Großfürsten, der hat die litauischen Stämme geeinigt und ist als erster zum Christentum übergetreten und hat vom Papst sogar die Königskrone empfangen. Das ist der erste der berühmten ikonischen Großfürsten. Es sind drei an der Zahl, der zweite ist ein Gediminas, der das Reich nach Osten ausgedehnt hat und nach dem Mindaugas dann vom Christentum wieder abgefallen ist, auch sich wieder zum Christentum bekannt hat und der dritte und eigentlich bekannteste, weil auch das Cognomen der Große hat, ist Vytautas. Vytautas der Große, der 1410 zusammen mit Polen die berühmte erste Schlacht bei Tannenberg gegen den Deutschen Orden siegreich beendet hat. 

Gutzeit: Wenn wir einmal beim Mittelalter sind und wir sprechen über den Deutschen Orden, dann glaube ich war der Deutsche Orden auch negativerweise für Litauen sehr identitätsstiftend aufgrund der Litauer Kriege, die der deutsche Orden im Heidenkampf in Osteuropa geführt hat, kann man das so sagen? 

Tauber: Ja man kann es sagen, man muss ein bisschen Abstriche machen. Sie haben aber ein wichtiges Stichwort schon genannt, den Heidenkampf. Es ist natürlich kein Zufall, dass die Großfürsten zum Christentum konvertiert sind und vom Papst anerkannt wurden. Der Hintergrund ist genau der, um sozusagen dem Deutschen Orden ein Motiv für die Aggression zu nehmen, dass die Heiden bekehrt werden müssen. Die Geschichte mit dem Deutschen Orden ist in der Tat eine Geschichte jahrhundertelanger Auseinandersetzungen und Kämpfe. Es ist nicht nur der Deutsche Orden, der im ehemaligen Ostpreußen ist und auch der livländische Zweig des Deutschen Ordens. Aber und das hat eigentlich erst die Forschung in den letzten Jahrzehnten ergeben, neben diesen militärischen Auseinandersetzungen gab es immer ökonomische, wirtschaftliche Beziehungen. Es gab zum Beispiel auch immer in Vilnius, der Hauptstadt des Großfürstentums, eine deutsche Kolonie. Also man hat sich schon immer wieder gestritten und die Litauer haben sozusagen auch verhindert, dass der livländische Zweig des Ordens und der ostpreußische Zweig des Ordens zusammenkamen. Aber dann gab es eben auch Beziehungen und Kontakte. 

Gutzeit: Wenn wir darüber sprechen, Sie hatten es schon erwähnt, können wir kurz über die Bedeutung der Schlacht von Tannenberg 1410 sprechen? 

Tauber: Ja, das ist eigentlich der letzte Versuch des Deutschen Ordens in der Tat, eine Landverbindung mit den livländischen Orden herzustellen. Für die litauische Seite ist vor allem die polnische Komponente. Das kann ich schon im Voraus für unser Gespräch sagen. Polen spielt eine zentrale, bestimmende Rolle für Litauen bis ins 20. Jahrhundert. Es ist eben eine Komponente, das ist die wirkliche Niederlage gegen ein polnisch-litauisches Kontingent und sichert damit die Unabhängigkeit des Großfürstentums und auch Polen gegenüber den Deutschen Orden. Das ist ein Höhepunkt, das ist das Ende der Expansion des Deutschen Ordens. Es geht ja dann noch Jahrzehnte und Jahrhunderte weiter im Kampf gegen den Deutschen Orden, aber das ist der Endpunkt der Expansion.

Gutzeit: Wenn wir über die Geschichte Litauens sprechen, der Deutsche Orden hat ja nicht gegen Litauen verloren, sondern gegen eben diese Personalunion Polen-Litauen. Wie ist es dazugekommen?

Tauber: Ja, das sind wirklich dynastische Gründe. Das hängt auch mit Vytautas zusammen und mit seinem Onkel, der hieß Jogaila auf Litauisch. Der Name wird Ihnen sicherlich nicht sagen, wenn ich die polnische Version Jagiellos sage, dann wird Ihnen sofort klar sein, was da geschehen ist, der heiratet nämlich die polnische Königstochter Hedwig und gründet das polnische Königtum und die Dynastie der Jagiellonen. Also insofern ist es erstmal eine Personalunion, die aber den polnischen Einfluss und mit Einfluss mein ich vor allem auch kulturell, sprachlich, immer stärker in das litauische Gebiet hineinbringt, bis eben dann 1569 in der Union von Lublin praktisch Litauen in dem polnischen Königreich aufgeht. 

Gutzeit: Wenn wir über Polen und Litauen sprechen, dann kommen wir eigentlich nicht um die polnischen Teilungen drum herum. Ja, davon gab es ja drei Stück an der Zahl. Wie war das mit der ersten polnischen Teilung? Was hatte das für Auswirkungen auf das heutige Litauen? 

Tauber: Die entscheidenden Auswirkungen ist die Teilung von 1795. Litauen galt als Teil Polens oder was heißt galt war ein Teil Polens und wurde eben dann auch in der letzten Teilung der Zerschlagung des polnischen Staatswesens mit dem Zarenreich zugeschlagen. Das heißt, sie können sagen, die litauische Geschichte hat bis ins 19. Jahrhundert drei zentrale Säulen. Das eine ist das Großfürstentum. Natürlich verständlicherweise, heute noch hervorgehoben im litauischen Selbstverständnis, der Identität. Das sehen Sie auch im litauischen Wappen. Das ist nämlich ein Reiter mit Schwert erhoben. 

Gutzeit: Vor allem, wenn ich da eingreifen darf, der der litauische Reiter auf dem Staatswappen er reitet aber Richtung Westen und nicht Richtung Osten. 

Tauber: Er reitet er gegen den deutschen Orden. Und dieser Reiter ist bereits für das Großfürstentum bedingt. Also ganz wichtig, das ist sozusagen die goldene Zeit des Litauens kommt. Dann kommt die polnische Phase, wobei aus litauischer nationaler Sicht dieser polnische Einfluss immer insofern negativ gesehen wurde, weil eben auch die kulturelle Dominanz von Polen immer stärker wurde, auch in der Sprache und so weiter. Und dann kommt, wenn sie so wollen, dass der dritte Punkt eben dann das Litauen das Schicksal Polens teilt und dann eben Teil des Zarenreiches wird. 

Gutzeit: Herr Professor, die dritte polnische Teilung können wir da mal ein bisschen tiefer in die Materie einsteigen? 

Tauber: Das ist 1795 und das ist die endgültige Zerstörung des polnischen Staates. Also es gab ja noch einen polnischen Reststaat. Es gab ja dann sogar auch nochmal Aufstandsbewegungen, Unabhängigkeitsbewegungen. Und 1795 einigen sich die Teilungsmächte Preußen, Österreich, Habsburger Monarchie und das Zarenreich endgültig darauf auch den polnischen Reststaat unter sich aufzuteilen. Und damit ist im Endeffekt die Unabhängigkeit Polens und auch Litauens und auch des Großfürstentums erloschen. Und die litauischen Siedlungsgebiete kommen alle zum Zarenreich. 

Gutzeit: Aber wenn wir uns diese Zeit anschauen auch im europäischen Vergleich ist ja ein Zeitalter der Revolutionen des erstarkenden Bürgertums, der Nationalkultur. Welche Auswirkungen hatte das auf Litauen? Gab es dort auch eine erstarkte Nationalbewegung? 

Tauber: Ja, das ist eine interessante Frage aus dem Grund, weil die litauische Nationalbewegung sehr spät im 19. Jahrhundert entsteht und aus einer ganz bestimmten Konstellation heraus. Wir haben, wie Sie vielleicht wissen, im 19. Jahrhundert polnische litauische Aufstände gegen die zarische Herrschaft, 1830/31 und 1863/64. Der zweite Aufstand 63/64 ist vor allem in den litauischen Gebieten extrem stark und heftig. Und damals hat sich der Appell oder der Kampfspruch oder die Erkennung eingezeichnet „Für eure und unsere Freiheit“. Sowohl aus polnischer Sicht für unsere polnische und eure litauische, aus litauischer Sicht für unsere litauische und eure polnische Freiheit. Das ist aber und das ist der entscheidende Punkt. Da ist das Ziel eigentlich die Rückkehr zur alten Adelsrepublik, wie sie 1795 untergegangen ist. Also ein Feudalstaat noch. Und jetzt kommt das, was Sie angesprochen haben mit den Änderungen in Europa seit der französischen Revolution, die eine und unteilbarer Nation. Das entwickelt sich erst später und innerhalb und das ist bis heute ein faszinierendes Stück Geschichte innerhalb von zwei, drei Generationen. Bericht diese litauische polnische Gemeinsamkeit völlig zusammen und es kommt zu einem tiefen Antagonismus einer tiefen Rivalität, ja teilweise sogar Feindschaft zwischen Polen und Litauen. Die litauische Nationalbewegung entsteht eigentlich in den Köpfen von wenigen Intellektuellen. Es gibt in der Zeit kein Bürgertum in unserem mitteleuropäischen Sinne in Litauen. Das sind eigentlich alles junge Akademiker der ersten Generation, die stammen in der Regel wirklich vom Land und werden durch die katholische Kirche, die in Litauen und Polen ja sehr stark ist, werden durch Priester auf erst mal die Grundschule geschickt und dann später auch empfohlen für eine höhere Bildung. Das ist eine ganze Generation, die so entsteht. Die sind mehrsprachig, die sprechen natürlich polnisch, die sprechen natürlich russisch, die sprechen in der Regel auch alle deutsch und sind an Universitäten entweder sogar in Dorpat, also in Estland, an einer deutsch-russischen Universität oder in Petersburg und dort treffen die sich sozusagen in landsmannschaftlichen Zirkeln. Und dann ist der entscheidende Punkt die Sprache. Das Litauische als Erkennungsmerkmal, das Litauische als Kultursprache, als alte Sprache, sehr viele Anklänge ans Lateinische oder auch an das Griechische sind in der Sprache vorhanden und das ist der Identitätskern. Aber das sind, wie sind hier bei der Bundeswehr, das sind Generale ohne Armee. Es gibt in den Städten keine litauische Mittelschicht. Die litauisch-sprachige Bevölkerung ist auf die Dörfer abgedrängt, in den Städten spricht man polnisch oder jiddisch. Also das ist eigentlich eine Kopfgeburt, aber innerhalb von zwei Generationen entsteht also diese Nationalbewegung und auch ganz wichtig, der Streitpunkt ist natürlich regional, das ist Vilnius oder auf Polnisch Wilno. Um die Stadt geht es für die Litauische Nationalbewegung, die ja sehr stark des Großfürstentum als Identifikationsordnung ist es klar, die Residenz des Großfürsten, die Residenz von Mindaugas und von Gediminas, nenn ich Vytautas, die muss auch die Hauptstadt sein. Die Polen wollen Vilnius als Teil ihres Staates und da schnürt sich dann der Knoten, der dann in der Zwischenkriegszeit eine große Rolle spielt. Also 19. Jahrhundert ist eine spannende Geschichte, es sind die Intellektuellen, die diese Nationalbewegung ins Leben rufen. 

Gutzeit: Sie haben jetzt schon das Stichwort gegeben, 19. Jahrhundert und Zwischenkriegszeit. Wenn wir jetzt ins 20. Jahrhundert gehen und in den ersten Weltkrieg, gerade auch in Bezug auf die deutsch-litauische Geschichte, kam es ja zu einer Staatsgründung auf dem heutigen Gebiet, nämlich zu Ober Ost, einem Militärstaat und zu einer deutschen Besatzung. Können Sie dazu was sagen? 

Tauber: Ja, also das ist eine ganz spannende Geschichte. Erster Weltkrieg muss ich jetzt nicht groß darauf eingehen. Da gibt es dann die zweite Schlacht von Tannenberg, sei nur erwähnt, 1914, zwei russische Armeen werden zerschlagen. Im Jahr 1915 ist von der deutschen Heeresleitung geplant im Osten vorzurücken, das gelingt auch und die polnischen Teilungsgebiete des Zarenreiches werden eingenommen. Im Herbst 1915 wird eigentlich das ganze litauische Siedlungsgebiet durch die deutsche Armee besetzt. Und da ist eben diese Besonderheit, sie haben es erwähnt Ober Ost, als Bezeichnung für Oberbefehlshaber Ost, die deutsche kaiserliche Armee schafft sich ein eigenes Staatswesen im Endeffekt, wo Militärverwaltung gilt. Und für die Litauer war die deutsche Militärverwaltung eine große Belastung aus drei Gründen. Erstens wirtschaftliche Ausbeutung. Alles musste der wirtschaftlichen Ausbeutung und den Abtransport ins Reich untergeordnet werden, das trifft vor allem die Landwirte. Da sind dann auch sogar Zwangsarbeitsbataillone werden aufgestellt für Holzfällarbeiten, Litauen ist ein sehr waldreiches Land. Zweitens Bildung. Und da sehen sie auch die Zwiespältigkeit der deutschen Besatzung. Einerseits schaffen die Deutschen eine Art von Grundschul- oder rudimentären Grundschulsystem auf den Dörfern, wo vorher eigentlich nur die kirchlichen Schulen vorhanden waren. Also der Analphabetismus geht zurück. Aber gleichzeitig wird germanisiert. Deutsch ist die Fremdsprache, die von Anfang an zwangsweise verordnet wird. Und der dritte Punkt ist das, was man mit einer gewissen Kolonialmentalität der deutschen Offiziere in Ober Ost beschreiben kann. Da kommen sie dann in die Kulturbringerthese rein. Man hat sich also offensichtlich fast schon mit britischen Kolonialoffizieren verglichen. Man muss den Litauern, den Wilden, Kultur beibringen. Das macht man zum Beispiel in Vilnius mit einer Straßenbegehungsverordnung. Sie müssen sich das so vorstellen, da war ja noch viel Pferdefuhrwerke und so weiter. Das war nicht richtig asphaltiert. Die Straßen, also lag auf den Straßen immer sehr viel Unrat, Kot, Pferdekot und ähnliches. Und die Gehwege waren relativ schmal. Und da ist dann die deutsche Militärverwaltung auf die Idee gekommen eine Gehwegeverordnung zu erlassen. Wer wo zu gehen hat, also Rechtsverkehr zum Beispiel, nicht anhalten, Deutschen ob Soldaten und Offizieren immer Platz machen, also wer dann an Stehen bleibt und ein Gespräch führt, der wurde dann mit Strafen bedroht, teilweise mit Gefängnis von zwei Wochen. Also gibt es viele Beispiele dafür, was die deutsche Militärverwaltung da angerichtet hat. Dann aber wird Litauern so generis als Staatswesen oder als Spiel der Mächte in Ostmitteleuropa interessant. Zunächst haben die Deutschen probiert auf einen polnischen Staat zu setzen, was ja total logisch ist. In den 1795, es war klar, die polnischen Nationalbewegung möchte einen eigenen Staat. Man hat also dann die November-Deklaration 1916 erlassen, wo von einem polnischen Staat die Rede war, aber ohne genaue Grenzen. Und das ist völlig logisch, weil ja Teil des polnischen Gebietes in die Teilungen an Preußen gingen und an Österreich-Ungarn. Und es war relativ offensichtlich, dass die deutsche Politik nur versuchte, Polen für die Mittelmächte kämpfen und sterben zu lassen. Das war ein politischer völliger Flop, völlig in die Hose gegangen. In der Planung war Litauen, ganz in der Tradition der alten polnischen litauischen Union sozusagen als Konkursmasse für Polen vorgesehen für die nicht abzutretenden deutschen polnisch-sprachigen Gebiete. Und nachdem das nicht funktioniert hat, hat die deutsche Politik umgeschaltet und hat gesagt, okay, man kann ja vielleicht auch den Litauern eine Art von Staatlichkeit zukommen lassen. Der Hintergrund ist ganz klar, erstens das Zarenreich zu schädigen, vielvölliger Staat, zweitens, und das ist ganz eindeutig, den deutschen Machtbereich ins Baltikum ausdehnen. Da hat der damalige Reichskanzler Bethmann-Hollweg die sogenannte Frisieranweisung erlassen. Die finden Sie auch hier gleich um die Ecke im Bundesarchiv. Die Frisieranweisung heißt, man muss das alles demokratisch aussehen lassen, ja, aber im Endeffekt muss das alles so frisiert sein, dass Deutschland die Oberhand hat. Denn 1917, als das alles sich abspielt, ist ja schon das Schlagwort das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Man gründet dann einen Tariba, einen Rat, ja, schreibt dem vor, wie sie die Unabhängigkeit zu erklären haben. Im Dezember 1917, Zollunion, Militärunion mit dem deutschen Reich und natürlich ein deutscher Fürst auf dem zukünftigen litauischen Thron. Also insofern haben die Deutschen schon den Weg in die Unabhängigkeit einerseits frei gemacht, aber in eine Unabhängigkeit, die den Litauern nicht so geschmeckt hat. Es wäre eine informelle Annexion gewesen. 

Gutzeit: Aber dann kam es ganz anders. Deutschland unterliegt im ersten Weltkrieg und kommt zur ersten litauischen Republik. 

Tauber: Ja, genau. Das beginnt am 16. Februar 1918. Das ist die Zeit von Brest-Litowsk - Verhandlungen zwischen Lenin, Sowjetreich und dem Deutschen Kaiserreich. Und nachdem die Litauer da nicht mit an den Tisch gekommen sind, entschließt sich die Tariba, die Unabhängigkeit ein zweites Mal zu erklären, nämlich am 16. Februar 1918, das ist heute Staatsfeiertag in Litauen. Sie erklären die Unabhängigkeit wieder und diesmal gegenüber allen Staaten. Keine Union, irgendeiner Art mit dem Deutschen Reich. Der entscheidende Passus ist, der zukünftige litauische Staat auf demokratischen Grundlagen gegründet werden soll und erst eine Nationalversammlung, eine demokratisch freigewählte-Nationalversammlung über die Staatsform, also konstitutionelle Monarchie oder Republik, entscheiden kann. Und dann bricht das Deutsche Reich zusammen und der Weg ist dann frei für die litauische Unabhängigkeit, genau wie für die lettische und estnische. 

Gutzeit: Die aber, glaube ich, auch immer unter Druck stand, weil wenn ich in die Geschichte Litauens schaute, dann musste Litauens zum Beispiel auch das Memelgebiet gar nicht so lange nach der Gründung schon wieder an, dass damals schon nationalsozialistisch gewordene Deutschland abtreten. 

Tauber: Ja, die Litauische Republik erbt zwei schwierige Vermächtnisse. Das eine ist Vilnius, wir haben es schon darüber gesprochen, eigentlich Ziel des litauischen Nationalstaates mit der Hauptstadt Vilnius, aber die Polen - Vilnius wechselt zwischen deutschen, litauischen, sowjetischen und polnischen Verbänden hin und hin. Im Oktober 1920 bleibt aber dann Vilnius polnisch. Die Litauer erkennen das nie an, keine Grenze, eine Demarkationslinie zu Polen, die Beziehungen sind total verfeindet. Kaunas wird nur provisorische Hauptstadt, erinnert ein bisschen an Bonn als provisorische Hauptstadt in der deutschen Geschichte. Diese Belastung ist immer vorhanden. Die zweite ist das Memelgebiet. Im Memelgebiet gibt es eine jahrhundertealte, litauische, ja man kann es schwierig zu sagen, ob man Minderheit sagt. Also eine litauische Bevölkerung, die sind protestantisch, sind komplett zweisprachig, aber die litauische Nationalbewegung erhebt von daher Anspruch auf das Memelgebiet. Das klappt in Versailles noch nicht, aber das Memelgebiet wird vom Deutschen Reich abgetrennt und dann 1923 gibt es einen Aufstand der litauischen Bevölkerung, der von Kaunas aus orchestriert ist und von den Deutschen auch gebilligt wird, weil die Deutschen keine polnische Enklave in Memel wollen. Dann bekommt Litauen die Souveränität übers Memelgebiet, aber mit Auflagen zur Autonomie versehen und das eskaliert dann als die Nazis an die Macht kommen. Es gibt auch eine sehr starke NSNationalsozialismus-Bewegung im Memelland und als Hitler dann, in den Ende der 30er Jahre, den Schritt über die Grenzen, wie es so schön heißt, macht Anschluss Österreich, ja, dann Sudetenkrise, dann Zerschlagung der Rest-Tschechoslowakei. Da ist auch das Memelgebiet eben dabei und die Deutschen zwingen die Litauer mit ultimativer Gewaltandrohung das Memelgebiet wieder abzutreten. 

Gutzeit: Ja, ein massiver Einschnitt in die Souveränität dieser Republik, wenn wir aber dann ein bisschen weitergehen, dann verliert Litauen und die Republik endgültig ihre Souveränität nämlich nach dem Hitler-Stalin-Pakt. 

Tauber: Ja, ich will jetzt da keine aktuellen Parallelen ziehen, erst mal einen Teil abtreten. Ja, das Memelgebiet war im Endeffekt das Vorspiel. Hitler-Stalin-Pakt, sie haben das erwähnt, geheimes Zusatzabkommen. Da ist in den Interessensphären Litauen noch im August 1939 steht Litauen noch auf deutscher Interessensphäre und sowohl die Sowjetunion, wie das Deutsche Reich erkennen den litauischen Anspruch auf Vilnius an. Das ist in der Zwischenkriegszeit auch interessant, der Feind meines Feindes ist mein Freund. Sowohl die Sowjets wie die Deutschen haben die litauischen Aspirationen auf Vilnius ausgenutzt, um den Polen in die Suppe zu spucken. So, das steht im geheimen Zusatzprotokoll und normalerweise wäre also dann auch Litauen eigentlich in den deutschen Orbit gefallen, aber nach der Zerschlagung Polens durch die Wehrmacht und die Rote Armee schlägt Stalin in Moskau im Gefolge des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrags im September 1939 vor Gebiete zu tauschen. Und zwar sollen die Deutschen einen größeren Teil Polens erhalten. Dafür soll Litauen in die Sowjetsphäre Interessenssphäre fallen und es wird auch gemacht und damit gehört Litauen auch der sowjetischen Interessenssphäre und im Juni 1940. Als die Truppen der Wehrmacht in Paris einmarschieren und die ganze Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, der Weltöffentlichkeit auf Frankreich auf die Niederlage Frankreichs gerichtet ist, stellt die Sowjetunion ein Ultimatum an Litauen, danach an Lettland, Estland, wenige Tage später, mit der Forderung jetzt, dass Litauen gegen einen Freundschaftsvertrag verstoßen habe, anti-sowjetische Propaganda zulasse und jetzt müssten unbegrenzt Einheiten der Roten Armee in Litauen einmarschieren. Und der litauische Präsident ist ein autoritäres Regime, der flieht nach Deutschland und in der letzten Sitzung im Präsidialpalast in Kaunas ist die Frage kämpfen oder nicht kämpfen. Und zunächst ist die litauische Regierung der Meinung, wir müssen uns wehren, wir müssen die Öffentlichkeit darüber informieren, dass hier ein Coup d‘état, eine Aggression, stattfindet, dass eine Okkupation stattfindet und wir müssen uns wehren. Und den Ausschlag gibt die litauische Generalität, denn zu der Zeit musste Litauen schon der exterritorialen Basen der Sowjetunion in Litauen zustimmen und die Generale sagen, wenn wir jetzt zum Widerstand aufrufen, dann endet das in einem unglaublichen Blutbad auch für die zivile Bevölkerung und wir haben keinerlei Chancen irgendwie einen militärischen Erfolg zu erzielen. Und das ist der entscheidende Punkt, dass man dann die sowjetische Okkupation kampflos hinnimmt. Würde heute nicht mehr passieren, ist in der litauischen Gesellschaft seit der Unabhängigkeit 1989/90 immer wieder Thema und da gibt es sehr viele auch emotionale Meinungen dazu, ob das die richtige Entscheidung war. 

Gutzeit: Ja, im Jahr 1940 entscheidet man sich nicht zu kämpfen, um ein Blutbad zu verhindern. Es kommt aber dann zu einem Blutbad, zu Blutbädern, nämlich als die Operation Barbarossa gestartet wird und die Wehrmacht, der Nationalsozialismus marschiert in Litauen ein. Wie war der Zweite Weltkrieg aus litauischer Perspektive? 

Tauber: Litauen hat sich wie die anderen baltischen Staaten neutral erklärt. Im September 1939 wurde das durch den Hitler-Stalin dann aufgehoben und für die Litauer beginnt der Zweite Weltkrieg auch eigentlich am 1. September oder spätestens dann mit den exterritorialen Basen der Roten Armee im Oktober. Die Sowjets führen auch bereits Deportationen durch. Das, was wir als Sowjetisierung kennen. Sie zerschlagen die komplette litauische Gesellschaftsstruktur. Klassenfeinde sind alle diejenigen, die dem alten Regime gedient haben, als Lehrer oder Verwaltung. Und es kommt zu den ersten Deportationen. Rund 20.000 Menschen werden öffentlich gefangen gesetzt, die Familien mit und werden dann in Güterwagon ins Innere der Sowjetunion deportiert. Und das ist im Juni 1941 wenige Tage vor dem deutschen Angriff, den Angriff der Wehrmacht auf Litauen. Die Wehrmacht überrennt Litauen innerhalb von vier Tagen und sie wird als Befreier willkommen geheißen – vor diesem Hintergrund, es gibt auch einen spontanen Aufstand von litauischen Freischärlern gegen die Sowjetmacht. Was die Wehrmacht mitbringt und das wissen wir alle, ist natürlich der Antisemitismus, der Judenhass. Es kommt von den ersten Tagen an zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung in den großen Städten. Es gibt auch eine litauische Beteiligung und dann übernimmt Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei, also Heidrichs-Schergen und da das Einsatzkommando 3 in Litauen und die Herrschaft und es findet ein Blutbad ungeahnten Ausmaßes statt. Sie müssen sich das so vorstellen, dass das zentral von Kaunas ausgesteuert wird mit Erschießungskommandos, die einen großen Anteil von litauischen Mördern vor Ort haben und die Juden werden zerniert und werden dann in ganz Litauen zu vorher ausgekundschafteten Massengräbern geführt und werden dort also zu 100.000 erschossen. Wir wissen deswegen davon, weil das Einsatzkommando 3 unter ihrem SSSchutzstaffel-Führer Jäger einen Bericht, den sogenannten Jägerbericht gemacht hat von 3. Dezember, da ist exakt vermerkt, an welchem Ort wie viele Männer, Frauen und Kinder erschossen wurden. Die Eskalation findet im August statt, im September und Oktober sind das unglaubliche Zahlen. Und wie in einer Buchhalterliste kommt dann am Ende raus 109.000 Frauen, Kinder und Männer wurden in Litauen und an den angrenzenden Gebieten erschossen. Erschossen, weil sie Juden waren. Die Restlichen werden dann in Ghettos gebracht. Es gibt drei große Ghettos in Vilnius, in Kaunas und in Siauliai. Dort findet dann so etwas wie Alltag im Ghetto statt. Die litauische Bevölkerung, vor allem in Vilnius ist das Ghetto in der Altstadt, also die litauische Bevölkerung wusste natürlich, was mit den Juden geschehen ist. Eine Aufarbeitung der litauischen Kollaboration erst ab 1990. Sie ist vielschichtig. Sie variiert auch vom Zeitpunkt bis zur Art der Kollaboration. Die Direkttäter sind in den litauischen Polizeieinheiten, aber es geht halt weit darüber hinaus und das Entsetzliche ist, dass eigentlich in der Zwischenkriegszeit in Litauen im Gegensatz zu Polen kein Antisemitismus spürbar ist. Aber der offensichtlich ist diese Enthemmung von Gewalt, die diese Gesellschaft ab Juni 1940 erlebt, verbunden mit der antisemitischen Propaganda und dem anti-jüdischen Duktus, teilweise auch der Kirche, führt wohl zu einer völligen Fragmentierung der Gesellschaft und zu einer Gewaltbereitschaft bzw. in den meisten Fällen einfach von Hinnahme von litauischer Seite. Das ist im letzten, in den letzten Jahren, einfach nicht ganz gut aufgearbeitet. Man muss aber immer wieder betonen, ohne die deutsche Initiative, ohne die deutschen Vernichtungswillen und ohne den deutschen Holocaust-Gedanken wäre das alles nicht geschehen. 

Gutzeit: Die Judenverfolgung, diese schrecklichen Verbrechen an den Juden nimmt ein Ende mit dem Kriegsverlauf. Es kommt dann wiederum zu einem Wechsel der Besatzungsmacht. Litauen gehörte zum Reichskommissariat Ostland. Aus diesem Reichskommissariat wird dann in Litauen wieder eine sozialistische Sowjetrepublik. Wie ging es dann nach der Rückeroberung der Roten Armee mit Litauen weiter? 

Tauber: Also es bleibt blutig. Das muss man einfach so sagen. Zwei Dinge sind wichtig. Dieses Mal wird die Sowjetmacht nicht kampflos hingenommen. Es gibt die sogenannten Waldbrüder. Das sind also litauische nationale Partisanen, die bis Anfang der 50er Jahre der Roten Armee bitteren militärischen Widerstand leisten. Es ist, wie Sie sich vorstellen können, von Anfang an ein Krieg ohne Gnade, ein dreckiger Krieg von allen Seiten. Die Partisanen überfallen sowjetische Musterdörfer. Die Sowjets haben spezielle Vernichtungseinheiten und stellen die erschossenen Partisanen in den Dörfern aus, um abzuschrecken. Für die Dorfbewohner war es immer schwierig. Sie mussten praktisch beiden Seiten dann auch helfen, wobei eben die Partisanen die Hilfe bekommen haben und die Sowjets das erzwungen haben. Heute, damals war natürlich von Banditen die Rede. Heute sind natürlich die Partisanen litauische Freiheitshelden, was sie zum Teil auch waren. Da ist gar kein Zweifel dran, aber es gibt auch einige Biografien, die gleichzeitig während der nationalsozialistischen Besatzung im Umfeld der Jugendvernichtung eine Rolle gespielt haben. Aber der Großteil der Partisanen waren in der Tat Freiheitskämpfer. Übrigens ganz interessant, weil man hier auch bei der Bundeswehr sind. Auch Wehrmachtssoldaten haben sich teilweise in diesen Kämpfen beteiligt. Die Heeresgruppe Mitte wurde im Juni 1944 zerschlagen und viele deutsche Soldaten haben probiert nach Westen sich in einen kleinen Gruppen durchzuschlagen und viele oder einige von diesen Soldaten sind in den Wäldern Litauens auf die litauischen Partisanen gestoßen, haben sich denen angeschlossen. Die, wenn von den Sowjets erwischt wurden, wurden die sofort erschossen. Es gibt auch bis heute, ich habe mal mit einer Kollegin probiert, ob wir irgendwelche Überlebenden oder Erinnerungen oder was haben gibt. Das ist also praktisch nichts, von der die gleich liquidiert. Das Schicksal der Partisanen war unterschiedlich. Auch die wurden natürlich, natürlich muss ich sagen im Stalinismus gefoltert. Teilweise haben sie überlebt, wurden deportiert, teilweise wurden sie auch hingerichtet. Es gab auch immer wieder Versuche der Sowjetmacht mit Amnestien und so weiter die Partisanen aus den Wäldern herauszulocken, was aber nur sehr spärlich geschehen ist. 

Gutzeit: Sie haben schon Deportationen angesprochen, kam es im Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg auch zu weiteren großen Deportationen von der Zivilbevölkerung Litauens? 

Tauber: Also wir haben die Zahlen nach 1990. Hier haben die litauischen Kollegen die Zahlen festgemacht. Ich kann Ihnen jetzt ungefähr noch sagen, es sind wohl zumindest 150.000 Menschen aus Litauen. Ich sage bewusst Menschen aus Litauen. Das kann auch noch überlebende Juden oder polnisch-sprachige oder russisch-sprachige Minderheiten betreffen. Es sind über 150.000 Menschen aus Litauen nach Sibirien deportiert worden. Dazu kommen 150.000 die auch im Gulagsystem verschwanden. Wir haben also allein außerhalb Litauens 290.000 Opfer der stalinistischen Herrschaft hinzukommen, die die in Litauen wie der Fachausdruck heißt repressiert wurden. Also in Gefängnisse eingesperrt, Berufsverbote und ähnliches. Sie müssen sich diese Zahlen vor Augen halten, indem sie die Gesamtbevölkerung Litauens in dieser Phase sehen, das waren ungefähr 3 Millionen und davon sind 300.000 in die Fänge der Sowjetmacht gefallen. Von daher ist es völlig richtig, wie ein Kollege mal gesagt hat, dass sind die Killing Fields in den zehn Jahren. Zwischen 1940 und 1950 sind so viele Menschen auf den litauischen Boden ermordet worden, wie davor hier noch in der Geschichte.

Gutzeit: Wenn wir jetzt mal einen großen Sprung machen in der sowjetischen Geschichte Litauens von Stalin zu Gorbatschow, dann möchte ich weiter über den Willen zur Unabhängigkeit und zur Freiheit sprechen. Es kam dann Ende der 80er unter den Eindrücken von Glasnost und Perestroika zur singenden Revolution im Baltikum und auch in Litauen und auch zum baltischen Weg. Wie sah das in Litauen aus? 

Tauber: Also in Litauen ist es anders, singende Revolutionen gab es nicht so stark wie in den anderen Ländern. Singende Revolution hat mit der eigenständigen Kultur der baltischen Völker zu tun, wir haben ja schon darüber gesprochen, in die Landbevölkerung abgedrängt, also aus Karl May kennen wir den edlen Wilden und ein ähnliches Bild galt für die mittelalterliche Bevölkerung im Baltikum, das waren also der Natur verbundene Bauern, die eben auch gerne sangen. Daher sind diese Sängerfeste, wo also im Endeffekt litauische Folksongs, Folklore gesungen wurde, zu einem politischen Statement. In Litauen war das nicht so der Fall, das war auch keine friedliche Revolution, es war eine blutige Revolution. Entscheidend ist, in Litauen war Gorbatschow nie beliebt, er wurde immer als sowjetischer Generalsekretär identifiziert, aber Perestroika und Glasnost hat im Baltikum und auch in Litauen die Schleusen geöffnet. Es gründet sich in Litauen, Lettland und Estland ähnlich aber später, eine Bewegung für die Umsetzung von Glasnost und Perestroika. Sajudis, Sajudis heißt erst mal nur Bewegung. Die wird gegründet von Mitgliedern der Kommunistischen Partei und akademischen Hochschullehrern also Intellektuellen und Parteikadern. Und jetzt geschieht das, was wir damals im Westen überhaupt nicht verstanden haben, weil wir ja glaubten, der Homo sovieticus es gäbe keine Nationalgefühle mehr. Und jetzt geschieht das, was bis heute, also aus heutiger Sicht völlig (undeutlich) ist, aber damals irgendwie schon auch eine Sensation im Westen war, innerhalb von wenigen Wochen wird Sajudis zur Nationalbewegung und manchmal rächt sich Geschichte. Und der Kristallisationspunkt für die Unabhängigkeit und für die Nationalbewegung ist eben dieser schändliche, schmäliche Hitler-Stalin-Pakt mit dem geheimen Zusatzprotokoll, den die Sowjetunion nie anerkannt hat. Und das ist der Kristallisationspunkt, der erstens die drei Balten zusammenschweißt und am 23. August dem Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, schon 1987 erste Menschenmenge in Vilnius auf die Straße bringt und dann 1988 und 89 zu einem ganz großen Zion wird. Sie haben das erwähnt, die Via Baltica, das ist heute ein Mythos, aber ein richtiger, guter Mythos. Damals haben sich die Führer der drei Unabhängigkeitsbewegungen überlegt, wir müssten am 23. August etwas Besonderes machen. Wir müssten am 23. August etwas Besonderes machen und man kommt auf die Idee, eine Menschenkette von Tallinn, Estland über Riga, Lettland nach Vilnius, Litauen zu machen und um 18 Uhr, diesen 23. August, eine Viertelstunde sollen sich die Menschen an die Hände fassen und schweigen der Vergewaltigung ihrer drei Staaten gedenken. Und es sind Millionen. Es sind Millionen, die auf den Straßen sind und es ist bis heute das große Symbol gegen die Sowjetmacht und für die Freiheit und Eigenständigkeit der drei baltischen Staaten. 

Gutzeit: Und dieser baltische Weg führt dann in Litauen zu ersten freien Wahlen? 

Tauber: Ja, führt er und zwar eigentlich relativ schnell danach. Es sind eigentlich, also das hören die Litauer nicht gerne, aber es sind eigentlich noch die Wahlen zum Obersten Sowjet. Aber es sind freie Wahlen und das Sajudis gewinnt die absolute Mehrheit. Aber es gibt auch Abgeordnete der bereits gewendeten kommunistischen Partei im Parlament und es ist ein offenes Geheimnis, das Parlament tritt dann im März 1990 zusammen und es gibt noch einen Tagesordnungspunkt über das das Parlament berät und das ist die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens. Einstimmig alle 41 Abgeordneten stimmen für diese Restitutionsakte. Das Original ist, wenn Sie das finden Sie auch im Internet oder was, es ist auf Schreibmaschine getippt. Also es zeigt noch mal so die Improvisation. Da steht eigentlich nur drin, dass der litauische Staat der 1940 Manu-Militari, also mit Okkupation an seiner Weiterexistenz gehindert wurde, jetzt wieder existiert. Also es ist insofern kein neuer Staat, sondern es wird bewusst auf diese Republik der Zwischenkriegszeit Bezug genommen, um damit auch die ganze Zeit zwischen 1940 und 1990 völkerrechtlich als Okkupation zu brandmarken. Und dann reagiert die Sowjetunion und deshalb ist Gorbatschow auch so unbeliebt. Gorbatschow erkennt es nicht an, der Westen erkennt es auch nicht an bis auf das kleine Island und es kommt zu einer Schwebesituation, in dem die Sowjetunion die kleine baltische Republik mit Wirtschaftssanktionen Absperren von der Energieversorgung, zu disziplinieren versucht. Man gibt dann auch ein bisschen nach, willigt auch auf sehr starken und nicht sehr baltenfreundlichen Druck aus Paris und Berlin nach und suspendiert erst mal die Unabhängigkeitserklärung. Aber dann kommt es eben im Januar 1991 zum Blutbad in Vilnius. Es ist eine Spezialeinheit des russischen Innenministeriums OMON. Die Bahnhöfe und Flugplätze von Vilnius sind schon gesperrt durch diese OMON-Truppen und ums Parlament herum stehen unbewaffnete litauische Bürger, um ihr Parlament zu schützen und da stürmen die OMON den Fernsehturm und versucht das Parlament zu stürmen und dabei gern 13. Tower darunter eine 19-jährige ermordet oder von Panzern überrollt. Das Ergebnis ist, dass ganz Litauen bei der Beerdigung in Vilnius ist und dass wo ich besonderen Wert drauf lege der friedliche Widerstand gegen die Sowjetmacht noch einmal einen Push erhält. Keinem einzigen Rotarmisten ist in Litauen auch nur ein Haar gekrümmt worden, auch nach diesem Blutbad. 

Gutzeit: Ja und auch dieses Einschreiten, dieses gewaltvolle Einschreiten Moskau kann Litauen nicht aufhalten, wieder eine unabhängige freie demokratische Republik im Jahr 1991 zu werden. Wie geht es mit Litauen weiter als freie Republik?

Tauber: Es gibt ein großes oder es gibt zwei große politische Ziele, Litauen und zwar alle Parteien über alle Grenzen hinweg verfolgen und das ist der sogenannte Weg nach Westen. Der Weg nach Westen impliziert Mitglied der EU zu werden und Mitglied der NATO zu werden. 

Gutzeit: Jetzt sind wir schon im Jahr 2004. 

Tauber: Ja, aber der Weg ist Dornig und vor allem die 90er Jahre sind gekennzeichnet durch große und schwierige soziale Umbrüche. Also das Land und vor allem die Menschen haben schwer zu leiden. Sie dürfen nicht vergessen, es ist eine sozialistische Planwirtschaft, die Litauen zum Beispiel (undeutlich) Farbfernseher für die ganze Union produziert. Aber eben andere Industriezweige waren völlig weg und man fährt ja einen Crashkurs. Man geht ja aus dieser Planwirtschaft mehr oder weniger, Knall auf Fall heraus und führt ein kapitalistisches System der freien Marktwirtschaft ein. Die großen Verlierer ist eigentlich die ältere Generation so ab 50. Das sind einerseits die Rentner, denn natürlich explodieren die Mieten, die Lebenserhaltungskosten in den Städten gehen massiv hoch. Gott sei Dank gibt es in Litauen immer noch viele verwandtschaftliche Beziehungen aufs Dorf, sodass wir auch eine Stadt-Dorf-Bewegung in diesen Jahren feststellen können, wo die Menschen eben einfacher verpflegt werden können und die Generation ab 50, die also völlig in der Sowjetunion aufgewachsen ist, die hat auch nicht mehr die Kraft und die mentale Spannkraft sich auf dieses neue System, das wie wir alle wissen, mehr Eigenverantwortung fordert, einzustellen. Aber die junge Generation, die schafft es. Und da hilft Litauen erstens der gute Bildungsstandard, zweitens die Verbindung von Demokratie und Freiheitskampf. Sie dürfen das nie vergessen, die Demokratie ist legitimiert durch den Kampf um die Unabhängigkeit. Eine stärkere Legitimation für das derzeitige Staatssystem kann es nicht geben. Und dann ab Ende der 90er Jahre ist ja dann die Rubelkrise noch, also nachdem da alles nach unten gegangen ist, dann geht es aufwärts und die baltischen Staaten haben ja auch ein Wachstum in den letzten Jahrzehnten hingelegt und jeder kann sehen, wie positiv diese neue gesellschaftliche Ordnung ist und die junge Generation ist ganz Europa auch aktiv. Und ich glaube schon, dass die litauische Gesellschaft sehr viel Eigeninitiative bewiesen hat und Kraft bewiesen hat in den 90er Jahren und das jetzt seit einigen Jahren sozusagen auch die Früchte für die jüngere Generation geerntet werden. 

Gutzeit: Ich denke auch, also wenn man diesen Weg, diesen litauischen Weg im baltischen Weg mitverfolgt, dann von der Mitgliedschaft NATO EU 2004 auch zur Einführung des Euros 2015 und dann beginnt die Bundeswehr 2017 ihre Präsenz im Rahmen von Enhanced Forward Presence in dem Land. Jetzt stehen wir vor einer Brigade der Bundeswehr in Litauen. Wie sehen Sie den weiteren Weg Litauens in Europa, in der Welt, wenn wir mal in die Zukunft blicken?

Tauber: Naja, ich hätte bis 2014, hätte ich das völlig positiv geschildert, nach 2014 hätte ich gesagt, okay, was ich eigentlich immer auch seit 2014 gesagt habe, und auch vorher. Russland ist ein schwieriger Nachbar. Auch mit der Narration, die damals schon war, aus russischer Sicht sind die drei baltischen Staaten nahes Ausland. Inzwischen ist es so, dass die Narrative in Russland auch wieder so sind, dass 1940 natürlich keine Okkupation stattgefunden hat, sondern dass die baltischen Staaten freiwillig in einer Revolution sich für die Sowjetunion entschieden haben. Also da ist die Situation relativ schwierig geworden. Ich glaube für Litauen und das ganze Baltikum ist es ungeheuer wichtig jetzt in der EU auch mit dem Euro und in der NATO zu sein. Andererseits ist die außenpolitische Lage für die drei baltischen Staaten sehr, sehr bedrohlich. Man muss es so sagen, der Neoimperialismus von Putins Regime ist mit hinten zu greifen. Und ich habe letztes Jahr in der Neuen Züricher Zeitung eine Umfrage, ob die Balten denn der NATO trauen, dass die NATO für sie kämpfen würde. Und da haben sich 60% der befragten Litauer negativ geäußert. Also sie glauben nicht, dass die NATO für die baltischen Staaten einen militärischen Konflikt mit Russland nach Lage der Dinge kann es ja nur Russland sein, auf sich nehmen würde. Das ist natürlich schlecht und schwierig und es ist ganz, ganz wichtig, glaube ich auch, dass eben das Bundeswehrkontingent in Rukla ist und dass das ausgebaut wird. Weil das muss einfach die Mentalität, muss den Balten die Sicherheit geben, dass ihre Sicherheit im Westen gewährleistet ist und damit auch ihr Staatssystem und ihre Republik gewährleistet ist. Übrigens zählen die drei Balten, wenn sie das Bruttoinlandsprodukt der Staaten nehmen, zu den größten Unterstützern der Ukraine im bilateralen Bereich und was auch sehr wichtig ist, als der Angriff auf die Ukraine begann, gab es das erste Mal seit dem baltischen Weg wieder eine Menschenkette an die Grenze nach Weißrussland, Belarus, und dort fassten sich die Menschen auch wieder die Litauer an den Händen und es gab Fahnen nun auf den stand zu lesen „Für eure und unsere Freiheit“. Deutlicher kann man das nicht evozieren, was für die Litauer da auch auf dem Spiel steht. 

Gutzeit: Ich denke, das ist der entscheidende Satz, der an diesen entscheidenden Wert unsere Freiheit und deren Freiheit ist eine gemeinsame Freiheit appelliert. Damit möchte ich Ihnen auch sehr herzlich danken, Herr Professor, für unsere Podcast-Folge, für Ihre Zeit. Herzlichen Dank. 

Tauber: Ich habe zu danken. Vielen herzlichen Dank. 

Gutzeit: Meine Damen und Herren, auch herzlichen Dank an Sie für Ihre Aufmerksamkeit. Sie können diese Podcast-Folge auch im Litauen-Dossier des ZMSBW hören. Dort lesen Sie auch weitere interessante Artikel zur Geschichte und Gegenwart dieses kleinen, faszinierenden Landes. Herzlichen Dank.

„Dieses Transkript wurde automatisiert erstellt und nicht redaktionell bearbeitet.“ 

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