Zugehört 74- Transkript

Zugehört 74- Transkript

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Lesedauer:
25 MIN

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Major Michael Gutzeit

Guten Tag, sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Zugehört“. Heute geht es um die aktuelle Lage in der Ukraine. Zu Gast bei mir im Studio ist Herr Oberst Doktor Markus Reisner. Er ist österreichischer Generalsstabsoffizier des Bundesheeres und ausgewiesener Experte im Ukrainekrieg. Herzlich willkommen Herr Oberst. 

Oberst Dr. Markus Reisner

Guten Tag, danke für die herzliche Vorstellung und es freut mich, dass ich hier sein darf. 

Michael Gutzeit

Herr Oberst, wir leben in spannenden Zeiten. Donald Trump wird wieder Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. In Deutschland wird neu gewählt werden. Aber für uns spannende Zeiten, für die Ukraine schreckliche Zeiten. Derzeit ist fast ein Viertel der Ukraine durch Russland besetzt. Russlands Militär ist im Donbass auf den Vormarsch, so der Spiegel. Insbesondere im Donbass steht das ukrainische Militär im Begriff, den Krieg zu verlieren. Auch Generalinspekteur der Bundeswehr, General Breuer, sagte vor Kurzem in der FAZ, die Zeit spricht für Russland. Geht der Ukraine der Atem aus? Wie ist die Lage aktuell auf dem Schlachtfeld? 

Markus Reisner

Ja, wir müssen den Konflikt natürlich aus der Genese heraus betrachten. Und wir fallen natürlich in Sorge, dass in den letzten zweieinhalb Jahren faktisch dieser Krieg, der zwar am Beginn sehr erfolgreich von der Ukraine geführt worden ist, immer mehr zu einem Abnutzungskrieg geworden ist. Nach meiner Zählart haben wir insgesamt sieben Phasen dieses Krieges. Wir befinden uns jetzt in der zweiten russischen Sommeroffensive, die am 10. Mai diesen Jahres begonnen hat. Und man konnte gut erkennen, dass die russischen Streitkräfte mit einer Reihe von Fähigkeiten ausgestattet, dieses Sommeroffensive begonnen haben und tatsächlich über die Monate es geschafft haben, immer mehr das Momentum für sich zu gewinnen. Das sehen wir jetzt auch gerade an der Front, vor allem im Donbass, wo wir erkennen können, dass die Russen im Schnitt zwischen zwei, manchmal sogar bis zu fünf Kilometer langsam vormarschieren, Stück für Stück aus dem Verteidigungsdispositiv der Ukraine herausbrechen. Und das bedeutet natürlich, wenn die Ukraine hier nicht entgegenhalten kann, dass schlussendlich dieser Vormarsch nicht gestoppt werden kann und möglicherweise es auch zu einem sogenannten operativen Durchbruch kommt, der dazu führt, dass Russland weiter vorstößende Tiefe des Landes im schlimmsten Fall sogar bis zum Dnipro. 

Michael Gutzeit

Also was passiert denn, wenn Russland seine mächtigste Offensive seit Kriegsbeginn fortführt und die Ukraine mit den verfügbaren Kräften nicht die eigenen Verteidigungslinien halten kann und Russland bricht durch? Was steht uns und der Ukraine dann bevor? 

Markus Reisner

Ja, was passieren wird, wird von einer Reihe von Faktoren abhängen. Es gibt da im Militär den Begriff, des sogenannten Center of Gravity und das ist aus meiner Sicht für die Ukraine vor allem die Unterstützung des Westens mit Waffen, Munition und Ausrüstung. Aber natürlich aus ukrainischer Sicht auch die Verfügbarkeit von Soldaten, die man braucht, um sich hier in Russland etwas entgegensetzen zu können. Und wenn es nicht gelingt, diese Center of Gravity von Seiten des Westens der Ukraine weiter aufrecht zu halten und unterstützen und zu nähren, so wird es sehr schwierig werden für die Ukraine tatsächlich entgegenhalten zu können. Und das kann passieren, dass es den Russen tatsächlich gelingt, diesen Krieg jetzt entscheidet für sich zu verändern, in einem entsprechend Durchstoßen in Richtung des Dnipros und der Signifikanten im Besitznahme von Gebieten, die die Ukraine so und aus eigener Kraft nicht mehr zurückerobern kann. 

Michael Gutzeit

Wenn wir uns die Lage an der Front anschauen, die ukrainische Stadt Wowtschanzk ist völlig zerstört und die Reihe der bodengleichen Städte wird immer länger. Aktuell ist der Hotspot Pokrowsk, denn, Russland bildet dort einen Kessel, um die ukrainischen Streitkräfte zu umschließen. Warum ist diese Stadt so wichtig?

Markus Reisner

Also müssen wir ganz kurz für den Zuhörer etwas detaillierter werden. Wir haben praktisch drei Abschnitte dieser 1300 km langen Front. Wir haben eine lange Front von fast 1000 km, welche im Süden beginnt in Cherson, sich dann hinaufzieht in einem Halbbogen bis nach Kupiansk. Das ist auch der Raum, wo sich die Stadt Pokrowsk befindet, die sie gerade angesprochen haben. Und wir haben noch zwei Abschnitte von jeweils zwischen 100 und 150 km einmal im Raum Charkiw. Dort befindet sich auch die von Ihnen genannte Stadt Wowtschanzk, die fast zu Gänze dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Dort haben die Russen versucht, vor dem Beginn der Sommeroffensive anzugreifen, um die ukrainischen Streitkräfte aus ihren Stellungen im Donbass herauszulocken. Und wir dürfen nicht vergessen, dasselbe hat die Ukraine versucht, weil sie kurz vor dem Kombinationsbruch der russischen Angriffe im Donbass im Raum Kursk, wo wir es auch noch einmal ca. 100 bis 150 km haben. Gehen wir kurz in das Zentrum des Donbass, wo die Russen mit drei operativen Manövergruppen im Angriff sich befinden, grob im Raum Pokrowsk. Der Kessel droht nicht unmittelbar bei Pokrowsk, sondern südlich davon, im Raum Kurachowe, wo es den Russen gelungen ist, vor allem im Süden, nach dem Besitznahme der Stadt Ugledar, was sie weiter vorzustoßen und wo möglicherweise dieser Kessel auch tatsächlich geschlossen wird. Wenn wir das Gelände uns ein bisschen in Detail ansehen, so kann man erkennen, dass gerade dort, in den letzten Jahren vor Kriegsbeginn, es zu massiven Ausbaumaßnahmen der ukrainischen Seite gekommen ist und hat versucht, ich generalisiere und vereinfache das ein wenig, faktisch drei Verteidigungslinien anzulegen. Und die Russen haben es jetzt nach zweieinhalb Jahre geschafft, durch die erste Linie durchzubrechen, an mehreren Stellen und kämpfen bereits in der zweiten Linie und sind bei Pokrowsk kurz vor dem Durchbruch dieser zweite Linie in Richtung der dritten Linie. Und Pokrowsk ist ein wichtiger Stützpunkt dieser dritten Linie, aber gleichzeitig auch ein wichtiger Versorgungsstützpunkt der ersten und zweiten Linie. Sollte es gelingen, tatsächlich auch Pokrowsk im Besitz zu nehmen, dann kann dieser operative Durchbruch passieren, denn hinter Pokrowsk bis zum Dnipro befinden sich eigentlich kaum Verteidigungsstellungen und das ist das Dilemma, das die Ukraine hat, dass es hier nicht durchgängige Stellungen hat, sondern eben diese drei Stellungen, die sie selbst ausgebaut hat, verfügbar hat, aber eben nicht mehr in der Tiefe. 

Michael Gutzeit

Ich glaube, man nennt das auch, wenn Russland die Linien durchbrochen hat und sich dann ausbereitet, die russische Blume beginnt zu blühen. Wenn wir auf die andere Seite schauen, wie ist es denn zum Beispiel in der Region Kursk, Sie hatten es angesprochen, beginnt da eine ukrainische Blume zu blühen, war es eine gelungene Angriffsoperation oder nur ein Laubfeuer, weil die ukrainischen Streitkräfte dort auch unter Druck stehen oder auf dem Rückzug sind? 

Markus Reisner

Ja, das muss man ein bisschen aus der Genese dieses Konflikts verstehen und auch des Verlaufs des Krieges in den letzten Monaten. Dieser Begriff, die Blume beginnt zu blühen, das kommt tatsächlich aus dem russischen Militärsprachgebrauch und hat sich in ein paar Fällen bereits so zugetragen. Wir haben das so gesehen am 6. Mai, bereits 2022 bei Propasna, heute schon vergessen, wo es dann zur Kesselschlacht von Lysychansk und Sjewerodonezk gekommen ist. Wir haben das auch im Weiterfolge gesehen bei Soledar. Die meisten haben diesen Ortsnamen schon vergessen, aber das war dann der Durchbruch, quasi der zur Einnahme von Bachmut geführt hat. Und wir haben das gesehen bei Otscheretyne. Das war also dann der Auslöser, faktisch für, im Prinzip den weiteren Vorstoß der Russen Richtung Pokrowsk. Diese Blumen haben deswegen zu blühen begonnen, weil die russischen Streitkräfte entweder an den Nahtstellen von ukrainischen Brigaden angegriffen haben oder gerade im Moment des Wechselns der Brigaden untereinander diese Situation genützt haben. Darum ist es zu diesen Durchbrüchen gekommen und die Ukraine hat sehr hohe Probleme, diese Situationen wieder zu bereinigen. Zum Teil ist es gelungen, zum Teil oder auch nicht. Und was wir jetzt sehen ist, dass diese drei Frontabschnitte, die sie genannt haben, zusammenhängen. Also wir haben diese lange Front im Donbass, aber wir haben auch die kürzeren Fronten in Charkiw und in Kursk, die entstanden sind aus der operativen Idee beider Seiten. Einerseits der Angriff bei Charkiw, nicht mit dem Ziele die Stadt einzunehmen, sondern die ukrainischen Kräfte zu zwingen, aus dem Donbass Kräfte zu verlegen, in der Abwehr dieser Angriff für den Russen bei Charkiw. Und dann in weiteren Folgen nachdem der Druck in Donbass so groß geworden ist, dass die Ukraine reagieren musste. Der ukrainische Versuch durch einen Angriff bei Kursk, genau das gleiche zu tun, nämlich die russischen Streitkräfte zu zwingen, ihre Kräfte aus den Stellungen zu holen, Stichwort Schwergewicht Pokrowsk und nach Kursk zu verlegen. Es ist so, dass in beiden Fällen die gegenüberliegenden Parteien diese Köder nicht geschluckt haben. Es ist zwar so gewesen, dass die Ukraine Kräfte nach Charkiw geschickt hat, aber es waren genügend Kräfte verfügbar, die die Russen im Raum Donbass aufhalten konnten. Und es war so, dass wie die Ukrainer in Kursk angegriffen haben, auch die Russen diesen Köder nicht geschluckt haben, sondern sie haben aus der Kräftegruppierung Seward nördlich vom Charkiw Kräfte verlegt in den Raum Kursk. Das heißt aber auch, dass die Situation nach wie vor sich zum Ungunsten der Ukraine darstellt in Donbass, denn Russland hat es geschafft, wieder letzten Monat, die signifikanten Mehrkräfte aufzustellen als die ukrainische Seite. Der ukrainische Generalstab geht davon aus, dass im Moment circa 640 bis 650.000 Mann sich im Angriff befinden, entlang dieser 1300 Kilometer zugegebenermaßen, aber vor allem diese drei Kräftegruppierungen zentral in Donbass Richtung Pokrowsk, während die Ukraine große Herausforderungen hat, Kräfte aufzustellen. Und sie haben vielleicht mitbekommen, die große Frage, ob es ihnen gelingt, nochmal 160.000 Soldaten zu mobilisieren, die man dringend an der Front braucht. Das heißt, es ist sogar so, dass im Moment es gar nicht so sehr an den Waffen oder Ausrüstern und am Gerät hängt in dieser Verteidigungsoperation, sondern vor allem an der Verfügbarkeit von Soldaten. 

Michael Gutzeit

Parallel zur herausfordernden Situation an der Front gerät die Ukraine im Hinterland unter Druck, denn Russland intensiviert seine Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur. Wenn wir an die Bevölkerung denken, glauben Sie, die Bevölkerung kann diesen dritten Kriegswinter überstehen? 

Markus Reisner

Ja, dazu müssen wir auch ganz kurz einordnen, was hier geschieht. Und ich glaube, es lohnt sich also hier wieder, der militärischen Form zu folgen und die Unterscheidung zwischen strategischer, operativer und taktischer Ebene durchzuführen. Was jetzt besprochen haben, sind vor allem Ereignisse auf taktische Ebene, also wenn es um den Kampf um einzelne Städte oder jenes geht, bzw. operative Ebene im Zusammenhang zu sehen, die Angriffe basiert beider Seiten Kursk, Charkiw und so weiter und so fort. Was wir jetzt ansprechen, ist aber ein strategisches Dilemma und das besteht darin, dass ein Land wie die Ukraine eine militärische industrielle Basis braucht, um in den langen Krieg führen zu können. Und das steht in Gefahr. Denn Russland mittlerweile, seit mehreren Jahren greift die kritische Infrastruktur des Landes an durch den Einsatz von aus schweren Bombern abgefeuerten Marschflugkörpern, aber auch ballistischen Raketen und vor allem iranischen Drohnen vom Typ Shahed-136, 131 von der Russen Geran Zwo genannt und auch selbst gefertigt. Und das zermürbt das ukrainische Luftverteidigungsdispositiv, dass ja im Anbetracht der Größe des Landes zu gering ausgestaltet ist, trotz der massiven Lieferungen des Westens. Und es führt dazu, dass ca. 80 Prozent der kritischen Infrastruktur, und ich zitiere jetzt die ukrainischen Zahlen, zerstört oder zumindest beschädigt sind. Das heißt, wir haben jetzt die Situation, dass den Ukrainern im kommenden Winter täglich Stromabschaltungen ins Haus stehen von 8, 10 bis zu 12 Stunden. Und die Frage, die sich hier stellt, ob sich nicht die Bevölkerung, die zugegebenermaßen eine Weitleidensfähigere ist, als das wir in unseren Maßstäben im Westen, in der Lage ist, auch diesen Winter zu überstehen. Darum auch die Sorge, vor allem der verbündeten der Ukraine und hier der USAUnited States of America, ob denn tatsächlich die Ressourcen auch ausreichen auch für diesen Winter. Wenn wir es sehen, inwieweit die Ukraine in der Lage ist, sich hier vorzubereiten, und sie dem Hintergrund, dass es auch einige Hilfslieferungen in diese Richtung bereits gegangen sind, das ging ja sogar nicht so sehr um Waffen, Munition, Ausrüstung zu liefern, sondern um Stromaggregate zu liefern, Reparaturelemente, die man braucht, um also Stromversorgung herzustellen zu können. Die Frage ist, reicht das aus? Denn was man erkennen kann, ist, dass Russland die strategische Luftkriegsführung sogar noch intensiviert hat. Man sieht, dass es sehr gut am Einsatz der iranischen Drohnen, die vor allem dazu dienen, die russische Luftabwehr zu übersättigen. Wir hatten hier einen Anstieg der massiv war in den letzten Monaten, alleine letzten Monat, im Oktober 1900 einfliegende Drohnen. Davor circa 1300 im September und im August knapp 600. Das heißt, sie sehen hier diese massive Steigerung. Es gelingt zwar immer noch, circa 60 bis 70 Prozent dieser Drohnen abzuschießen, aber der Rest trifft zum Teil ihr Ziel, bzw. natürlich folgen dann oft Marschflugkörper und ballistische Raketen, die ebenfalls ihre Ziele treffen, und das führt zu diesem unerträglichen Zustand für die ukrainische Seite. 

Michael Gutzeit

Ich möchte auch über die ukrainischen Angriffe auf russische Infrastruktur sprechen, denn wir haben gesehen, ukrainische Drohnen haben zum Beispiel russische Munitionsdepots, zum Beispiel in Toropez angegriffen und zerstört. Und in den Medien sehen wir auch, dass Russland andere Depots, zum Beispiel von alten Panzerwaffen leert. Die Satellitenbilder zeigen, die Bestände werden immer kleiner, all das russisches Gerät wird an die Front transportiert. Kann man da auch ablesen, dass Russland bald der Atem ausgehen wird?

Markus Reisner

Ja, wir haben jetzt hier zwei Aspekte. Das eine sind also die ukrainischen Angriffe in der Tiefe Russlands hinein und das andere sind also quasi die Ressourcen, die Russland zur Verfügung stehen und diesen Krieg weiterführen zu können. Versuchen wir beide uns ganz kurz anzusehen. Beginnen wir mit den ukrainischen Angriffen auf russische Ziele in der Tiefe Russlands. Das ist natürlich einträchtig der Versuch, die strategische Luftkriegsspirale der Russen ebenfalls zu beantworten durch den Einsatz, weil eine eigene Luftwaffe nicht verfügbar ist, von weitreichenden Drohnen, aber auch zum Teil Marschflugkörpern oder ähnlichen Systemen, beziehungsweise auch der Ruf der Ukraine nach weiterhin Waffensystemen, um diese Dinge zu tun. Wir sehen, dass man also hier durchaus erfolgreich ist. Sie haben schon genannt diesen Angriff auf das Munitionslager von Toropez am 18. September, wo man annimmt, dass 30.000 Tonnen Munition in die Luft gegangen sind, 30 Kilotonnen faktisch und nur zum Vergleich Hiroshima, die Kraft der Atombombe waren 16 Kilotonnen, Nagasaki 22 Kilotonnen. Also nur um eine Idee zu bekommen, was es hier an Munition zerstört wurden ist. Man nimmt an, möglicherweise bis zu 750.000 Artilleriegranaten, Kaliber 122 bis 152 Millimeter, also ein massiver Erfolg. Aber, und jetzt kommt das aber,

diesen Erfolg müsste man jede Woche wiederholen, ein, zwei Mal, um dann wirklich einen saturierenden Effekt zu erzielen, der messbar ist an der Front. Und das geht also hier immer um das Messen der Ergebnisse. Das heißt, messbar wäre zum Beispiel ein signifikantes Nachlassen des Artillerieeinsatzes, der russischen Seite, ein Versiegen möglicherweise des Artillerieeinsatzes, weil eben die Versorgung nicht mehr möglich ist, sogar ein Zurückgehen der russischen Truppe aufgrund dieser Versorgungsengpässe und so weiter und sofort. Und das sehen wir aber leider nicht und das ist auch die Herausforderung, dass die Ukraine mit eigenen Mitteln nur begrenzt in der Lage ist, diese Projektion durchzuführen und vor allem hier die Unterstützung des Westens, denken Sie an den Begriff Center of gravity, die brauchen würde. Auf der anderen Seite sehen wir natürlich die russischen Depots, die sich leeren. Da gibt es ja eine Reihe von Untersuchungen von Satellitenaufnahmen, wo es zum Teil penibelst versucht, den Tag zu vollziehen, das Verringerung dieser Depotbestände. Und hier muss man ganz klar sagen, Russland bedient sich natürlich aus den Arsenalen der Zeit der Sowjetunion. Und man geht also in Expertenkreisen davon aus, dass es mindestens noch zwei, drei Jahre möglich ist auf dem Niveau, das wir jetzt sehen, diese Bestände zu verbinden, um hier quasi Angriffsmittel für die Ukraine-Krieg verfügbar zu haben. Die Frage, die wir stellen müssen, kann die Ukraine das auch bzw. liefern wir genug in die Ukraine, damit sie zumindest dagegenhalten kann. Denn diese russischen Fahrzeuge, Kampfschützenpanzer, die müssen ja faktisch zerstört und vernichtet werden. Wir sehen also zwar hier unglaubliche Zahlen, die wir genannt bekommen, vom Verlust auf beiden Seiten, wobei man hier sagen muss, das Verhältnis ist zwar zugunsten der Ukraine, aber es ist bei 1 zu 2,8, also was im Rahmen der Norm. Aber wir sehen natürlich, dass Russland trotzdem in der Lage ist, also circa im Jahr, um die 1.200 bis 1.300 Panzer zu produzieren. Achtung, produzieren bedeutet wirklich ein geringer Anteil an Neuproduktion, man schätzt zwischen 150 bis 200 Stück und der Rest von der Halde. Aber diese Panzer, diese Kampfschützenpanzer, diese Artilleriesysteme, die laufen zu, faktisch. Also die können den Effekt erzielen. Und das ist auch das Dilemma eines Abnutzungskrieges, er wird ja nicht über das Manöver entschieden oder über Geländegewinnung oder ähnliches, sondern es ist dieser Ressourcenkampf, ja, so wie im Ersten Weltkrieg. Also der Film im Westen nichts Neues, drückt es ja sehr schön aus in einem Satz, man hat den Eindruck, da tut sich nicht viel an der Front. Aber in Wirklichkeit rennen die Zähler auf Null, die Depots werden leerer und leerer. Und die Frage ist, wer kann hier länger durchhalten, wer kann hier schneller und effizienter nachproduzieren und genau diesen Wettstreit sehen wir hier. Und hier kann man erkennen, dass die Ukraine natürlich abhängig ist vom Westen einerseits, quasi wenn es um weitreichende Waffensysteme gibt, um wirken zu können, bzw. andererseits, um dagegen gehalten zu können, im Hinblick auf die russischen Depotbestände, die sich zugegebenermaßen leeren, aber immer noch genug vorhanden, immer noch genug Material vorhanden ist, um quasi die Russen damit auszustatten, in den Angriff zu gehen. 

Michael Gutzeit

Schreckliche Zahlen, beeindruckend. Es ist ein Abnutzungskrieg, es ist ein Ressourcenkrieg. Es geht nicht um Kilometer pro Zeit, sondern um Ressourcen pro Zeit. Wenn wir jetzt auf den strategischen Horizont schauen, Trump im nächsten Jahr wieder USUnited States-Präsident, der hat gesagt, er will keine neuen Kriege beginnen, sondern Kriege stoppen. Wie sieht es da aus, strategisch mit der Unterstützung? Bundeskanzler Scholz hat am 6. November noch einmal bekräftig in seiner Rede, dass die Unterstützung der Ukraine nicht versiegen wird, aber wie sieht das mit den anderen Partnern aus, auf die die Ukraine so sehr angewiesen ist? 

Markus Reisner

Ja, hier müssen wir beide Seiten betrachten. Wir müssen auf der einen Seite Russland betrachten, dass es weder in der Lage wäre, diesen Krieg zu führen noch zu gewinnen, was auch immer gewinnen bedeutet, wenn es nicht Unterstützer hätte, wie eben Staaten, namens China, Indien oder auch Nordkorea, den Iran oder auch sogenannte Swing Staats wie die Türkei, die in der Lage sind, Russland immer wieder mit dem zu versorgen, was es braucht, um diesen Krieg weiter zu führen zu können. Und wir sehen auf der anderen Seite den Westen, grob unterteilt in Europa und in Amerika, und hier ist es natürlich so, dass die USAUnited States of America den Unterschied machen. Und wir haben jetzt einen Präsidenten in den USAUnited States of America, der angetreten ist mit dem Versprechen, dass er den Krieg in der Ukraine innerhalb eines Tages beenden wird. Ist das wahrscheinlich? Ich bewerte als rational denkender Mensch diese Möglichkeit ist nicht wahrscheinlich, warum, denn das würde sofort von der anderen Seite, der Seite des Aggressors, also Russland, aber auch von den Unterstützern als Sieg interpretiert werden. Und ich denke nicht, dass die USAUnited States of America tatsächlich dieses Momentum herstellen möchte, sondern ich denke, dass man sehr wohl auch die Ukraine weiter unterstützen wird. Aber die Bereitschaft quasi mit der anderen Seite tatsächlich an den Kompromiss zu schließen über den Köpfen der Ukraine, die wird steigen. Das setzt aber natürlich ein gewisses rationales Handeln voraus. Jetzt haben wir im Falle von USUnited States-Präsident Trump ja schon einmal eine Amtszeit erlebt und müssen uns auch eingestehen, dass es auch Handlungen gab, die jetzt nicht rational gefolgt sind. Das heißt, theoretisch kann man so sagen, es könnte sehr wohl der Fall sein, dass es hier Maßnahmen gibt, die wirklich rasch dazu führen, dass dieser Krieg zu Ende ist, aber es muss uns klar sein, dass das zum Nachteil der Ukraine passieren wird. Hinzu kommt, dass Russland, aus meiner Sicht, sich auf der Siegerstraße sieht unter anderem, weil es ja beobachtet, dass der Westen immer wankelmütiger wird und aus meiner Sicht, daher auch keinen Anlass hat, gerade jetzt da nachzugehen oder zu verhandeln. Ich bringe da meinen sehr drastischen Vergleich, den der deutsche Hörer, denk ich mal, doch sicher verstehen werde. Die Russen sehen sich auf den Seelower Höhen mit Blick auf Berlin. Warum sollten sie auf den letzten Metern trotz hoher Verluste jetzt was nachgeben, wenn sie ja den Sieg schon so nahe sehen, faktisch. Und leider muss man es auch sagen, dass das, was Europa hier ins Spiel bringt, dass ich jetzt nicht kleinreden möchte, vor allem nicht als Österreicher, in der Gesamtzusammenschau zu wenig ist, um den Unterschied für die Ukraine zu machen. Und wir sehen, dass die Ukraine natürlich, aus meiner Sicht schon berechtigt darauf hinweist, dass sie zwar bereit ist, durchaus Verhandlungen zu beginnen, aber darauf hinweist, dass sie eben diese nur aus einer Position der Stärke herausführen kann. Denn was möchte man mit Russland verhandeln, wenn es weiß, dass die Ukraine ja kaum Möglichkeiten hat, tatsächlich hier eine bedrohliche Situation für Russland entstehen zu lassen. 

Michael Gutzeit

Wenn wir über die internationale Situation sprechen, dann möchte ich Sie nochmal auf den Einsatz nordkoreanischer Soldaten ansprechen. Es gibt Berichte, dass nordkoreanische Soldaten jetzt in der Region Kursk im Einsatz sind und besonders die SWPStiftung Wissenschaft und Politik sagt, die Artillerie-Munition sei bedeutend. Was glauben Sie, ist der nordkoreanische Einsatz eher als eine Art Kanonenfutter zu bezeichnen oder ist es ein Gamechanger? 

Markus Reisner

Sehen wir uns nochmal die Situation an. Wir haben also quasi einmal die Situation, dass wir fast 640.000 russische Soldaten im Einsatz sehen. Der ukrainische Generalstab geht davon aus, dass es bis Ende des Jahres 700.000 werden. Auf der ukrainischen Seite circa 880.000 waren im Einsatz davon, 400.000 unmittelbar an der Front, da ist in der Tiefe, beziehungsweise auch an der Grenze zu Weißrussland oder im Norden, was in der Ukraine. Das heißt, die Zahl von 12.000 nordkoreanischen Soldaten erscheint hier sehr gering. Und ich denke, es geht hier nicht um das militärische Potenzial dieser Soldaten, die ja auch keine Kampferfahrung haben, muss man ganz klar sagen, sondern es geht um die Symbolik. Putin zeigt uns, dass er die besseren Verbündeten hat. Das ist die Botschaft, die wir hier sehen. Viel wichtiger von nordkoreanischer Seite ist die Unterstützung, wie Sie richtig sagen, mit Artilleriemunition. Man geht davon aus, dass Nordkorea zum zweiten Mal in einem Jahr zwischen 2,8 bis 3.000.000 Artillerigranaten liefern wird, zusätzlich zu der russischen Produktion, wo man um wenig Geld mehr tatsächlich bekommt, als das im Westen der Fall ist. Und hier wird einfach produzierend geliefert. Der Westen auf der anderen Seite hat der Ukraine eigentlich versprochen, bis Ende letzten Jahres 1.000.000 Artillerigranaten zu liefern. Das ging sehr schleppend voran. Man hat jetzt im August es geschafft, bis zu 650.000 Schuss zu liefern, vor allem Kaliber 155 mm. Aber man sieht diese Diskrepanz zwischen 650.000 versus zu fast 6 Millionen von nordkoreanischer Seite. Und das zeigt uns einfach das Ungleichgewicht in diesen Ressourcenkrieg als solches. Das heißt, der Einsatz der nordkoreanischen Soldaten dient vor allem, aus meiner Sicht, im Informationsraum zu zeigen, dass man die besseren Verbündeten hat. Während auf der anderen Seite im Westen wir das große Zaudern sehen und erkennen können, dass offensichtlich schon Druck auf die Ukraine ausgeübt wird, sich zu bewegen. Und das haben wir ja sehr gut gesehen bei der Reise Selenskyj in die USAUnited States of America. Stichwort Victory Plan. Die Bereitschaft, den Punkten zu folgen, die von ukrainischer Seite vorgeschlagen worden sind, dass sehr gering ist. 

Michael Gutzeit

Wenn wir über die Unterstützer Russlands sprechen, Iran, China, Nordkorea, ist in der Zukunft zu erwarten, dass sich noch andere Staaten Russland anschließen? Andere Swing Staates, zum Beispiel aus dem russischen Verteidigungsbündnis der OVKS oder andere Staaten aus der BRICS-Gruppe?

Markus Reisner

Ich denke, dass die Bandweite bereits viel, viel größer ist. Wir haben ja die grobe Unterteilung zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Aber wir sehen das vor allem im globalen Süden indirekt eine Menge an Unterstützung stattfindet. Also einerseits muss das gar nicht sein, die unmittelbare Beteiligung durch das Entsenden von Soldaten oder das Liefern vom Waffenmunitionen, Stichwort jetzt Nordkorea oder Iran, sondern vor allem indirekte Maßnahmen. Einerseits das Hereinspülen von Devisen durch Rohstoffabnahme, aber auch das gezielte Lieferung von elektronischen Bauteilen, die man benötigt, aber auch Waffen, Ausrüstung und Munitionen, Stichwort China als Beispiel. Wir sehen aber auch, dass die unmittelbar Russland umgebenden Staaten auch eine Rolle spielen, denn sie sind zum Teil ja nicht von den Embargos belegt. Das heißt, Produkte werden von diesen Staaten in Empfang genommen und werden dann indirekt an Russland weitergeleitet. Das heißt, man sieht, dass es hier ein funktionierendes Versorgungsnetzwerk besteht. Auch das sollte uns nichts Neues sein. Ich habe schon genannt, das Beispiel des Iran. Der Iran ist ein Land, das unter einem sehr, sehr strengen Sanktionsregime leiden sollte. Aber trotzdem hat es der Iran geschafft, über die letzten Jahrzehnte zu einer Drohnen-Supermacht zu werden. Wie kann das sein? Drohnen-Supermacht, die nicht nur Tausende von Drohnen Russland geliefert hat, wo sie gegen die Ukraine eingesetzt werden, sondern mittlerweile auch zweimal mit ballistischen Raketen und Drohnen Israel angegriffen hat. Das heißt, offensichtlich hilft das Sanktionsregime in dieser Form nicht. Und wir können uns auch sicher sehen, dass der globale Süden, wie die roten Augen im Dunkel, ganz genau beobachtet, wie wir mit dieser Situation jetzt umgehen und auch vom Ergebnis des Ausganges der Situation abhängen wird, inwieweit, Stichwort BRICS zum Beispiel, von diesen Staaten als günstige, erfolgreiche, wirtschaftliche durchführbare Alternative wahrgenommen wird, zu den Modellen des Westens. 

Michael Gutzeit

Sollten wir diese Situation nutzen, um eine Position der Stärke zu beweisen, oder sollte man diese Situation nutzen, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren? Wie sollte man da am besten weiterverfahren? Es ist ja die Frage, sollte man eher auf Destroy Russia setzen oder auf Contain Russia. Wie führt man am besten mit einer Atom-Supermacht, diesen Krieg?

Markus Reisner

Ja, da ist es, glaube ich, ganz wichtig zu verstehen, dass es keine Richtig und kein Falsch gibt. Ob wir richtig oder falsch gehandelt haben, das wird der Historiker, wenn er es noch kann, uns in 50 oder 100 Jahre erklären, der uns dann mit der typischen für den Historiker üblichen Art und Weise erklären wird, warum wir völlig falsche Entscheidungen getroffen haben und warum es genauso gekommen ist, wie es gekommen ist. Aber dieses Privileg, in die Zukunft zu schauen, haben wir eben nicht. Man muss sich klar vor Augen führen, es gibt im Kern nur zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist zum Beispiel, die Ukraine massiv zu unterstützen, also all in zu gehen. Es kann so sein, dass durch diese massive Unterstützung plötzlich vielleicht Russland erkennt, okay, die sind also wirklich bereit bis zum Äußeren zu gehen. Wir müssen also unsere Ziele kürzer stecken. Es kann aber auch natürlich sein, dass es zu einer massiven Eskalation kommt, weil es eben von einem Contain, so einem Destroy Russia kommt und Russland quasi dann möglicherweise Handlungen setzt, die wir in der Nachschau bereuen würden. Man weiß es nicht. Es sind nur mögliche Szenarien. Wenn wir dieses Risiko des all in nicht eingehen wollen, dann gibt es auf der anderen Seite die zweite Lösung, die es offensichtlich geben muss. Und das ist sich einzugestehen, dass man eben nicht bereit ist, so weit zu gehen. Da muss man aber auch so weit sein und dass die Ukraine klar kommunizieren und sagen, wir sind also nicht bereit für eure Freiheit bis zum Äußersten zu gehen. Aufgrund der Angst vor möglicherweise Konsequenzen aus Russland, die wir nicht kontrollieren können, um also ganz konkret dann zu sprechen der Einsatz von hybriden Mitteln, aber auch bis zu einer Eskalation, eines nuklearen Krieges. Und dann, weil sie kommt es möglicherweise zu einer Einigung, die aber nicht zugunsten der Ukraine ist. Wenn das für uns in Ordnung ist und wenn wir sagen, das ist auch das Ergebnis unserer Bewertung, dann soll es so sein. Aber diese zwei Möglichkeiten gibt es faktisch. Das, was wir jetzt erleben, ist ein Fegefeuer, ein Dazwischen, dass nichts an der Situation ändert, sondern nur zuführt, dass quasi Woche für Woche, Monate für Monate mehrere tausend Menschen sterben. Da hören wir auf der einen Seite bis zu 100.000 tote russische Soldaten und bis zu 400.000 Verwundete und ja, aber auf der anderen Seite auch bis zu 80.000 tote ukrainische Soldaten und bis zu 400.000 Verwundete. Hinzu kommen mehrere 10.000 getötete und verwundete Zivilisten. Das sind also unglaubliche Zahlen, die an der Million kratzen, für uns unvorstellbar.

Michael Gutzeit

Ja, was sollen wir tun? Was wir auf jeden Fall tun sollten, meiner Meinung nach ist die Leistung der ukrainischen Streitkräfte und der ukrainischen Bevölkerung wertzuschätzen, zu respektieren, denn sie leisten Großes und das schon jetzt nach dieser langen Zeit. Ich hoffe, ihnen geht nicht der Atem aus, ich hoffe, uns geht nicht der Atem aus und wir stehen bei diesem Land so lange, wie es dauernd mag. Herr Oberst Dr. Reisner, ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie heute bei uns waren. Vielen Dank für Ihre Antworten auf meine Fragen. 

Markus Reisner

Danke sehr. Ich möchte vielleicht das nochmal ergänzen, was Sie gesagt haben und das uns allen noch wirklich bewusst zu machen, egal wie dieser Krieg ausgehen wird. Die Ukraine hat bereits jetzt Geschichte geschrieben.

Michael Gutzeit

Sehr geehrte Damen und Herren, herzlichen Dank fürs Zuhören. Danke, dass Sie eingeschaltet haben. Wir hören uns gerne wieder bei einer neuen Folge. Auf Wiederhören!

von ZMSBw 

Bei manchen Mobilgeräten und Browsern funktioniert die Sprachausgabe nicht korrekt, sodass wir Ihnen diese Funktion leider nicht anbieten können.